Marktkommentar Q3-2024

Europa im Schuldturm vergangener Fehler


Marktkommentar Q3-2024: Europa im Schuldturm vergangener Fehler Kolumne

Das Jahr 2024 bleibt geprägt von hoher Ereignisdichte. Auch in den oft nachrichtenärmeren Sommermonaten hielten sich die für Anleger und Kapitalmarktstrategen zu verarbeitenden Schlagzeilen reichlich besetzt. Im US-Präsidentschaftswahlkampf bestimmten der Kandidatenwechsel der Demokraten und gleich zwei Attentatsversuche auf Donald Trump das Geschehen. Geopolitisch drehte sich die Eskalationsspirale mit ukrainischen Angriffen auf russisches Territorium und der Ausweitung israelischer Militäroperationen in nahezu alle Himmelsrichtungen weiter. China überraschte im September mit einem umfangreichen konjunkturellen Lockerungs- und Ankurbelungspaket. Der Goldpreis erklomm neue Rekordhöhen. Mit Gewöhnungseffekten gehen inzwischen fast schon die desolaten Wirtschaftsnachrichten aus Europa und insbesondere aus Deutschland einher. Weitgehend unbeeindruckt davon zeigen sich jedoch unverändert Unternehmensgewinne und Aktienkurse. Viele Aktienindizes – darunter S&P 500 und Dax – erreichten im 3. Quartal 2024 neue Rekordhochs.

Abb. 01: Marktüberblick: Entwicklung verschiedener Assetklassen in 2024Abb. 01: Marktüberblick: Entwicklung verschiedener Assetklassen in 2024

Kräftig durchgerüttelt wurden die Kapitalmärkte Anfang August. Ausgehend von einer Zinsanhebung der japanischen Notenbank von 0,10% auf 0,25% und der Aussicht auf eine weitere Normalisierung der Zinslandschaft wertete der japanische Yen auf und löste so eine Auflösung sogenannter Carry-Trades aus. Die über Jahre hinweg lukrative Praxis, Kreditaufnahme in einer niedrigverzinslichen Währung (z.B. Yen) zu tätigen und in höherverzinslichen Währungen (z.B. im US-Dollar oder Mexikanischem Peso) anzulegen, wird weniger profitabel, wenn sich die Finanzierungskosten erhöhen. Zugleich führen japanische Anleger selbst Anlagekapital ins Heimatland zurück, sobald die Zinskonditionen dort attraktiver werden. Die über Jahre hinweg aufaddierten Carry Trades hatten immer höhere Volumina in Anleihen und Aktien westlicher Märkte gespült. Die aus der Rückabwicklung des Carry Trades erwachsende Fragilität für viele Marktsegmente zeigte sich im August exemplarisch und dürfte lediglich ein erster Vorgeschmack darauf sein, was im Zuge einer weiteren Straffung der geldpolitischen Ausrichtung in Japan drohen könnte.

Die bemerkenswerte August-Volatilität mit Abverkäufen speziell an den japanischen (der Nikkei Index erlitt den größten Tagesverlust seit 1987), aber auch an den US-Aktienmärkten, wurde noch verstärkt von zeitgleich kursierenden Meldungen, wonach Warren Buffet sich in erheblichem Umfang von Beständen seiner Apple-Aktien getrennt hatte sowie von schlechten Konjunkturdaten. Die Eintrübung der US-Indikatoren hat sich im August und September fortgesetzt und damit grünes Licht für die von den Märkten herbeigesehnten Zinssenkungen gegeben. Bereits während des traditionellen sommerlichen Notenbanksymposiums in Jackson Hole hatte Fed-Chef Jay Powell die "Zeit als gekommen" ausgerufen, um die Zinswende einzuläuten. Die Risiken für die Preise, so Powell, hätten ab-, die Risiken für die Entwicklung des Arbeitsmarktes hingegen zugenommen. Tatsächlich übererfüllte die US-Notenbank im September die Markterwartungen mit einem "großen” Zinsschritt von 0,50%. Die Begehrlichkeiten der Märkte sind damit geweckt – sie verlangen nun mehr. So ist am zuletzt schwächeren Wechselkurs des US-Dollars abzulesen, dass Investoren ein weiteres Abschmelzen des Zinsvorteils des US-Dollars gegenüber anderen Währungsräumen erwarten, auch wenn diese ebenfalls die Leitzinsen absenken (wie zuletzt u.a. Kanada, Schweden, Schweiz, Großbritannien, die EZB). 

Formal steuert die US-Notenbank die beiden offiziellen Mandate der Preisstabilität und der Beschäftigungsförderung am Arbeitsmarkt. Der eben erfolgte Zinsschritt dürfte aber nicht unwesentlich von einer dritten, inzwischen implizit zusätzlich nötigen Betrachtungskomponente informiert gewesen sein: Der Schuldentragfähigkeit und Zinslast aus den über die letzten Jahre hinweg aufgebauten, exorbitanten Staatsschuldenquoten. Die aktuell rückläufige Inflation gibt der Notenbank Spielraum und Argumente für die Lockerung ihrer Geldpolitik. Doch sind eine Kerninflation von zuletzt immer noch 3,2% und durch anhaltend hohe Staatsausgaben nahezu vorherrschende Vollbeschäftigung auch keinesfalls zwingende Argumente für den Beginn des Zinssenkungszyklus. 

Abb. 02: Höheres durchschnittliches Verschuldungsniveau seit 1971Abb. 02: Höheres durchschnittliches Verschuldungsniveau seit 1971

Doch erwächst aus der steigenden Zinslast für die aufgehäuften Staatsschulden die schiere Notwendigkeit, die Refinanzierungskosten auf einem einigermaßen bedienbaren Niveau zu halten, um ungeordneten Entwicklungen an den Märkten ("Liz Truss Moment") vorzubeugen. Verstärkt wird die Gefahr früher oder später aufziehender Schuldenkrisen durch den mit der Sanktionspolitik selbstverursachten Wegfall früherer Käuferschichten für US-Staatsschulden. Die weggebrochene Nachfrage nach US-Treasuries aus Asien und den Golfstaaten kommt das Finanzministerium teuer zu stehen. Ein größerer Anteil einer wachsenden Gesamtschuldenlast muss künftig im Inland finanziert werden.   

