Szenario- und Sensitivitätsanalysen in der Praxis

Ein Blick in die Zukunft mit Stressszenarien


Ein Blick in die Zukunft mit Stresstests News

Das Lesen von Betriebsanleitungen nach dem Kauf neuer Geräte beschert nur wenigen Nutzern Freude und viele schließen daher die Geräte lieber erst mal an und legen den Papierkram zur Seite. So muss es auch vielen Anwendern von Risikomodellen ergangen sein, haben sie doch den Hinweis übersehen: "Funktioniert nur unter normalen Marktbedingungen".

Dieses Manko wurde durch die Finanzmarktkrise vielen Anwendern ins Gedächtnis gerufen. Auch die Aufsichtsbehörden reagierten und forderten per Ende 2009 in der Novellierung der Mindestanforderungen an das Risikomanagement (MaRisk) was seit eh und je dem kundigen Leser von Dokumentationen bekannt war. Die meisten im Einsatz befindlichen Modelle messen das Verlustrisiko bei normal funktionierenden Märkten mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit. Für die Quantifizierung der Risiken jenseits dieser gewählten Wahrscheinlichkeit bedarf es ergänzender Modelle, in der Regel auf Basis von Stressszenarien.

Bereits im Jahr 2006 hatte das Committee of European Banking Supervisors (CEBS) in seinem Diskussionpapier "Technical aspects of stress testing under the supervisory review process – CP12" umfangreiche Forderungen nach Stresstests aufgestellt. Darin waren neben den klassischen Marktpreis- und Adressrisiken auch Liquiditätsrisiken und makroökonomische Risiken abgedeckt. Mit Hinblick auf die zwei bis drei Jahre später eingetretene Finanzmarktkrise hätte also kein Institut unvorbereitet sein müssen. Streng genommen müssten sich die Banken an den alten Hinweisen und Anforderungen der CEBS von Anfang Juni 2006 heute messen lassen (vgl. Romeike/van den Brink, Frühwarnindikatoren: Kritischer Faktor Spätwarnung, Risiko Manager 13/2006, S. 1 ff.):

  • "... stress testing may be used to assess the adequacy of internal capital ..."
  • "... stress testing should be used to supplement statistical methologies (such as VaR). Stress testing helps form a view where paucity of historical data limits the predictive power of such models ..."
  • "... institutions should use stress testing as one tool to assess the risks in a forward looking manner ...".


Das CEBS hatte damals in einem Diskussionspaper zusammengefasst was ohnehin schon lange bekannt war (und leider niemand lesen wollte): Auch in Stressszenarien gemessene Risiken müssen noch von der Risikotragfähigkeit des Instituts gedeckt sein, Risikomessungen mit VaR-Modellen sollten durch Stresstests erweitert werden, historische Betrachtungen sind unzureichend und sollten um zukünftige Risikoszenarien ergänzt werden.

Mehr als drei Jahre später wurden durch die Novellierung der MaRisk und flankierende Dokumente wie beispielsweise die "Principles for sound stress testing practices and supervision" des Baseler Ausschusses sowie einem aktuellen CEBS-Papier "Guidelines on stress testing" die Themen noch einmal ganz oben auf die Agenda gesetzt. Einige Bankpraktiker finden darin die erstmalige Erkenntnis der oben genannten Modellschwächen, machen die "falschen" Modelle für das Desaster verantwortlich und aus dem "neuen" Stresstesting eine Wissenschaft.  Die Bankenwelt hat die Stresstests für sich entdeckt!

Keynes: In the long run we are all dead

Aus betriebswirtschaftlicher Sicht handelt es sich dabei um Szenario- und Sensitivitätsanalysen, die historisch vor der Etablierung stochastischer Modelle bereits flächendeckend im Einsatz waren. Diese Methoden bieten eine einfach verständliche Darstellung von Risiken bei vorab bestimmten Entwicklungen und erfordern keinerlei statistische oder konzeptionelle Kenntnisse der Methode. Die Aussagen sind selbsterklärend. Beispiel: Bei einem Anstieg des Wechselkurses EUR/USD um 20 Prozent wird das Unternehmen 45 Prozent vom EBIT in Euro verlieren.

