In der Zeit von 590 v. Chr. bis 541 v. Chr. lebte in Kleinasien Krösus, der heute vor allem als ein Sinnbild für sagenhaften Reichtum bekannt ist. Doch die Wahrheit ist eine andere: Die Legende seines scheinbar unermesslichen Reichtums basiert auf der lydischen Erfindung des gemünzten Geldes, die wohl bereits sein Vater Alyattes II. einführte.
Als König hatte Krösus auch immer wieder mit Unsicherheit und Unwissenheit in Entscheidungssituationen zu tun. Bei Risikoanalysen vertraute Krösus vor allem auf Orakel, denn das Berufsbild eines Risikomanagers gab es zur damaligen Zeit noch nicht. Noch nicht einmal der moderne Begriff des Risikos war bekannt [vgl. Romeike/Hager 2020, S. 11 ff.). Krösus überließ hierbei nichts dem Zufall, sondern unterzog die damals bekannten Orakelstätten (Abai, Delphi, Dodona, Amphiaraos, Ammon) einem Qualitätstest. Die von ihm ausgesandten Boten stellten genau am hundertsten Tag nach ihrer Abreise die Frage, womit sich Krösus genau in diesem Moment beschäftige. Nur die Pythia zu Delphi lieferte die richtige Antwort: Krösus bereite sich gerade eine Schildkröte und Lammfleisch in einem Kessel zu. Doch der eigentliche Hintergrund der Prüfung lag für den Lyderkönig in einer strategischen Frage und einer fundierten Analyse der Chancen und Risiken [vgl. Romeike 2019]: Wie hoch war die Wahrscheinlichkeit eines Sieges für den Fall eines Krieges gegen das Perserreich? Pythia im Orakel von Delphi soll geantwortet haben, dass ein großes Reich versinken werde, wenn er den Grenzfluss Halys überquere.
Diese Prophezeiung soll der Lyderkönig in einem für ihn positiven Sinn aufgefasst haben und zog wohlgemut in den Krieg. So überquerte er den Grenzfluss Halys und fiel in Kappadokien ein. Die militärische Auseinandersetzung zwischen dem Perserkönig Kyros II. und Krösus wurde in der Schlacht bei Pteria beendet – zu Ungunsten von Krösus. Was war die Ursache dieser katastrophalen Fehleinschätzung? Wie so häufig basierte seine Entscheidung auf fehlerhaften, unvollständigen und unzureichenden Informationen. Er hat sich monodisziplinär auf die Projektion einer Expertin verlassen und seinen Verstand ausgeschaltet. Um seriös mit unsicheren Szenarien umzugehen, hätte Krösus mindestens drei Dinge tun sollen: 1. Er hätte sich nicht auf das potenzielle Szenario eines institutionellen Orakels verlassen sollen (denn eigentlich handelte es sich bei den früheren Orakeln um eine Form von Politikberatung). 2. Er hätte eine eindeutige und vor allem faktenbasierte Aussage einfordern sollen. 3. Er hätte das Szenario kritisch mit seinem "Risikoappetit" abwägen müssen und sich mit menschlichen Urteilsheuristiken und kognitiven Verzerrungen beschäftigen sollen. Denn viele "strong but wrong decisions" basieren auf Selbstüberschätzung (self confidence) und Confirmation Bias.
Die heutigen Orakel produzieren Angstszenarien
In der heutigen Zeit würde Krösus wohl kaum ein Orakel befragen, sondern einen Wissenschaftler oder einen Regierungsberater. Übertragen auf die imaginäre Bedrohung durch ein Virus hätte er voraussichtlich einen Virologen oder Epidemiologen gefragt. Denn diese sind in der Coronakrise die neuen Orakel.
Man begeht also den gleichen Fehler, wie bereits im Altertum Krösus. Man orientiert sich weniger an den Hypothesen, um dann selbst zu einem vernünftigen Urteil zu gelangen. Man unterdrückt jeglichen wissenschaftlichen und interdisziplinären Diskurs, um zu einem interdisziplinären und fundierten Risikoszenario zu gelangen. Denn: Fundierte Risikoanalysen bedingen immer (!) einen interdisziplinären Diskurs.