Der Refinanzierungsbedarf wird in jedem Fall hoch bleiben. Die erreichte Staatsverschuldung bei weiterwachsenden Verpflichtungen lässt die Schuldenhöhe als faktisch untilgbar erscheinen. Selbst bei konstanten Schulden erreichen die Zinskosten in den Projektionen schwindelerregende Höhen. Aller Wahrscheinlichkeit nach wären konstante Schulden tatsächlich schon ein Best-Case Szenario. Die Ausrichtung der US-Fiskalpolitik wird aber wohl unabhängig vom Wahlausgang im November 2024 sehr expansiv bleiben. Beide politische Lager streben nicht gegenfinanzierte (und mithin schuldenfinanzierte) Mehrausgaben und/oder Mindereinnahmen an. Die fortgesetzte fiskalische Dominanz bleibt daher verlässliche Plangröße.

Investmentimplikationen: Renten – und dabei besonders Staatsanleihen – bleiben unter diesen ungünstigen Bedingungen eine fragile Anlageklasse. Die Eignung von Staatsanleihen als sicherer Portfoliobaustein ist umgekehrt proportional zur Entwicklung der Staatsverschuldung. Mit steigenden Schulden erhöht sich das Kreditrisiko für den Anleger, für den verschuldeten Staat erhöht sich der Inflationsanreiz. Die hohen Defizite sind nur noch mit entsprechender Geldmengenausweitung finanzierbar. Daraus strukturell erhöhten Inflationsrisiken folgen Kursrisiken für Anleihen und setzen deren reale Gesamtertragserwartungen herab. Mit aktuell zyklisch rückläufigen Inflationsraten und eher gedämpften Konjunkturaussichten könnten Anleihen kurzfristig sicherlich Performance in das Anlageportfolio bringen und für die kommenden Monate Kursgewinne liefern. 

Mittel- bis langfristig drängt sich die Anlageklasse Renten aber mit den extremen Ungleichgewichten und Schieflagen öffentlicher Haushalte in der westlichen Welt weiterhin nicht auf. Für Anleger, die für ihre Gesamtvermögensallokation tendenziell zu hohe Zinsrisiken und Anleihequoten festgestellt haben, könnte sich über die kommenden Monate in mögliche Kursgewinne hinein somit ein günstiges Ausstiegsfenster zugunsten anderer Anlageklassen bieten. 

Aus den eher beunruhigenden Ankündigungen und Vorhaben beider US-Präsidentschaftskandidaten lässt sich für keinen Wahlausgang im November ein übermäßig optimistisches Szenario zeichnen. Sicher scheint, dass sich die Schuldenexzesse fortsetzen, die Zahlungsfähigkeit der Vereinigten Staaten stärker unter Druck gerät. In beiden Programmen finden sich keinerlei Ansätze, das anhaltend hohe Defizit von derzeit ca. 7% der Wirtschaftsleistung einzudämmen.  

Aus Donald Trumps Agenda ergibt sich das Risiko, dass die Unabhängigkeit der Notenbank ernsthaft in Frage gestellt wird. Trump ließ uns wissen, er habe in seinem Leben stets "gute Instinkte" und viel Erfolg gehabt und traue sich zu, auch in geldpolitischen Fragen bessere Instinkte zu haben als "Leute, die bei der Federal Reserve sind oder deren Vorsitzender". Es lässt sich trefflich darüber streiten, welchen Grad der Unabhängigkeit die Notenbank faktisch hat. Unstrittig ist aber, dass die formale Unabhängigkeit ein hohes Gut ist, welches nicht angetastet werden sollte. Legt man die Axt an die Notenbank und politisiert ihre Entscheidungen, erhält man mit hoher Wahrscheinlichkeit geldpolitische Ergebnisse, die uns aus dem Lateinamerika der 1980er und -90er Jahre vertraut sind. Jede Planbarkeit und Verlässlichkeit der Reaktionsfunktion der Zentralbank fällt weg, die Inflationserwartungen und das Vertrauen in die Währung entankern. Eine Mitigation des Notenbankrisikos ist in den verhältnismäßig langen Amtszeiten der stimmberechtigten Mitglieder des sogenannten Offenmarktausschusses zu sehen sowie in der Zustimmungspflicht des Senats für durch den Präsidenten neu zu nominierende Fed-Gouverneure. 

Der zweite offenkundig problematische Aspekt aus Trumps Vorhaben liegt in einer vermutlich noch protektionistischeren Handelspolitik als in seiner ersten Amtszeit. Der Plan ist bereits klar formuliert: 60 bis 100% Einfuhrzoll auf chinesische Waren, mindestens 10 bis 20% Zölle auf Importe aller anderen Länder außerhalb der nordamerikanischen Freihandelszone. Anders als bei der Besetzung der Fed kann Trump dabei durchregieren und Tatsachen schaffen: Seit sich das Repräsentantenhaus 1934 mit dem "Reciprocal Trade Agreement Act" in Handelsfragen weitgehend selbst entmachtet und weitreichende Befugnisse in die Hände des Präsidenten gelegt hat, kann dieser Zölle und Handelsbarrieren per Exekutivverordnung ohne Zustimmungserfordernisse des Parlaments verfügen. 

Steht im Falle einer Trump-Präsidentschaft "nur" der globale Freihandel im Feuer, könnte es mit einer Präsidentin Kamala Harris an die Aushöhlung des Kerns marktwirtschaftlicher Prinzipien gehen: Harris hat die hohen Preise in den Supermärkten als Wahlkampfthema entdeckt und wirbt für umfängliche Preisobergrenzen und Preiskontrollen gegen die "Preistreiberei" der Händler.