Das Problem für die Praxis besteht in der Ableitung außerordentlicher und trotzdem realistischer Stressszenarien. Werden hierzu Extremereignisse aus der Vergangenheit herangezogen, ist zwar die Akzeptanz der Szenarien regelmäßig gegeben, aber es fehlt die Berücksichtigung dessen was noch nicht beobachtet werden konnte, aber dennoch möglich ist. Hypothetische Stressszenarien für die Zukunft werden in der Regel mit Hilfe von Experteneinschätzungen gewonnen. Hierzu stellt das betriebswirtschaftliche Risikomanagement einen Baukasten vieler (Kreativitäts-)Methoden bereit: Brainstorming, Brainwriting, Delphimethode, Expertenbefragung, Synektik etc. Die Gefahr von hypothetischen und extremen Szenarien besteht in einem Mangel an Akzeptanz bei den Risikoverantwortlichen. Frei nach John Maynard Keynes wird schnell mangels Erkenntnisnutzen extremer Risikoszenarien abgewunken: "In the long run we are all dead".

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Die eigentliche Motivation für Stresstests sollten nicht Basel II und MaRisk oder Auflagen der CEBS sein, sondern die Absicht, Risiken adäquat zu begegnen.

Richtig eingesetzt, helfen Stresstests in simulierten Extremsituationen Modelle zu testen und proaktiv strategische und operative Entscheidungen danach auszurichten. Banken haben diese Steuerungsmöglichkeit im Risikomanagement erkannt.

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Wie muss ich mein Stressszenario definieren, damit es nicht weh tut?

Pragmatisch wurden und werden zum Teil noch Stresstests nach der Maxime gewählt: Wie muss ich mein Stressszenario definieren, damit bei gegebener Risikotragfähigkeit kein Handlungsbedarf besteht und das Ist-Portfolio in seiner Struktur erhalten bleibt? Solche Stresstests haben keinerlei Erkenntnisgewinn oder Steuerungsnutzen und dienen nur der fadenscheinigen Erfüllung aufsichtsrechtlicher Normen.

Wichtig sind bei der Formulierung von Stresstests neben der Plausibilität und Seriosität auch die Berücksichtigung der wechselseitigen Abhängigkeit der Risiken untereinander und deren Bezug zur makroökonomischen Gesamtentwicklung. Gerade die jüngste Finanzmarktkrise hat Murphys Law erneut bestätigt: Alles, was schiefgehen kann, wird auch schief gehen! Dem entsprechend sollte die ermittelte Risikotragfähigkeit auch den Eintritt mehrerer miteinander zusammenhängender Stressszenarien verkraften.

Fazit: Die Erkenntnis dass Stressszenarien eine notwendige Ergänzung von Value-at-Risk-Berechnungen sind, ist weder neu, noch revolutionär und wird als alleinige Maßnahme keine Finanzmarktkrisen verhindern können. Die verstärkte Beachtung von Stressszenarien für alle wesentlichen Risiken im Kontext zu der gegebenen Risikotragfähigkeit verbessert jedoch die Qualität des Managements. Die Erfüllung aufsichtsrechtlicher Normen spielt dabei nur eine Nebenrolle. Das Management sollte vielmehr anhand der aktuellen Diskussionen über normale Marktbedingungen versus Stressszenarien sein Know-How im Risikomanagement auffrischen und verbessern.


Markus Dokter, Leiter Finanzen der Volksbank Mittelhessen eGInterview mit Markus Dokter, Leiter Finanzen der Volksbank Mittelhessen eG, die zu den drei größten Genossenschaftsbanken in Deutschland zählt.

> Wenn die in der Finanzwelt etablierten Verfahren nur unter normalen Marktbedingungen zu verwertbaren Risikoschätzungen gelangen, welchen Nutzen haben sie dann für das Risikomanagement?

< Dokter: Für Entscheidungen über Vermögensallokationen in der täglichen Rendite-/Risikosteuerung sind Informationen über Extremwertrisiken keine ausreichende Grundlage. Da interessiert den Entscheider insbesondere die erwartete Rendite im Verhältnis zu dem unter normalen Marktbedingungen möglichen Wertverlust. Die Extremwertrisiken bilden hier aber einen Rahmen für Allokationsentscheidungen, innerhalb dessen alle Verluste durch die hauseigene Risikotragfähigkeit gedeckt sind. Bildhaft gesprochen: Wenn sie mit der Bahn fahren werden sie sich am Fahrplan orientieren, obwohl sie wissen das Züge manchmal zu spät kommen. Hierfür wird man einen Zeitpuffer einplanen der Verspätungen in einem üblichen Rahmen auffängt.

Sie werden aber nicht schon bei der Planung der Reise davon ausgehen dass ihr Zug jedes Mal wegen einem Radreifenbruch unterwegs liegen bleibt. Dieses Risiko ist gegeben, aber die Information hilft nicht bei der täglichen Reiseplanung.

> Worin sehen Sie Vor- und Nachteile der historischen und/oder zukunftsgerichteten Stresstests?

