Die Geschichte einer Milliarden-Lüge

Die Wirecard-Story


Rezension

Wirecard, das war ein einst hochgelobtes und gehyptes Unternehmen, das aus einem langweiligen Gewerbegebiet vor den Toren Münchens die digitale Welt erobern wollte. Ein Milliardenkonzern, der zwischenzeitlich sogar – auf dem Papier – mehr wert war als die Deutsche Bank. Doch Papier ist bekanntlich geduldig und das Kartenhaus Wirecard bestätigt einmal mehr: Auf den Höhenflug folgt der tiefe Absturz. Hinter Wirecard stand das Versprechen, dass Digitalisierung nicht immer nur aus dem Silicon Valley und China kommen muss, sondern eben auch aus deutschen Landen – direkt um die Ecke hinter Söders Staatskanzlei. Vielleicht ist dieser Umstand auch ein Grund, warum Gründer Markus Braun, Jan Marsalek und die Vorstandskollegen von Politikern immer wieder hofiert und unterstützt wurden. Um die Geschäfte in Asien, insbesondere in China nach vorne zu bringen, arbeitete Wirecard mit dem Beratungsunternehmen des Ex-Verteidigungsministers Karl-Theodor zu Guttenberg zusammen. Auch Klaus-Dieter Fritsche, der ehemalige Beauftragte für die Nachrichtendienste des Bundes, war Wirecard-Berater. Und auch das Bundeskanzleramt und Angela Merkel in Person setzten sich für das deutsche Dax-Unternehmen Wirecard ein, um deren Übernahmepläne in China zu unterstützen. Dies ist umso bedenklicher, als dass es zum damaligen Zeitpunkt nicht nur Verdachtsmomente gegen Wirecard gab, sondern auch konkrete Frühwarnindikatoren, die allerdings immer sorgsam unter den Teppich gekehrt wurden.

Noch schlimmer: Die Politik, allen voran das Bundesfinanzministerium, widmeten sich nicht ihrer gesetzlichen Prüfungspflicht (insbesondere auch Bafin-Chef Hufeld und sein Team), sondern versuchten die Stimmen investigativer Journalisten (u.a. durch Artikel und Recherchen seitens Dan McCrum der "Financial Times") und von Bilanzexperten (u.a. Thomas Borgwerth) mit Hilfe Münchener Staatsanwälte zu eliminieren und deren Reputation zu diskreditieren. Und auch die Beamten aus der Bürokratie von Bayerns Ministerpräsident und vormaligem bayerischen Staatsminister der Finanzen (2011-2018) Markus Söder brillierten vor allem mit Nichtwissen, Unwissen und Untätigkeit. Stattdessen waren die Münchener Staatsanwälte sehr aktiv darum bemüht, kritische Stimmen mundtot zu machen.

Doch der Volksmund weiß: Wer zuletzt lacht, lacht am besten! Im Juni 2020 stand fest, dass Wirecard eine große Illusion ist und immer war. Auf den Konten von Wirecard fehlten 1,9 Milliarden Euro. Eine große Blase war zerplatzt. Und wie immer folgte das gleiche Muster: Keiner der beteiligten Akteure war schuld, keiner wusste von etwas. Das typische Schwarze-Peter-Spiel ging los. Finanzminister Olaf Scholz und Wirtschaftsminister Peter Altmaier schieben sich gegenseitig die Schuld in die Schuhe. Und BaFin-Chef Felix Hufeld duckt sich weg und weiß von nichts. Im Juli behauptete er im Finanzausschuss, dass seine Behörde "bis heute auf eine Antwort" der Polizei in Singapur warte. In der Zwischenzeit ist bekannt, dass die Polizei in Singapur seit Anfang 2019 mit der Bafin kooperiere und der deutschen Behörde Informationen zur Verfügung gestellt habe.

Wer an den Hintergründen der Wirecard-Story interessiert ist, dem sei die Publikation "Die Wirecard-Story – Die Geschichte einer Milliarden-Lüge" empfohlen, die vor wenigen Wochen im FinanzBuch Verlag erschienen ist. Auf rund 270 Seiten blicken die investigativen Journalisten hinter die Kulissen des "Potemkin’schen Dorfes" und suchen eine Antwort auf die Frage "Wie konnte das passieren?"