Diese Erkenntnis war bereits im Altertum bekannt, wurde allerdings – wie heute – nicht von allen Entscheidern gelebt. Am Hang des Parnass bei der Stadt Delphi kann man heute die Ausgrabungen der vormaligen Wirkungsstätte des Orakels von Delphi besichtigen. Die wichtigsten Funde sind heute im archäologischen Museum von Delphi direkt neben dem Ausgrabungsgelände ausgestellt. Basierend auf historischen Überlieferungen sollen am Eingang des Tempels von Delphi die Inschriften "Erkenne dich selbst" und "Nichts im Übermaß" angebracht gewesen sein. Insbesondere die erste Aufforderung deutet die eigentliche Absicht des Kultes an, nämlich die Auflösung individueller Probleme und Fragestellungen durch die Auseinandersetzung mit der eigenen inneren Persönlichkeit. Die Erkenntnis der "Innenwelt" dient damit als Zugang zur Problemlösung in der "Außenwelt".
Heute so wie damals kann weder ein Orakel noch ein Wissenschaftler Wahrheitsansprüche vertreten. Doch exakt das passiert aktuell in der realen Corona-Risikowahrnehmungswelt. Gefährlich wird es vor allem dann, wenn selbst ernannte Wissenschaftler mit unwissenschaftlichen Behauptungen – ohne jegliche wissenschaftliche Fundiertheit – Angst schüren. Und wer Angst hat, wird kein Risiko akzeptieren. Unter den "Wissenschaftlern" gibt es neuerdings viele Apokalyptiker, die in den vergangenen Monaten zu Medienstars avancierten. Wenn Gesundheitsökonom Karl Lauterbach – ohne jegliche wissenschaftliche Fundierung oder faktenbasierte Fundierung – von über 50.000 Toten bis Weihnachten und 500.000 Neuinfizierten am Tag philosophiert, produziert er vor allem Angst in unserer Risikowahrnehmungsgesellschaft. Er malt die Katastrophe an die Wand und will sich mit den tatsächlichen Fakten nicht beschäftigen. So werden neue Angstszenarien in unserer Risikowahrnehmungsgesellschaft befeuert. In ihrer Angst gefangen, ist weder die Gesellschaft noch die politische Klasse fähig, sinn- und maßvoll die Risiken zu bewerten und adäquate Maßnahmen umzusetzen. Mitunter wird man das Gefühl nicht los, das unsere Gesellschaft Spaß an der Apokalypse hat, die uns von wichtigen Aufgaben und Verpflichtungen befreit.
Menschen glauben, dass es eine Wahrheit gibt und ein Szenario, von dem noch nicht einmal seitens Lauterbach definiert wurde, um welche Art eines Szenarios es sich handelt und auf welchen Annahmen und Projektionen dieses basiert. Seriöse Wissenschaft und auch Risikomanagement basiert nicht auf einer Anmaßung von Wissen oder Wahrheitsansprüchen, sondern einem Diskurs unterschiedlicher Sichten und Szenarien. Das wäre der Geist seriöser Wissenschaft. Wissenschaft beschäftigt sich nicht mit der Kommunikation von Worst-Case-Szenarien und der Produktion von imaginären Angstszenarien. Wissenschaftliche Erkenntnis akzeptiert die Unsicherheit und kommuniziert diese auch. Wissenschaft ist weder Heilslehre noch Religion. Und Wissenschaft verkündet nie absolute Wahrheiten.