Abb. 03: Enger Zusammenhang zwischen Geldmengenwachstum und VerbraucherpreisinflationAbb. 03: Enger Zusammenhang zwischen Geldmengenwachstum und Verbraucherpreisinflation

Derzeit zelebrieren viele Volkswirte, Medien und Politik den "Rückgang" der Inflation. Faktisch richtig ist, dass die Jahresveränderungsraten der US-Verbraucherpreise aktuell weniger stark ansteigen als über die letzten Jahre. Dennoch verharrt das Preisgefüge auf insgesamt hohem Niveau und belastet so die Geldbeutel der Konsumenten. Die Inflation der letzten Jahre wirkt kumulativ und damit anhaltend kaufkraftschwächend, gerade für untere und mittlere Einkommensschichten, deren Lohnsteigerungen der letzten Jahre nicht immer mit den Preissteigerungen von Waren und Dienstleistungen Schritt halten konnten. Aus der verminderten Erschwinglichkeit von Gütern des täglichen Bedarfs – besonders Lebensmittelpreisen – resultiert die Unzufriedenheit der Mittelschicht. 

Die möglicherweise wahlentscheidende Stimmung der Mittelschicht ist im Harris-Lager erkannt und löst den uralten Reflex des Preismanagements aus. Hier finden wir ein interessantes Fallbeispiel verkannter (oder bewusst umetikettierter) Ursache-Wirkungs-Beziehungen. Die "organisierte Inflation" der Jahre 2020/21 mit ihrer exzessiven Geldmengenausweitung bei zugleich vorsätzlicher Angebotsverknappung wirkt bis heute auf das Niveau der Preise nach. Die in Folge der monetären und fiskalischen Maßlosigkeit ohnehin hohe Inflation wurde mit den Konjunkturpaketen ("Inflation Reduction Act") der Biden-Regierung unter Harris- Vizepräsidentschaft noch weiter angefacht. Die eigentliche Preistreiberei beruht also auf den selbst herbeigeführten monetären und fiskalischen Ursachen, nicht auf den an Supermarktkassen sichtbar werdenden Symptomen steigender Preise als Folge des zuvor geschaffenen Geldüberhangs. 

Doch wurde Symptombekämpfung historisch stets als probates Mittel angesehen und ist so alt wie die Geldgeschichte selbst. Als Verzweiflungstat der jeweils herrschenden Kaiser, Könige, Fürsten und Präsidenten schien die Preiskontrolle stets der verbleibende Ausweg aus der Bedrängnis der Preisinflation, die auf die zuvor selbst herbeigeführte Münzverschlechterung oder Geldmengeninflation folgte. Wir hatten dazu in der Vergangenheit schon den zeitlosen Klassiker von Robert Schuettinger und Eamonn Butler "Forty centuries of wage and price controls: how not to fight inflation.” bemüht. Dieses herausragende Werk umspannt 4.000 Jahre Geldgeschichte vom alten Ägypten bis in die Neuzeit des Fiatgelds und liefert zahllose Beispiele des immer wiederkehrenden Impulses, Preise kontrollieren zu wollen, der letztendlich scheitern muss und in 100% der Fälle auch stets scheitert. Es ist eine faszinierende Beobachtung, mit welcher Regel- und fast schon naturwissenschaftlichen Gesetzmäßigkeit wiederholt immer wieder zu genau dem Mittel gegriffen wird, dessen Nichtfunktionieren eindeutig nachgewiesen ist. 

Über die Jahrhunderte haben sich mit Marktmechanismen wenig vertraute oder auf Kriegsfuß stehenden Populisten immer wieder an der Symptombekämpfung steigender Preise versucht. Die Folgen waren nicht immer identisch, aber stets ähnlich: Preisobergrenzen führten immer zu Angebotsknappheiten, Mangel und schweren Marktstörungen und mussten letztendlich früher oder später aufgegeben werden, weil sich die Schäden und Nebenwirkungen als größer erwiesen als der erhoffte Benefit. Häufige Folgen von Preiskontrollen waren und sind 

  • Angebotsverknappungen, Mangelwirtschaft und leere Regale, weil Produzenten Angebot zurückhalten oder unterhalb des markträumenden Gleichgewichts- bzw. des Herstellungspreises nicht mehr anbieten
  • Umgehung der Preisobergrenzen durch Qualitätsverschlechterungen 
  • Entstehen von Schwarzmärkten 
  • Rückentwicklung der Informations-, Interaktions- und Transaktionsgüte von Märkten, Rückfall in den Tauschhandel
  • Rationierung (Zuteilung, Bezugskarten, Lebensmittelkarten)
  • Korruption und Günstlingswirtschaft – wer Kontakte hat, hat Zugang zu verknappten Waren
  • Zunahme von Schmuggel und Diebstahl 
  • Einführung von bürokratischen, repressiven Kontroll- und Überwachungsregimen, die, wie Friedrich August Hayek in "Der Weg zur Knechtschaft" hergeleitet hat, notwendigerweise zu weitergehenden, schweren Störungen des Wirtschaftskreislaufes und Einschränkungen von Freiheitsrechten führen müssen, wie z.B. zur Zeit nach der französischen Revolution zu beobachten (Maximumgesetze von 1793)
    • In der Folge Entstehen einer Zwangs- und Willkürherrschaft, Denunziantentum, drakonischen Strafen für Umgehen von Preiskontrollen
  • Gesamthafte Schwächung der Wirtschaft durch Ineffizienzen, Produktivitätsrückgänge, Minderproduktion und Lähmung der Innovation

Trotz der bekannten und vorhersehbar negativen Begleiterscheinungen wurde und wird der Preiseingriff doch immer wieder praktiziert. Prominente Beispiele sind die Verordnungen von Kaiser Diokletian im Römischen Reich (auch er beschimpfte damals "Händler und Spekulanten" für steigende Preise), Frankreich unter den Jakobinern, Deutschland im ersten und zweiten Weltkrieg, das umfangreich und gesamthaft regulierte Preisregime in den Ostblockstaaten inklusive der DDR von 1949 bis 1989. 

