Meiner Ansicht nach sind die drei schockhaften Ereignisse – US-Inflation, Russland/Ukraine und die Null-Covid-Strategie in China – zwar recht komplex und schwer zu verfolgen – und ihre Auswirkungen auf die Finanzmärkte schwer abzuschätzen. Für Anleger ist es aber wichtig, dass sie unterschiedlich lang und schwer wirken dürften.
Great Resignation? Nicht in China
In dieser Hinsicht dürfte der chinesische Null-Covid-Schock zuerst abklingen. Nicht nur, dass sich die Lage in Shanghai seit dem 1. Juni durch die Aufhebung der Bewegungsbeschränkungen normalisiert hat, auch die chinesischen Exporte haben im Mai neue Rekorde erreicht, und die Zahlen für Juni werden meiner Meinung nach noch höher ausfallen.
Sobald die Covid-Beschränkungen aufgehoben werden, werden die chinesischen Arbeitnehmer eifrig an die Arbeit zurückkehren und Überstunden machen, um den Auftragsbestand abzuarbeiten. Es gibt kaum Überlegungen über den Sinn des Lebens oder darüber, ob man den Beruf wechseln sollte. Infolgedessen werden die Produktion, die Exporte und die allgemeinen Aktivitätszahlen meiner Meinung nach stark ansteigen, vorausgesetzt, es kommt nicht zu weiteren Rückschlägen im Zusammenhang mit Covid.
Hinzu kommt, dass Peking – angeführt von der Fraktion von Premier Li, die für keynesianische Anreize eintritt – das Heft in die Hand nimmt, und gezieltere, aber kräftige Anreize – fiskalisch, nicht geldpolitisch – dazu beitragen werden, dass sich die Wirtschaft im zweiten Halbjahr vollständig erholt. Das erste Halbjahr war düster, aber ich bin zuversichtlich, dass das zweite Halbjahr nicht so sein wird.
Auch die regulatorischen Beschränkungen für den Technologiesektor und den Immobiliensektor werden gelockert. Zwar wird es wahrscheinlich keine vollständige Rücknahme der im letzten Sommer begonnenen regulatorischen Verschärfungen geben, aber ein deutliches Drehen an den Stellschrauben wird wahrscheinlich zu recht positiven Aussichten für Renminbi-Anlagen führen, von denen viele unterbewertet sind.
US-Inflation: Licht am Ende des Tunnels
Der zweite Schock, der langsam abklingen könnte, ist die US-Inflation. Das allgemeine Preisniveau ist bereits so hoch, dass die Verbraucher selbst bei einer Verlangsamung der Inflation Mühe haben werden, ihre Nachfrage aufrechtzuerhalten, denke ich. Dies dürfte dazu führen, dass die US-Zinssätze und der Dollar ihren Höchststand erreichen, sodass Aktien ein "Licht am Ende des Tunnels" erblicken könnten.
Russland/Ukraine: Stagflationsrisiko in Europa
Der Schock, der am nachhaltigsten sein dürfte, ist die Frage, was die Sanktionen gegen Russland für Europa bedeuten könnten. Die EZB strafft die Geldpolitik, weil sie als Zentralbank mit einem einzigen Mandat und Inflationsziel keine andere Wahl hat. Die Fed hingegen hat ein doppeltes Mandat und kann daher nach eigenem Ermessen handeln, wenn sich die Konjunkturdaten verschlechtern. Angesichts der geopolitischen Spannungen, die dazu führen, dass die Rohstoff- und Energiepreise erhöht bleiben, befürchte ich, dass Europa von den drei großen Volkswirtschaften das größte Stagflationsrisiko hat.
Autor:
Stephen Li Jen ist CEO von Eurizon SLJ Capital Ltd und Manager des mehr als drei Milliarden Euro schweren Eurizon Fund - Bond Aggregate RMB. Vor seiner Zeit bei Eurizon war er vier Jahre als Ökonom beim IWF tätig und beschäftigte sich mit Volkswirtschaften in Osteuropa und Asien. Stephen hat am Massachusetts Institute of Technology in Wirtschaftswissenschaften promoviert und an der University of California in Irvine (Summa Cum Laude) einen Bachelor-Abschluss in Elektrotechnik erworben.