In der letzten Woche ist etwas passiert, was mein volkswirtschaftliches Weltbild erschüttert hat. Bisher ging ich immer davon aus, dass Amerika den Europäern in Sachen Dynamik, Flexibilität und Innovationskraft weit überlegen ist. Europa ist wirtschaftlich gesehen ein alter Kontinent. Es leidet zudem unter politischer Sklerose. Es war daher zu vermuten, dass die USA auch in diesem Jahr wieder deutlich schneller wachsen würden als Europa.
Jetzt scheint es aber ganz anders zu kommen. Wie die Statistischen Ämter in Washington und Luxemburg bekannt gaben, ist das reale Bruttoinlandsprodukt im Euroraum in den ersten drei Monaten dieses Jahres vier Mal (!) so schnell gewachsen wie das der USA. Es erhöhte sich um 2 Prozent verglichen mit nur 0,5 Prozent in den USA (jeweils annualisiert und saisonbereinigt). So groß war der Abstand bisher noch selten. Deutschland ist nach dieser Rechnung sogar um 2,8 Prozent gewachsen. Das hatte wohl auch kaum jemand auf der Rechnung. Erstaunlicherweise wurde es in der Öffentlichkeit relativ wenig beachtet.
Haben die Anleger hier etwas verpasst? Müssen wir umdenken?
Der Vorsprung schmilzt: Differenz der Wachstumsraten zwischen USA und dem Euroraum, real [Quelle: IWF, eigene Schätzung]
Nun muss man freilich die Kirche im Dorf lassen. So dramatisch, wie es auf den ersten Blick aussieht, ist das Ganze nicht. Es handelt sich hier nur um das Ergebnis eines Quartals. Da spielen häufig Sonderfaktoren (wie etwa das Wetter oder statistische Ungenauigkeiten) eine Rolle. Zudem werden die Zahlen hinterher noch oft korrigiert. Im Gesamtjahr wird das Ergebnis vermutlich nicht mehr so krass aussehen. Die USA werden dann wohl immer noch etwas schneller wachsen als die Europäer, allerdings nur noch wenig.
Andererseits zeigt die Grafik, dass die Entwicklung nicht ganz zufällig ist. Bereits seit vier Jahren nimmt der Abstand der Wachstumsraten zwischen den USA und dem Euroraum ab. 2012 lag er noch bei über drei Prozentpunkten. In diesem Jahr werden es vermutlich nur noch 0,1 oder 0,2 sein. Wir müssen den Trend also schon ernst nehmen.
Was ergibt sich daraus für die Märkte? Eigentlich müsste es zu erheblichen Umschichtungen kommen. Internationale Anleger müssten sich von Amerika verabschieden und sich Europa zuwenden. Das tun sie aber offensichtlich nicht. Der US-Dollar ist auf den Devisenmärkten immer noch recht stark. Die amerikanischen Aktien haben sich im bisherigen Jahresverlauf insgesamt sogar besser entwickelt als die europäischen. Die amerikanischen Rentenmärkte haben auf die Wachstumszahlen kaum reagiert. Die Langfristzinsen sind nach wie vor wesentlich höher als in Europa. Das liegt zum Teil aber an den Wertpapierkäufen der EZB.
Die Finanzmärkte scheinen gegenüber der realwirtschaftlichen Entwicklung also resistent zu sein. Das ist ungewöhnlich. Es gibt dafür aber einen einfachen Grund. Das sind die schwierigen politischen Verhältnisse in Europa. Zu den immer noch nicht ganz aufgearbeiteten Risiken in den südeuropäischen Krisenländern kommen in diesem Jahr das Thema Brexit und das leidige Flüchtlingsproblem hinzu. Die Politik macht die wirtschaftliche Dynamik Europas zunichte. Das ist kein neues Phänomen. Das hat es auch schon früher gegeben.
Es wird jedoch nicht so bleiben, wenn nicht noch etwas ganz Überraschendes passiert. Vielmehr ist zu vermuten, dass die Geldpolitik in den USA und in Europa unter den Wachstumsgegebenheiten nicht auf so extrem unterschiedlichen Positionen bleibt. Die Federal Reserve wird einen langsameren Gang bei den Zinserhöhungen einschlagen (vermutlich nur noch eine Zinserhöhung in diesem Jahr). Die Europäische Zentralbank wird ihre Lockerung zwar nicht beenden. Sie wird vermutlich aber auch keine – oder wenn, dann nur bescheidenere – neuen Expansionsmaßnahmen beschließen.
Für die Devisenmärkte heißt das: Die wichtigste treibende Kraft für die Dollar-Aufwertung in letzter Zeit wird schwächer. Der Markt wird weniger auf die Geldpolitik schauen als auf die realen Gegebenheiten. In den USA wird der Widerstand gegen weitere Wechselkursaufwertungen stärker werden. Die Wahrscheinlichkeit, dass der US-Dollar am Jahresende gegenüber dem Euro bei 1,20 steht, ist aus meiner Sicht größer, als dass er bei der Parität ist.
Am Bondmarkt wird sich die Differenz der Renditen bei 10-jährigen Staatspapieren nicht ausweiten, sondern eher einengen. Sie ist historisch gesehen ohnehin sehr groß. Man muss schon in die Hochzinsphase der 80er Jahre zurückgehen, um so hohe Spreads zu finden. Theoretisch kann die Einengung der Zinsdifferenz sowohl durch eine Senkung der amerikanischen Renditen wie auch durch eine Erhöhung der europäischen geschehen. In der Praxis aber wird dies eher durch höhere Renditen hierzulande passieren, weil die Sätze hier gemessen an den Fundamentaldaten viel zu niedrig sind.
Am Aktienmarkt vermute ich, dass die Entwicklung diesseits und jenseits des Atlantiks nicht sehr unterschiedlich verlaufen wird. Die Amerikaner können wachstumsbedingt niedrigere Unternehmensgewinne durch einen schwächeren US-Dollar kompensieren. In Europa ist es genau umgekehrt. Die Aktien werden hier erst dann stärker steigen, wenn es gelingt, die fälligen Strukturreformen vor allem in Italien und Frankreich anzugehen.
Autor:
Dr. Martin W. Hüfner, Chief Economist, Assenagon Asset Management S.A.