Die Sowjetunion hatte praktisch während ihrer gesamten Existenz Preiskontrollen. Die sowjetische Erfahrung belegt, was stets zu beobachten und ökonomisch zu erwarten ist: Während die regulierten, nominalen Preise unter einem Preiskontrollregime oft gleichbleiben, steigen die realen (z.B. auf dem Schwarzmarkt gehandelten oder die nach Beendigung der Preiskontrollen sichtbar werdenden) Preise massiv an. Gleiches war nach Aufhebung bzw. Auslaufen der Preiskontrollen in den USA und Deutschland nach dem 2. Weltkrieg zu beobachten. Die Preise explodierten plötzlich um das Maß der Steigerung nach oben, welches sich über die Zeit der Preiskontrollen in den Vorjahren auf-aggregiert hatte. Die USA verzeichneten 1945-1946 fast 20% Inflation, nachdem die offiziellen Teuerungsraten der Vorjahre kaum Bewegung gezeigt hatten. 

Eingängige Beispiele für unerwartete und unerwünschte Neben- und Folgewirkungen von Preis- und Markteingriffen zeigen Schuettinger und Butler auch. Während der Brotpreissubventionen im Ägypten der 1970er Jahre war der staatlich festgelegte Brotpreis so niedrig, dass Brote massenhaft als Tierfutter Verwendung fanden, war diese Art der Fütterung doch bedeutend günstiger als Heu und Gras. Doch auch hier kam es schnell zur Angebotsverknappung. Bäcker weigerten sich zunehmend das teuer zu erwerbende Mehl für Brot zu verwenden und wichen stattdessen auf das Backen von nicht preisregulieren Süßwaren und Kuchen aus. Die USA hatten 1973 u.a. Preisobergrenzen für Rindfleisch. Halter von Rinderherden stellten sich schnell darauf ein und exportieren fast nur noch nach Kanada, um den regulierten heimischen Markt zu umgehen. Die Folge waren Knappheiten nicht nur bei Rindfleisch, sondern auch bei Substituten wie Fisch und Geflügelfleisch, bei denen es zudem zu enormen Preissprüngen kam. Die USA sahen sich gezwungen, Exportkontrollen für nahezu alle Fleischsorten zu verfügen, was zeigt, dass Preiskontrollen nicht ohne Im- und Exportkontrollen aufrechterhalten werden können. Der Eingriff in zuvor funktionierende Marktmechanismen führte stets zu weitreichenden Nebenfolgen, die es in einer klassischen Interventionsspirale ebenfalls zu adressieren und zu managen bedurfte. Stets blieb die Wirtschaftsleistung gesamthaft hinter ihren Möglichkeiten zurück. 

Im Mittelalter waren Preisvorgaben und Normen eher Regel denn Ausnahme. Herzog Heinrich von Niederbayern legte 1256 in der Landshuter Markt- und Gewerbeordnung u.a. die Preise für Brot, Ochsen- und Ziegenfleisch fest. Im Jahr 1258 verständigten sich Stadt und Erzbischof von Köln auf ein Verbot für die Zünfte, die Preise ihrer Waren und Dienstleistungen selbst festsetzen zu dürfen. Um das Jahr 1300 gab es in Berlin Höchstpreise für Bier. Über die Jahrhunderte standen auf Umgehungen von Preisdiktaten oft drakonische Strafen, während der französischen Revolution bis zur Todesstrafe, sonst oft Folter und Schandpraktiken. Unseren Freunden und Lesern in Österreich wird möglicherweise die vom 13. Jahrhundert bis 1773 angewendete Praxis des "Bäckerschupfens" in Wien vertraut sein. Dabei wurde der delinquente Bäcker, dessen Brote in Preis oder Maß vom vorgegebenen Standard abwichen, zunächst in einen Holzkäfig ("Schandkorb") gesperrt, der dann mittels einer hebelartigen Vorrichtung mehrfach in die Donau (oder andere Flüsse der Region, alternativ auch in "Unrat") eingetaucht wurde. Umstehende Schaulustige skandierten dazu "Schandlieder". Bis heute finden sich als Erinnerung am Portal des Wiener Stephansdoms Brotmaße und Ellen, mit denen seinerzeit Qualität und Gewicht der Backwaren geprüft wurden, um entsprechende Verstöße zur Abschreckung dann durch das Schupfen zu ahnden. 

Abb. 04: Die bis 1773 angewendete Praxis des "Bäckerschupfens" [Quelle: "Das letzte Bäckerschupfen in der Rossau", Kupferstich 1773. Copyright und Bildrecht © Landessammlungen NÖ, Amt der NÖ Landesregierung, Abteilung Kunst und Kultur, Landessammlungen Niederösterreich]Abb. 04: Die bis 1773 angewendete Praxis des "Bäckerschupfens" [Quelle: "Das letzte Bäckerschupfen in der Rossau", Kupferstich 1773. Copyright und Bildrecht © Landessammlungen NÖ, Amt der NÖ Landesregierung, Abteilung Kunst und Kultur, Landessammlungen Niederösterreich]

Der Gegenbeweis zur Wirkung von Preiskontrollen lässt sich ebenfalls führen: Der Weg zu Prosperität und Wirtschaftswunder im Nachkriegsdeutschland wurde wesentlich erst möglich durch Ludwig Erhards beherzte Entscheidung im Jahr 1948, sämtliche Preisregulierungen abzuschaffen. Am zuvor stark regulierten Wohnungsmarkt in Argentinien fallen aktuell die Mieten nach Freigabe der Preise und Vertragsbedingungen stark. Bislang konnten Vermieter selbst bei jährlichen Inflationsraten von über 100% nur alle drei Jahre unter starken Einschränkungen Preisanpassungen vornehmen. Das hatte zur Folge, dass viele Wohnungen gar nicht mehr auf dem Markt angeboten wurden und zeitgleich nicht mehr in Instandhaltung investiert wurde. Auch die Deregulierung des Telekommunikationsmarktes in Deutschland 1998 hatte deutlich fallende Preise für die Verbraucher und verbesserte Leistungsangebote zur Folge.  

Ob und in welchem Umfang die US-Demokraten im Falle des Wahlgewinns tatsächlich Preiskontrollen implementieren werden, bleibt abzuwarten. Eine dirigistischere Wirtschaftspolitik mit dem Duo Harris/Walz scheint sich aber abzuzeichnen. Kamala Harris schlägt außerdem auch Steuererhöhungen, Zuschüsse für den Immobilienerwerb einkommensschwacher Haushalte und diverse Umverteilungsmaßnahmen vor. 