Politiker, die ihre Entscheidungen auf scheinbar wissenschaftlich fundierten und dogmatischen Erkenntnissen treffen, haben das offensichtlich nicht begriffen. Da sich die politische Kultur seit viel Jahren oder gar Jahrzehnten entintellektualisiert, ist es nicht überraschend, dass man etwas beurteilt, worüber man nichts weiß. Der Göttinger Gelehrte Georg Christoph Lichtenberg hatte hierzu bereits vor rund 220 Jahren ein düsteres Szenario skizziert: "Jetzt sucht man überall Weisheit auszubreiten, wer weiß, ob es nicht in ein paar Hundert Jahren Universitäten gibt, die alte Unwissenheit wiederherzustellen." [Lichtenberg 1975, S. 441]
Gefangen in der Risikowahrnehmungsfalle
Der brillante Wissenschaftler und Nobelpreisträger Richard Feynman hatte diese Unwissenschaftlichkeit in der Wissenschaft bereits vor vielen Jahrzehnten kritisiert. Wissenschaftler müssen vor allem vermeiden, sich selbst zu täuschen, wenn sie verhindern wollten, zu Cargo-Kult-Wissenschaftlern zu werden, so Feynman. Hierzu gehört auch, dass Wissenschaftler bereit sein sollten, ihre eigenen Theorien und wissenschaftlichen Erkenntnisse in Frage zu stellen. Auch im Zusammenhang mit Corona lässt sich feststellen, dass oberflächlich zwar eine methodisch korrekte Wissenschaftlichkeit stattfindet, jedoch die wissenschaftliche Integrität und der wissenschaftliche Diskurs in den letzten Jahrzehnten immer wieder auf der Strecke geblieben ist. Vielmehr postulieren Cargo-Kult-Wissenschaftler Wahrheitsansprüche und diffamieren Andersdenkende (vgl. exemplarisch die groteske und widerwärtige Diffamierung der Stanford-Wissenschaftler John P. A. Ioannidis und Jay Bhattacharya, des Harvard-Wissenschaftlers Martin Kulldorff oder der Oxford-Wissenschaftlerin Sunetra Gupta sowie vieler seriös arbeitender Wissenschaftler quer über den Globus. Interessant zu beobachten ist hierbei, dass sich die Kritiker nicht auf einen fachlichen Diskurs einlassen, sondern Andersdenkende als Mensch diffamieren und durch "alternative Fakten" versuchen eine moralisch richtige Wirklichkeit zu schaffen. Hierzu gehört auch, dass Andersdenkende in den Massenmedien kaum noch zu Wort kommen. Nicht selten werden diese Wissenschaftler von selbst ernannten oder ideologisch arbeitenden "Faktencheckern" und Journalisten – häufig ohne methodische oder empirische Fundiertheit und Recherche – mit Spott und Häme übersät).
Kein Wissenschaftler, der Wissenschaft verstanden hat, würde sich als "Führer einer Gesellschaft" betrachten. Er würde sich nicht von Politikern vereinnahmen oder von Interessengruppen kaufen lassen, die sich dann hinter der wissenschaftlichen Expertise eines Cargo-Kult-Experten verstecken können, um selbst keine Verantwortung tragen zu müssen. Katastrophale Beispiele für Cargo-Kult-Wissenschaft liefert uns ein Blick in die Historie.
Ein exzellentes Beispiel für schiefe Risikoanalyse und -wahrnehmung liefert uns Feynman als Mitglied der Untersuchungskommission der Challenger-Katastrophe. Am 28. Januar 1986 – 73 Sekunden nach dem Start, zerbrach die Raumfähre in rund 15 Kilometern Höhe. Die Ursache für die Katastrophe war seit langem bekannt – wurde aber "unter den Teppich gekehrt": Dichtungsringe an den seitlichen Feststoffraketen (Booster) waren nicht frostsicher. Basierend auf den Risikoanalysen der Experten war das realistische Szenario bekannt und war vor allem auch quantitativ bewertet. Das Szenario war eindeutig: Es wurde nämlich eine gigantische Explosion bereits auf der Startrampe erwartet. Nachdem die Risiken so "hingebogen" (Stichwort "alternative Fakten") wurden, dass sie in die eigene "Risikowahrnehmungsblase" passten, entschieden sich die (politischen) Entscheidungsträger für einen Start. Die vom Wunschdenken der NASA sowie der politischen Entscheidungsträger geprägte völlig schiefe – und nicht faktenbasierte – Risikoeinschätzung liefert ein exzellentes Beispiel für Cargo-Kult-Wissenschaft. Mit Voodoo-Methoden (die übrigens heute immer noch in der Praxis angewendet werden, u.a. der FMEA) wurden in einem komplexen System absurde Risikoanalysen erstellt, ohne deren Ergebnisse zu hinterfragen. Warum auch etwas hinterfragen, wenn das Ergebnis vordefiniert wurde und die "wissenschaftliche" Methodik nur als Alibi herhalten musste. Die Entscheider waren schlicht gefangen in ihrer Risikowahrnehmungsblase, ohne jegliches Interesse diese zu verlassen.