Das Buch begleitet den Leser von den Anfängen, als ein kleines Unternehmen Dienstleistungen für die Pornoindustrie erbrachte, bis zum intransparenten DAX-Konzern. Ein System, geprägt von einer strengen Hierarchie, "von Korpsgeist und Treueschwüren gegenüber dem Vorstandsvorsitzenden", wie es die Münchner Staatsanwälte beschreiben. Würden Politiker und Aufseher ein wenig von wirksamen Frühwarnsystemen verstehen und vor allem von wissenschaftlich und empirisch belegten Ursachen für Unternehmensinsolvenzen, so würden alleine diese Indikatoren genügen, um einmal etwas genauer hinter die Kulissen zu schauen. Doch stattdessen schauten lieber alle weg und nahmen Frühwarnsignale nicht wahr – Mitarbeiter, Aufsichtsräte, Aufsichtsbehörden, Politiker und Wirtschaftsprüfer. Ein Kollektivversagen. Gefährlich daran ist vor allem, dass sich viele der Akteure ihres Nichtwissens nicht bewusst sind.

Aus den wackeligen Gehversuchen in den Anfängen bekam das Unternehmen im Jahr 2004 den Namen Wire Card. Im Jahr 2005 betritt die Wire Card AG die Frankfurter Börse. Ein Jahr später wird aus der Wire Card AG die Wirecard AG.
Bereits im Jahr 2008 nehmen die kritischen Stimmen zu Wirecard zu. Börsenspekulant Tobias Bosler ist Shortseller und wettet auf einen Fall der Wirecard-Aktie, da er einige Geschäfte und Zahlen kritisch hinterfragt. Auf der Hauptversammlung der Wirecard AG im Juni 2008 wird der Vorstandsvorsitzende Braun mit den Vorwürfen konfrontiert und kann nur unzureichende Antworten liefern. Während sich der Wirecard-Vorstand und auch der -Aufsichtsrat angegriffen fühlen, verkaufen irritierte Aktionäre ihre Aktien. Der Kurs gibt innerhalb von drei Tagen um 30 Prozent nach. Am 8. Juli erneuert die Schutzgemeinschaft der Kapitalanleger (SdK) ihre Kritik und rät Anlegern, "Abstand von der Aktie zu nehmen". In den nächsten Wochen sinkt der Kurs der Aktie weiter und fällt auf unter 4 Euro. Am 18. Juli 2008 geht Wirecard in die Offensive und outet den Vorstandsvorsitzenden der SdK, Markus Straub, als Shortseller. Die Motivation der SdK sei "von finanziellem Eigeninteresse der handelnden Vorstände geprägt". Die Wirecard AG stellt Strafanzeige u.a. gegen Tobias Bosler und Markus Straub, wegen Insiderhandels und Marktmanipulation.

Es ist auch das Jahr in dem "der Beginn einer wunderbaren Freundschaft" beginnt, nämlich die zwischen dem Wirtschaftsprüfer Ernst & Young (EY) und Wirecard. Bereits im Konzernlagebericht 2007 ist zu lesen, dass einzelne Punkte angesprochen wurden, welche jedoch die Aussagekraft und Richtigkeit des Konzernabschlusses und des Konzernanlageberichts 2007 nicht wesentlich beeinträchtigen. Dies heißt nicht, dass nichts von den Wirtschaftsprüfern gefunden wurde, sondern vielmehr, dass der Jahresabschluss nicht korrigiert werden musste.

Im Jahr 2010 mehren sich Hinweise, dass Wirecard illegale Zahlungen für Glücksspielanbieter abwickelt. Tobias Bosler verfolgt diese Hinweise und geht abermals Shortpositionen ein und stellt im Februar 2010 Strafanzeige "wegen Geldwäsche in Milliardenhöhe bei der Wirecard AG", nicht nur bei der Staatsanwaltschaft München I, sondern auch der BaFin. In einem Interview mit dem Magazin Capital sagte Bosler im Juli 2020: "Die Gewinne kamen aus Gibraltar und von den British Virgin Islands. Dort sitzen typischerweise Glücksspielanbieter. Zudem wies Wirecard im Vergleich zu Konkurrenten bis zu zehn Mal höhere Margen auf. Das kam mir merkwürdig vor. Der schwache Cashflow wirkte aufgebläht. […] Mir war klar, dass hier Betrug im Spiel ist. Ende 2008 erhielt ich am Rande einer Wirecard-Party auf dem Münchner Oktoberfest die Bestätigung, dass Wirecard illegales Geschäft macht. Dies wisse fast die gesamte Payment-Branche, sagten mir amerikanische Geschäftspartner von Wirecard. Sie tranken Champagner und amüsierten sich darüber, dass in Deutschland niemand von den illegalen Praktiken zu wissen schien."