Investmentimplikationen: Die Steuererhöhungsabsichten von Kamala Harris würden der angespannten Situation der Staatsfinanzen zumindest etwas entgegenwirken, gleichzeitig hat auch sie ambitionierte Ausgabenwünsche. Unter Präsident Trump würde das Defizit wohl noch stärker ausufern als bislang – dies könnte im Extremszenario einen Vertrauensverlust bewirken und eine krisenhafte Zuspitzung an Anleihe- und Währungsmärkten zur Folge haben. Budgetentlastend würde sich hingen eine weniger interventionistische Außenpolitik unter Trump auswirken.

Für Aktien sind die Steuerpläne der Demokraten Gift. Einige Ideen greifen sehr direkt und weitreichend bei Kapitalerträgen und auch bei nicht realisierten Gewinnen an. Die Pläne für Unternehmenssteuererhöhungen lenken den Blick auf die äußerst verwundbare Margensituation der US-Unternehmen, auf die wir in der Vergangenheit bereits mehrfach hingewiesen hatten. Die Margen befinden sich auf Rekordniveau. Angetrieben durch sehr moderate Reallohnentwicklungen, niedrige Zinsen und niedrige Steuern über die letzten Jahrzehnte scheint ein Top ausgebildet. Für die von Analysten und Anlegern von diesem Rekordniveau aus fortgeschriebenen Gewinnerwartungen besteht keinerlei Spielraum für Fehler, keine Sicherheitsmarge. Es ergäbe sich entsprechendes Abwärtspotential für US-Aktien. 

In Europa hoffen viele auf einen Wahlsieg von Kamala Harris, versprechen sie sich doch eine weniger restriktive Handelspolitik. Tatsächlich wären Trumps Zölle für Europa zusätzlich zu allen bereits bestehenden Problemen ein weiterer schwerer Nackenschlag, der Produktionsabwanderung, weniger Handelsvolumen und Wohlstandverluste zur Folge hätte. Für die USA und die Weltwirtschaft insgesamt würde sich vermutlich eine neue Inflationsspirale in Gang setzen. Gegenzölle und weitere Abschottung könnten ähnlich den katastrophalen Folgen des Smoot Hawley Tariff Acts (US-Zölle damals im Schnitt bei 20%) in den 1920er Jahren eine schwere, globale Wirtschaftskrise auslösen. Trumps Steuersenkungs- und inländische Konjunkturprogramme würden zumindest wohl die US-Binnenkonjunktur befeuern und unter stark steigenden Zinsen und Inflationsraten hohe nominale Wachstumsraten generieren. Trumps Programm würde netto vermutlich Aktien-positiv wirken. Resilienter gegenüber einer stark protektionistischen Ära als Europa dürften sich einige Schwellenländer (BRICS+) zeigen: Ihre bereits erfolgte (bzw. durch Sanktionen erzwungene) Emanzipation von US-zentrischen Überlegungen und stärkerer Handel untereinander hat eine geringere Verwundbarkeit zur Folge.

Sollte Kamala Harris ihre Ideen aus dem Preiskontroll-Gruselkabinett tatsächlich zur Umsetzung bringen, drohen auf Basis historischer Erfahrungen schwere Wirtschaftsstörungen, denen vermutlich mit weiteren interventionistischen Markteingriffen begegnet würde. Die Programme beider Kandidaten weisen beunruhigende Ankündigungen auf. Anleger können auf das Funktionieren der Checks und Balances der US-Institutionen hoffen und als vielleicht bestmögliche Option darauf, dass die Mehrheit in beiden Parlamentskammern nicht an die Partei geht, die den Präsidenten stellt. 

Draghi empfiehlt alten Wein in neuen Schläuchen – korrekte Diagnose, fragwürdige Medizin 

Der frühere EZB-Präsident Mario Draghi hat im September einen vielbeachteten Bericht zur Wettbewerbsfähigkeit der EU vorgelegt. Die EU sieht er "existenziell bedroht". Seine Analyse ist eine erfreulich ehrliche Aufarbeitung und treffende Diagnose der vielfältigen europäischen Strukturschwächen. Draghi verweist auf das gegenüber Asien und den USA schwache Wachstum, konstatiert korrekt die geringe Produktivität, bemängelt, dass Europa den Anschluss an technologische Entwicklungen verloren hat und vermerkt ungünstige Entwicklungen in Außenhandel und Energieversorgung. Die Zustandsbeschreibung des Draghi-Reports ist umfassend korrekt. 

Zur Lösung empfiehlt er aber überraschenderweise mehr von ausgerechnet jenen Rezepten, die über die letzten Jahrzehnte genau diesen Zustand herbeigeführt haben: Mehr EU, mehr Befugnisse für Brüsseler Bürokraten, mehr fremdfinanzierte "Investitionen" (in Höhe von mindestens 800 Mrd. Euro) und – wer hätte es gedacht – die Aufnahme von Gemeinschaftsschulden. Es fällt schwer sich des Verdachts zu erwehren, dass gerade diese Forderung möglicherweise die zuvor festgelegte und gewünschte Schlussfolgerung der Analyse gewesen sein könnte. In schöner Regelmäßigkeit tauchen in Brüssel, Rom und Paris ungezählte Berichte, Studien, Gutachten und Expertisen auf, die unter unterschiedlichem Untersuchungsgegenstand und unter immer neuem Label doch immer genau zur gleichen Schlussfolgerung kommen: Europa könne nur überleben, wenn endlich Eurobonds unter dem Schirm der deutschen Kreditwürdigkeit eingeführt würden. Zuerst wurde für diesen Schluss der Notstand der Eurokrise bemüht. Nachdem die stabilitätsorientierten Kernstaaten der Eurozone diese Begehrlichkeiten abwenden konnten, war es in der Folge dann mal das Klima, mal Putin, mal die Pandemiebekämpfung, jetzt die existenziell bedrohte Wettbewerbsfähigkeit, die für die Forderung nach der Schuldenvergemeinschaftung herhalten musste. Es ist alter Wein in immer neuen Schläuchen, der den Blick auf eigentlich nötige Lösungen verstellt. Die Forderung blendet auch die Tatsache aus, dass Deutschland inzwischen gar nicht mehr über die nötige Leistungsfähigkeit verfügt, um dauerhaft andere Länder alimentieren zu können. 