Und auch heute sind viele Menschen in einer Risikowahrnehmungsfalle gefangen.
Medien und Politik befeuern eine extrem schiefe Risikowahrnehmung und eine scheinbar drohende Apokalypse durch eine nicht faktenbasierte Risikokommunikation. Dies führt vor allem zu Unsicherheit. Und Unsicherheit erzeugt Angst. Und Angst lähmt Menschen darin, Risiken faktenbasiert zu bewerten. Und Cargo-Kult-Wissenschaftler sowie Politiker befeuern dieses Umfeld mit weiteren apokalyptischen Szenarien ohne jegliche Wissenschaftlichkeit und Fakten. Und ein gefühlter Kontrollverlust führt zu noch mehr Angst und in der Folge zu völlig irrationalen Entscheidungen (übriges wird in der klinischen Psychologie und in der kognitiven Verhaltenstherapie das Katastrophisieren und das Aufzeigen von Apokalypsen mit Depression und mit Angststörungen in Verbindung gebracht).
Der Umgang mit dem Virus SARS-Cov2 liefert ein schmerzhaftes und sehr reales Beispiel für unseren Mangel an Realitätssinn in einer Risikowahrnehmungsgesellschaft. Da es bis heute immer noch keine methodisch fundierte (!) und interdisziplinäre (!) Risikoanalyse gibt, haben wir das Augenmaß für eine objektive Wahrnehmung der Risiken und deren präventive oder reaktive Bekämpfung durch adäquate Maßnahmen komplett verloren.
Politikberatende (Cargo-Cult-)Wissenschaftler und Politiker sind weiterhin im Blindflug unterwegs und produzieren weiter imaginäre Angstszenarien. Das Ziel der Reise bleibt ungewiss.
Was ist "Cargo Cult Science"?
In seiner Eröffnungsrede am "California Institute of Technology" hat Richard Feyman im Jahr 1974 Cargo-Kult-Wissenschaft als polemischen Ausdruck für schlechtes wissenschaftliches Arbeiten dargestellt:
"Auf den Samoainseln haben die Einheimischen nicht begriffen, was es mit den Flugzeugen auf sich hat, die während des Krieges landeten und ihnen alle möglichen herrlichen Dinge brachten. Und jetzt huldigen sie einem Flugzeugkult. Sie legen künstliche Landebahnen an, neben denen sie Feuer entzünden, um die Signallichter nachzuahmen. Und in einer Holzhütte hockt so ein armer Eingeborener mit hölzernen Kopfhörern, aus denen Bambusstäbe ragen, die Antennen darstellen sollen, und dreht den Kopf hin und her. Auch Radartürme aus Holz haben sie und alles mögliche andere und hoffen, so die Flugzeuge anzulocken, die ihnen die schönen Dinge bringen. Sie machen alles richtig. Der Form nach einwandfrei. Alles sieht genau so aus wie damals. Aber es haut nicht hin. Nicht ein Flugzeug landet."
Literatur:
- Bolz, N. (2020): Die Avantgarde der Angst, Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2020.
- Feynman, Richard P. /Freeman J. Dyson (2001): Es ist so einfach - Vom Vergnügen, Dinge zu entdecken, Piper Verlag, München/Zürich 2001.
- Lichtenberg, Georg Christian (1975): Schriften und Briefe, Band II, Hanser Verlag, München 1975.
- Romeike, Frank (2019): Risk Analytics und Artificial Intelligence im Risikomanagement, in: Rethinking Finance, Juni 2019, 03/2019, S. 45-52.
- Romeike, F./ Hager, P. (2020): Erfolgsfaktor Risikomanagement 4.0, 4., komplett überarbeitete Auflage, Springer Verlag, Wiesbaden 2020.