Doch statt den Hinweisen und Frühwarnindikatoren nachzugehen, sehen sowohl die Finanzaufsicht als auch die Staatsanwaltschaft in Bosler den Chef eines Netzwerks von Börsenbrief-Journalisten, um mit Wetten auf den Kurs Kasse zu machen. Sowohl Bosler als auch Straub werden verhaftet. Wirecard hat die Schlacht zunächst gewonnen. Und die BaFin hat in einer Geldwäsche-Sonderprüfung "keine Verfehlungen der Wirecard Bank AG festgestellt."

Während den Wirtschaftsprüfern von EY und den BaFin-Prüfern keinerlei Unregelmäßigkeiten auffallen, bringt ein Wirtschaftsprüfer und Controller Transparenz in die undurchsichtige Wirecard-Welt. Seine Waffe sind die Mathematik und historische Zeitreihen aus den Wirecard-Finanzberichten. Zwischen 2014 und 2020 hat Thomas Borgwerth mehr als 2.000 Stunden seiner Lebenszeit mit den Zahlen von Wirecard verbracht. Und die Zahlen präsentierten ihm die wahre Geschichte von Wirecard. Die Geschichte eines Unternehmens, das pausenlos wächst und nie ein Problem hatte, konnte nicht stimmen. Thomas Borgwerth hatte aufgezeigt, dass die Wachstumsraten in den einzelnen Regionen in den Jahren 2010 bis 2016 zwischen minus 40 und plus 70 Prozent schwanken. Und immer wenn das Geschäft in einer Region extrem schwächelt, läuft es in anderen Regionen perfekt. Im Ergebnis kam Wirecard in jedem Jahr auf Wachstumsraten zwischen 25 und 30 Prozent. Was allerdings seitens Wirecard immer fehlte, war eine schlüssige Erklärung. Risiken gab es nicht. Die Wirecard-Welt bestand nur aus Chancen.

Ein wichtiger Indikator war für Thomas Borgwerth, dass die Forderungen zuzüglich des Cash-Bestandes höher waren als die Verbindlichkeiten.  Und das konnte nicht sein. Dann würde Wirecard in der Summe mehr Geld einsammeln, als das Unternehmen den Händlern schuldet. Seine Schlussfolgerung: Die Forderungen bei Wirecard waren einfach zu hoch. Die veröffentlichen Zahlen konnten mit der Realität nicht übereinstimmen. Daher informierte er Journalisten – doch stößt das Thema nur bei ein paar "Freaks" auf Interesse. Es sollte noch Jahre dauern bis offiziell wird, dass Borgwerth all die Jahre recht hatte und mit den "überschüssigen" Forderungen etwas nicht stimmt. In diesen Jahren schliefen Aufseher, Wirtschaftsprüfer und auch Akteure im Finanz- und Wirtschaftsministerium weiterhin ihren Schlaf der Glückseligkeit. Oder sie zockten mit Wirecard-Aktien, wie etwa Mitarbeiter des Bundesfinanzministeriums.

Am 24. September 2018 um 8 Uhr erreicht Markus Braun das, worauf er viele Jahre hingearbeitet hat: Die Wirecard AG steigt in den DAX auf und ersetzt dort die Commerzbank. 5.000 Mitarbeiter, 2 Milliarden Euro Umsatz, mehr als eine halbe Milliarde operativer Gewinn. Die Aktie, die zu Beginn des Jahres 2005 gerade mal 2 Euro wert war, steuert auf die 200-Euro-Marke zu. Bis zum Jahr 2025 soll Wirecard im Vergleich zu 2017 seinen Umsatz auf 10 Milliarden Euro versiebenfachen.

Dan McCrum, ein Journalist der britischen Financial Times, befasste sich seit dem Jahr 2014 mit Wirecard und veröffentlichte seit 2015 kritische Artikel. Im Jahr 2019 eskalierte die Auseinandersetzung um die Wahrheit. Am 9. April 2019 erstattet die BaFin Strafanzeige bei der Staatsanwaltschaft München I, wegen des Verdachts der Marktmanipulation gegen McCrum und seine Kollegin Stefania Palmer. "Anhand der Strafanzeige zeigt sich vielmehr, dass der Verdacht der Aufseher auf völlig weltfremden Annahmen gründet. […] Im Nachhinein liest sich die Anzeige wie ein Anschlag auf die Pressefreiheit.", so die Autoren in "Die Wirecard Story".