Der Glaube an Dirigismus und planwirtschaftliche Industriepolitik scheint in Europa ein tiefverankerter Reflex. Offenkundig besteht wenig Erkenntnisfähigkeit darüber, dass die über Jahrzehnte praktizierten Rezepte von Staatswirtschaft und Interventionismus die Misere erst verursacht haben. Würden die Rezepte von mehr Zentralisierung, mehr EU-Bürokratie und höheren Staatsdefiziten funktionieren, wäre Europa heute ein prosperierender Kontinent. 

Gerade weil Draghis Bericht an vielen Stellen schonungslos ist und erfreulichen Realitätsbezug erkennen lässt, schmerzt es, dass er die Gelegenheit verpasst, erfolgversprechendere Empfehlungen auszusprechen. Ein wichtiger Ausgangspunkt dafür wäre, anzuerkennen, dass die Brüsseler Zentralplanung nicht über die nötigen Informationen verfügen kann, um die Gewinner an den Märkten von morgen zu kennen (nicht bei Energiefragen und auch nicht in anderen Bereichen). Dass der Entdeckungsprozess der freien Märkte zugelassen werden muss, um das volle Spektrum von Fortschritt und Innovation erschließen zu können. Dass es keiner Erziehungsanstalt bedarf, die das Leben der Menschen und Handeln der Unternehmen aus Brüssel heraus umfänglich zu administrieren sucht.

Unabdingbar für künftig größere wirtschaftliche Erfolge in Europa wäre auch eine Hinwendung zu einer tatsächlich gewollten offenen Handelspolitik, ohne dass möglichen Handelspartnern zuvor umfangreiche Kataloge ideologischer Vorbedingungen vorgelegt werden. Viele Staaten in Asien und Lateinamerika verlieren zunehmend das Interesse an Handels- und Wirtschaftsbeziehungen mit Europa, weil sie nicht zur Compliance mit aus ihrer Sicht prohibitiven Auflagen und Berichtspflichten bereit sind. Viele dieser Staaten, mit denen über Jahre der Abschluss von Freihandelsabkommen verschleppt, verzögert oder versäumt wurde, wenden sich in der Konsequenz nun stärker China zu. 

Draghi regt das Überdenken der Dekarbonierungsstrategien an. Sehr lange Zeit hat Europa einseitig alles auf eine Karte der "grünen Transformation" und dabei auf reine Hoffnungswerte gesetzt. Der bisherige Erfolgsausweis dieser Strategie ist bei objektiver Betrachtung überschaubar. So klassifiziert Draghi die Dekarbonisierung zwar weiter als "wahrscheinliche Wachstumschance", mahnt aber auch vor der Gefahr, dass sie "der Wettbewerbsfähigkeit und dem Wachstum zuwiderläuft". Er trifft die erfreulich realistische Einschätzung, dass Europa "nicht gleichzeitig führend bei neuen Technologien, ein Leuchtturm der Klimaverantwortung und unabhängiger Akteur auf der Weltbühne" sein könne. Man werde das Sozialmodell nicht finanzieren können und einige, wenn nicht sogar alle Ambitionen zurückstecken müssen. 

Ebenfalls ermutigend ist, dass der Draghi-Bericht das Thema Bürokratie korrekt als Wachstumshindernis identifiziert und Vorschläge zum Abbau von Bürokratielasten für KMUs unterbreitet. Allerdings will Draghi für die Reduzierung von Berichtspflichten und anderen Auflagen zunächst extra einen Kommissar installieren. Das erinnert an 2007, als sich der frühere bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber unter eindrucksvollen Ankündigungsleuchtfeuern aufmachte, als Sonderbeauftragter für Bürokratieabbau in Brüssel die EU-Verwaltung auf schlanken Kurs zu bringen. Besonders einprägsame Erfolge dieses Projekts sind uns nicht bekannt. 

In die wohl wichtigste Wunde legt der Bericht – auch dieses Bemühen muss positiv vermerkt werden – den Finger mit der Kritik an Europas Nichtteilnahme an den Wachstumstreibern in den Bereichen Technologie und Digitalisierung. "Europa hat die durch das Internet ausgelöste digitale Revolution und die damit verbundenen Produktivitätsgewinne weitgehend verpasst", heißt es zutreffend. Nur vier der fünfzig größten Technologieunternehmen der Welt seien in Europa beheimatet. 

"America innovates, China replicates, Europe regulates."

Greg Ip, Wall Street Journal, 31.01.2024

Darin liegt ein wahres Dilemma. Gelingt es Europa nicht zügig, den Anschluss an die technologische Höhe der Zeit wiederherzustellen, wird es mehr und mehr zum Museum und gewiss nicht zum Hort von Wachstum, Innovation und den digitalen Geschäftsmodellen der Zukunft. Mit noch mehr Industriepolitik und Planwirtschaft wird in Europa aber gesichert kein Tech-Eldorado entstehen. Der Plan als Gegenteil des Entdeckungsverfahrens freier Märkte kann Ergebnisse nicht zuverlässig voraussagen, die Vorfestlegungen des Plans bedeuten immer auch einen bewussten Verzicht auf bessere, weitere Informationen, aus denen mehr Innovation und optimaleren Lösungen entstehen können. 

Es erstaunt, dass auch die nachwirkenden Schäden der stark interventionistischen Geldpolitik unter Draghis Führung der EZB offenkundig kaum dazu beitragen, Erkenntnisgewinne darüber zu Tage zu fördern, was im Interesse der Stärkung Europas künftig zu tun und was besser zu unterlassen wäre. So bleibt als bedauerliches Fazit des Berichts: Sämtliche Zustandsbeschreibung sind richtig, der Bericht als solcher wird aber leider nicht zum Weckruf und Appell für eine überfällige Kurskorrektur und ist damit eine vertane Chance. Die ihm zufallende Aufmerksamkeit wäre geeignet gewesen, in Europa eine konstruktive Debatte über eine grundlegende Richtungsänderung anzustoßen. So aber ähneln die vorgeschlagenen Rezepte zu stark jenen, die über die letzten Jahrzehnte bereits Anwendung gefunden haben und eine nicht gerade berauschende Erfolgsbilanz ausweisen können.

