Die jetzt von der EZB verkündete Zinserhöhung um 50 Basispunkte sowie die Ankündigungen möglicher weiterer Zinserhöhungen in diesem Jahr kommen nicht nur viel zu spät, sondern sind auch im Ausmaß unzureichend, um die Inflation wirksam einzudämmen. Denn im Grunde ist es fast unerheblich, ob der Leitzins demnächst bei 0,75% oder 1,00% stehen wird – im aktuellen Inflationsumfeld bleiben diese Erhöhungen allenfalls ein Tropfen auf den glühenden Lavastrom. Eine ernsthafte und glaubhafte Inflationsbekämpfung würde ein sehr viel entschlosseneres Vorgehen erfordern, auch die Bereitschaft zu positiven Realzinsen und damit Zinssätzen oberhalb der Inflation.
Die EZB hat sich über die letzten Jahre immer stärker zum Ausputzer für die Euro-Staaten einspannen lassen, die (noch) nicht jene Disziplin und jenen Willen zu tiefgreifenden Reformen aufbringen, die viele Schwellenländer in Folge ihrer Krisen der 1980er oder 90er leisten mussten. Geschäftsmodell und entsprechend ihrer Währungstradition gelebte Praxis der südlichen Mitgliedsstaaten war es vor Euroeinführung stets, über Inflation und Währungsabwertung wettbewerbsfähig zu bleiben. Diese südeuropäische Währungsmentalität dominiert heute die Mehrheiten im EZB-Rat. Daher ist davon auszugehen, dass viele Staaten weiterhin an erhöhter Inflation interessiert sind, damit finanzielle Repression und negative Realzinsen weiter auf die Staatsschulden einwirken und diese real entwertet werden können.
"Fragmentierungsbekämpfung" ist nicht Aufgabe der EZB
Mit dem jetzt angekündigten Transmission Protection Instrument (TPI) steht zu befürchten, dass die Ankaufprogramme der EZB wieder beginnen, bevor sie richtig geendet haben. Die "Fragmentierungsbekämpfung" ist in den Verträgen aber nicht als Aufgabe der EZB genannt, sondern einzig die Sicherung der Geldwert-, also Preisstabilität. Die Selbstermächtigung der Notenbank zu anderen als den ihr aufgetragenen Zielen ist eine Anmaßung, die umso verzweifelter verfolgt wird, je stärker sie in Konflikt mit den Realitäten gerät.
Darüber hinaus stellt sich die Frage: Woher soll die EZB – gerade im Vergleich zum Markt – wissen, wo der "richtige" Spread für Italien, Spanien oder Frankreich liegt? Versucht die EZB nun, mit den Spreads eine Größe zu steuern, die sie dauerhaft nicht steuern kann, werden Verzerrungen und wachsende Schäden aus der Fehlallokation von Kapital immer größer.
Möglicherweise besteht das Paradox, dass die EZB mit ihrem Antifragmentierungsprogramm genau das beschleunigt, was sie eigentlich vermeiden will: Unter ungünstigen Umständen werden die resultierenden fiskalischen Fliehkräfte letztendlich so hoch, dass eine Gesamtabwägung von Kosten und Nutzen die Euro-Beteiligung für einzelne, gerade neuere Mitglieder (z.B. in Ost- und Mitteleuropa) nicht mehr lukrativ erscheinen lässt.