Eine kuriose Perspektive der Finanzmarktaufsicht und der Staatsanwälte. Während McCrum, Bosler & Co. Transparenz schaffen und Fakten liefern, werden sie als Täter juristisch verfolgt und die kriminellen Akteure bei Wirecard als Opfer geschützt. In einem Interview mit dem Magazin Capital ergänzt Bosler: "Ich musste bis zur Insolvenz warten. Vorher hätte mir niemand geglaubt, dass Wirecard im Milliardenbereich betrügt. Jetzt hört man mir zu. Fast alle Medien haben das von Wirecard erzählte Märchen vom bösen Shortseller, der unwahre Gerüchte verbreitet und damit Kurse manipuliert, geglaubt. Ich wurde als Börsenbetrüger abgestempelt, Wirecard wurde dagegen beschützt."

Auch nach dem Zusammenbruch von Wirecard lenkt BaFin-Chef Hufeld weiterhin von seiner Verantwortung ab und ist erschüttert: "Für mich ist es schleierhaft, wie Wirecards Jahresabschlüsse von den Wirtschaftsprüfern zehn Jahre lang uneingeschränkt testiert werden konnten. Für mich ist das schleierhaft, gerade mit Blick auf die Probleme bei der Governance." Mehr als zehn Jahre lang segnete EY die Bilanzen von Wirecard ab. Erst nach der Veröffentlichung des KPMG-Berichts verweigerten die EY-Prüfer ihr Testat. Die KPMG-Mitarbeiter hatten sich bei einem Besuch auf den Philippinen selbst von der Existenz angeblicher Konten überzeugen wollen. Doch die Gespräche mit dem Treuhänder vor Ort verliefen genauso unbefriedigend wie Besuche in zwei Bankfilialen. Und damit begann das Kartenhaus Wirecard zu wackeln. Stellt sich die Frage, warum EY diese Prüfungen vor Ort unterlassen hat.

Fazit: Das Buch der WirtschaftsWoche-Journalisten Melanie Bergermann und Volker ter Haseborg liest sich in weiten Teilen wie ein Kriminalroman – geschrieben in einer lockeren und unterhaltsamen Sprache. Das Buch basiert auf exzellenten Recherchen und einer umfangreichen Faktensammlung sowie diversen Interviews mit "Insidern". Und nach der Lektüre wird vor allem eines deutlich. Hinter der Wirecard-Story steht ein Komplettversagen der agierenden Aufsichtsorgane, der Wirtschaftsprüfer, der BaFin sowie des Bundesfinanz- und -wirtschaftsministeriums.

In einer Welt von Luftbuchungen, um die Bilanz aufzublähen, reift die Einsicht, dass es mit der Gesetzestreue und dem Leitbild des "ehrbaren Kaufmanns" (und wohl auch Politikers) nicht weit her ist. Denn das war einst Sinnbild für die verantwortungsvolle Teilhabe am Wirtschaftsleben (oder politischen Leben) – nach innen und außen gerichtet. Als Garantie diente der ehrbare Kaufmann jahrhundertelang als feste Größe in unwägbaren Zeiten, ohne festgeschriebene Handelsgesetze, im Zeitalter von Kriegen und Verwerfungen sowie wechselnden Machtverhältnissen. Er war bodenständig, vorsichtig und risikoscheu auf der einen Seite. Gleichzeitig zeichnete ihn auf der anderen Seite Wagemut aus.

Das bedeutet, dass der Erfolg eines Kaufmanns nicht nur durch praktische Fähigkeiten wie Lesen, Rechnen oder Schreiben sowie seiner Talente wie sozialer Kompetenz oder dem Verhandlungsgeschick beeinflusst wurde. Hinzu kamen vor allem auch ethische Kompetenzen. Tugenden wie Integrität, Aufrichtigkeit oder Anstand ließen den Kaufmann ehrbar werden. Der Ehrbare Kaufmann zeichnete sich dadurch aus, dass sein Wort jederzeit Gültigkeit besaß und man sich auf seine Aussagen verlassen konnte. Ein wichtiger Hinweis, schließlich galt das Wort in Zeiten ohne festgeschriebene Rechtsgrundlage als einzige verbindliche Basis des geschäftlichen Wirkens. Wer es brach, dem war nicht mehr zu vertrauen, der wurde teils aus der Gemeinschaft ausgestoßen.

Kurzum, die Person war nicht mehr ehrbar. Von diesem "Wort halten" sind wir heute weit entfernt. Der ehrbare Kaufmann ist weitgehend aus dem Sprachgebrauch verschwunden und mit ihm das stille Übereinkommen sich an klare und transparente Spielregeln des wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und sozialen Miteinander zu halten. Und das ist vermutlich die größte Lehre aus der "Wirecard Story".

[ Bildquelle Titelbild: FinanzBuch Verlag ]
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