Wiedererlangung der Wettbewerbsfähigkeit lautet das Gebot der Stunde

Im Kern des europäischen Dilemmas steht – wie Draghi korrekt identifiziert hat - die mangelnde Wettbewerbsfähigkeit gegenüber anderen Regionen der Welt. Deren wahre Ursachen sind allesamt selbstverursacht und lange bekannt: Überregulierung, Bürokratie, selbstschädigende Energiepolitik, fehlende Leistungs- und Anreizsysteme, zu hohe Steuern und Abgaben, zu viel Staat und zu wenig Markt. 

Wir haben an dieser Stelle in vergangenen Marktkommentaren wiederholt auf die entsprechenden Mängel hingewiesen und Unterschiede im wirtschaftlichen Erfolg verschiedener Länder untersucht. Die sehr viel besseren Ergebnisse, welche etwa die Schweiz im Vergleich zu Deutschland und den meisten EU-Ländern erzielt (bei vergleichbaren Ausgangsbedingungen) hatten wir u.a. auf folgende Aspekte zusammengefasst: dezentrale und marktwirtschaftliche Rahmenbedingungen, Erhalt und Entwicklung der Innovationsfähigkeit, positive Zuwanderungsdemographie, unternehmensfreundliche Standortbedingungen, hohe institutionelle Qualität, direkte Demokratie als Korrektiv zu marktfeindlichen, ideologischen Projekten. Ferner hatten wir nachgewiesen, dass die Eidgenossen sehr viel stärker eine an der Geldwertstabilität orientierte Politik verfolgen, sodass die Inflationssteuer in sehr viel geringerem Maße auf Wirtschaft und Verbrauchern lastet als in Regionen mit hoher, kontinuierlicher Geldmengenausweitung. 

Abb. 05: Industrieproduktion in Deutschland hinter USA, Schweiz und GriechenlandAbb. 05: Industrieproduktion in Deutschland hinter USA, Schweiz und Griechenland

Doch auch zu den Vereinigten Staaten vergrößert sich die Wettbewerbsfähigkeitslücke. Über weite Strecken der vergangenen Jahrzehnte waren Europa und die USA wirtschaftlich durchaus auf Augenhöhe. Über die letzten Jahre verliert Europa zunehmend den Anschluss; Wachstum und Produktion in den USA enteilen den jeweiligen Werten des alten Kontinents. Anders als der Schweiz, können wir den Amerikanern keine Zurückhaltung in der Geldschöpfung attestieren. Das Staatsdefizit gleicht sich den unrühmlichen Spitzenwerten südlicher Euroländer an und die notenbankfinanzierte Geldmengenausweitung lag über weite Strecken oberhalb jener der EZB. Ein wesentlicher Unterschied liegt in der Verwendung: Den Vereinigten Staaten gelingt zumindest eine intelligente Stärkung der eigenen Wirtschaftsbasis, indem sie in den Standort investieren. In Europa werden neugeschaffene Geldmenge und steigende Verschuldung hingegen nahezu vollständig konsumiert. 

Schuldenfinanzierter (und dabei hochgradig generationenungerechter) Konsum, primär für Umverteilung und Sozialausgaben (zuletzt auch für Aufrüstung, Ukraine) bei gleichzeitig stagnierenden oder gar rückläufigen Einkommen ist gewiss kein Erfolgsrezept dafür, wieder Anschluss an Prosperität und an die dafür nötigen Wachstumstreiber der Weltwirtschaft finden zu können. Ein vergleichbares Verhalten einer Privatperson würde unweigerlich in die Privatinsolvenz führen. Das traditionelle europäische Wohlfahrts- und Sozialstaatsmodell wirkt in Anbetracht der Verschiebung globaler Wachstumsdynamiken aus der Zeit gefallen und ist es faktisch auch: Schon lange sind seine Aufwendungen nicht mehr aus realer Wertschöpfung gegenfinanziert, schon lange ist der nötige demographische Kontrakt gebrochen. So lange aber eine Ausweitung der Schulden (befördert durch niedrige Zinsen) weiter möglich war und ist, fiel und fällt es den Verantwortungsträgern leicht, in politisch opportuner Weiter-Verteilung und in der Selbsttäuschung unendlich weiter bestehender Verteilungsspielräume zu verharren. Dass jede Verteilungsmasse zunächst erwirtschaftet werden muss, bleibt meist ausgeblendet, solange sich die unangenehmen Folgen des Substanzverzehrs zumindest für die Dauer von Amts- und Mandatszeiten maskieren lassen. 

Substanzverzehr findet immer dann statt, wenn Erträge aus realwirtschaftlichem Erfolg nicht mehr reinvestiert werden. Verschiebt sich die Verwendung der hohen Steuer- und Abgabelasten immer weiter von Reinvestitionen in Bildung, Infrastruktur, Forschung und Entwicklung hin zu konsumtiven Sozialausgaben, steht im Ergebnis die realwirtschaftliche Lähmung, die heute in Europa allerorten protokolliert werden kann. Das Siechtum wird sich fortsetzen, solange keine Reformbereitschaft erkennbar wird. Voraussetzung für dringlich erforderliche Strukturreformen, für die Wiederherstellung globaler Wettbewerbsfähigkeit und für eine wirksame Behandlung der europäischen Krankheitssymptome wäre jedoch zunächst eine korrekte Diagnose. Unabdingbare Elemente der Diagnostik wären die Erkenntnissammlung über sämtliche selbstverursachte Krisenauslöser und -beschleuniger sowie die Bereitschaft, strategische europäische Eigeninteressen zu verfolgen, durchzusetzen und im Beginn zumindest einmal zu formulieren. 