< Dokter:
Die aus historischen Beobachtungen abgeleiteten Stresstests haben per se eine größere Akzeptanz als hypothetisch angenommene Szenarien. Es liegt in der Natur der Sache dass  Stresstests ein Hindernis für neue Engagements oder Geschäfte werden können. Dann stellt sich schnell die Frage nach dem Bezug der Stresstests zur Realität und bereits beobachtete Ereignisse lassen sich besser argumentieren. Jedoch genügt der berüchtigte Blick in den Rückspiegel nicht, um alle möglichen aber vielleicht noch nicht beobachteten Risiken berücksichtigen zu können. Allerdings ist es selbst für Experten sehr schwierig sich hypothetische, aber dennoch mögliche Stressszenarien abzuleiten. Die Kombination aus beidem ist für die Praxis zielführend.

> Hat die stärkere Berücksichtigung von Stresstests einen messbaren Einfluss auf das Verhalten der Risikoverantwortlichen gezeigt? Wenn nein, ist dieser künftig zu erwarten?

< Dokter: Das Risikobewusstsein ist eine Frage der Qualität des Managements. Gute Manager ziehen stets Chancen und Risiken ins Kalkül ihrer Entscheidungen und wägen beide verantwortungsvoll ab. Für sie sind die neuen Stresstests eine kleine Weiterentwicklung in einem gewohnten und beherrschten Steuerungsinstrumentarium. Sie haben sich daher schon in der Vergangenheit verantwortungsvoll verhalten, was sich auch in den jährlichen Geschäftsberichten und insbesondere für die Jahre 2008 bis 2010 widerspiegeln wird. Schlechte Manager ignorieren Risiken und sehen Analysen wie beispielsweise Stresstests nur als leidige Erfüllung aufsichtsrechtlicher Normen und Neugeschäftsverhinderung an. Da würde ich keine zu großen Erwartungen an Verhaltensänderungen hegen.

> Hat sich der Stellenwert des Risikomanagements seit der Finanzmarktkrise auf der Führungsebene verändert?

< Dokter: Auch hier spielt das Risikobewusstsein des Managements eine herausragende Rolle. Davon hängt es ab welcher Stellenwert dem Risikomanagement im eigenen Hause zukommt und ob der Risikomanager bei wichtigen Entscheidungen Gehör findet. Unser Haus hat sehr frühzeitig damit begonnen das Risikomanagement in alle Managementprozesse einzubinden und sieht hierin vorrangig einen betriebwirtschaftlichen Vorsprung in der Informationsaufbereitung für wichtige Entscheidungen. Das Risikomanagement ist die Lebensversicherung der Bank. Die Erfüllung aufsichtsrechtlicher Normen ist dabei eine Selbstverständlichkeit, aber nicht die eigentliche Motivation für uns Risikomanagement zu betreiben.

Vielen Dank Herr Dokter für das Gespräch.

Das Gespräch führten Dr. Peter Hager und Frank Romeike [beide RiskNET Redaktion]



[Bildquelle: iStockPhoto]

Kommentare zu diesem Beitrag

dirk /04.11.2010 20:49
Herr Dokter hat völlig Recht, wenn er darauf hinweist, dass schlechte Manager Risiken ignorieren und Analysen wie beispielsweise Stresstests nur als leidige Erfüllung aufsichtsrechtlicher Normen und Neugeschäftsverhinderung ansehen. Leider hatten wir in der vergangenen Jahren (und wohl auch noch heute) mit einer ganzen Reihe von schlechten Managern zu tun (und deren Beratern), die Risiken komplett ausgeblendet haben und sich ausschliesslich auf eine Renditeoptimierung gestürzt haben. Das muss schiefgehen.
Und ich habe das Gefühl, dass nur die wenigsten Manager etwas gelernt haben. Das ist bitte - aber wohl Realität ... die nächste Krise steht vor der Tür (diesmal vielleicht verursacht durch schlechte Politiker, die von Finanzmärkten und präventivem Risk Management nicht viel verstehen ... ;-(
TKG /06.11.2010 21:48
Der gesunde Menschenverstand sagt einem doch schon, dass man Stressszenarien in der Entscheidungsfindung berücksichtigen sollte, oder?

Ein guter Text.
Roadrunner /08.11.2010 08:09
Ohne Stressszenarien kann die Risikotragfähigkeit eines Unternehmens nicht verprobt werden. Die Handelsmodelle decken solche Extremrisiken jedenfalls nicht ab. Aber "Stress" ist teuer und da macht man häufig mal lieber beide Augen zu. Siehe auch aktuelle Politik!
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