Luftschlösser treffen auf Lebenswirklichkeit

Entsprechende Versuche, in Europa die Selbstheilungskräfte zu aktivieren, sind aber derzeit nicht ausgeprägt erkennbar. Speziell in Deutschland verdüstert sich die Lage und die Stimmung immer weiter. Für den Prognosehorizont erwarten Wirtschaftsforscher und Volkswirte kaum noch Wachstum. Auch hier sind die Ursachen hinlänglich bekannt und wurden auch von uns in vielen vergangenen Berichten beleuchtet. So ist die Dokumentation des Abstiegs der deutschen Wirtschaft, der sich nun täglich in den Schlagzeilen nachlesen lässt, erwartbare Folge der Fehlsteuerungen der letzten zwanzig Jahre. Vielfach mühen sich die heute politisch Verantwortlichen, die Wirtschaftsschwäche als bloße zyklische Erscheinung zu verniedlichen, statt den strukturellen Charakter des Niedergangs anzuerkennen. Gleichsam fällt es leichter, Mahner und "Boten" zu diskreditieren, als Fehler einzuräumen und sich um eine (freilich Kraftanstrengung erfordernde) Kurskorrektur zu bemühen. 

Die nun fast täglichen Schreckensmeldungen über Geschäftsaufgaben, Export- und Produktionseinbruch, Arbeitsplatzabbau, Produktionsverlagerung, Werksschließungen und Insolvenzen kommen vorrangig und gehäuft aus dem industriellen Sektor. Keine Randnotiz, sondern besonders fatal, denn die Wertschöpfung im verarbeitenden Gewerbe steht in Deutschland für mehr als 20% der Wirtschaftsleistung, ein deutlich höherer Anteil als in den meisten europäischen Ländern und in den USA. Hier geht es um nichts weniger als das Geschäftsmodell an sich. Wenn sich einstige Weltmarkt- und Innovationsführer in Chemie, Maschinenbau, Elektrotechnik und Automobilindustrie vom Standort abwenden, brechen in der Folge ganze Cluster hochspezialisierter Zulieferer zusammen. Es kann als Gewissheit gelten, dass die Folgen dieser leichtfertig verspielten Standortbedingungen mit Zeitverzögerung auch am Arbeitsmarkt ankommen und als eine Konsequenz die angespannten Sozialsysteme be- oder gar überlasten werden.

Investmentimplikationen: Die Take-aways dieser Überlegungen für die Anlage sind dreierlei. 

  1. Auf der Aktienseite kommen immer wieder Fragen der regionalen Allokation in den Blick. Wie in der Vergangenheit diskutiert, sind die Abwägungen dabei oft weniger eindeutig als vermutet. Intuitiv spricht viel für eine Vermeidungsstrategie gegenüber in strukturell angeschlagenen Regionen beheimateten Unternehmen. Die trotz aller Widrigkeiten robuste Performance des Deutschen Aktienindex zeigt aber die Risiken von zu stark vereinfachten Rückschlüssen auf. Hingegen bestätigt die über die letzten Jahre schwache Entwicklung von SDAX und MDAX die Strukturkrise vieler inländisch orientierter Geschäftsmodelle. In der Aktienanalyse und -selektion muss mit der nötigen Differenzierung vorgegangen werden. Global diversifizierte Umsätze und Ertragsanteile sind Europa-exponierten Unternehmen vorzuziehen. Die globalen Geschäftsanteile vieler Dax-Konzerne und die daraus erwachsende Unabhängigkeit von heimischen Standortnachteilen ist in der Kursentwicklung vieler Aktiengesellschaften zuletzt gut nachgewiesen. 
  2. Es finden sich auch in Europa kaum Beispiele, in denen sich vermeintliche Gewinner von Industriepolitik und forcierten "Transformationen" für Aktienanleger in profitable Investitionen übersetzen. In allen Fällen, in denen bestimmte Lenkungswirkungen gegen natürliche Marktgegebenheiten erzwungen werden sollen, stehen im Ergebnis nach einigen Jahren desaströse Ergebnisse für die Anleger. Gerade Sektoren, deren Entwicklung mit besonders wohlwollender staatlicher Förderung durchgesetzt werden sollte, weisen vielfach erschreckende Kursentwicklungen bis hin zu Totalverlusten auf (vgl. u.a. Aktienkursentwicklungen in Geschäftsfeldern wie Erneuerbaren Energien, Batterien, Wasserstoff, Recycling, "Ladestationen", "grüner Stahl", "energetische Sanierung", usw.). Wohlweislich haben wir derartige Themeninvestments stets gemieden. Sorgfältige Analysen dieser besonders in den "Casinojahren" 2020-21 populären Themen offenbarten deren stark spekulativen Charakter. Anleger, die zwischen Investition und Spekulation zu differenzieren wissen und auf eine Sicherheitsmarge bestehen, mussten entsprechende Ideen aus Bewertungs- und Qualitätserwägungen heraus klar verwerfen. Grundsätzlich steht die Investitionseignung marktferner und auf fortgesetzte Staatsnähe angewiesene Geschäftsmodelle in Frage. Gepaart mit Überinvestitionen und Überkapazitäten sind unrealistische, durch reine Hoffnungswerte verzerrte Erwartungen an Markt-, Absatz- und Kommerzialisierungspotentiale oft verlässlicher Vorbote für die nachfolgende Underperformance von Unternehmen, die sich in eben jenen undankbaren Marktsegmenten bewegen, in denen das Agieren besonders schwerfällt, weil durch staatliche Fehllenkung Informationsgüte und verlässliche Preissignale des Marktes außer Kraft gesetzt sind. [Die ganz grundsätzliche Unmöglichkeit der Wirtschaftsrechnung unter sozialistischer Planung und unter Abwesenheit von Marktpreisen hat Ludwig von Mises bereits 1920 in "Die Wirtschaftsrechnung im sozialistischen Gemeinwesen" nachgewiesen]
  3. Auf Rentenseite gefährden die gezeigten Konjunktur- und Strukturrisiken der Eurozone selbstverständlich die Bonität der Staaten. Ausgehend von ohnehin schon hohen Defiziten und Verschuldungsquoten besteht für die meisten Mitgliedsstaaten wenig oder kein Spielraum für zyklische Mehrbelastungen der Sozialkassen und/oder Mindereinnahmen aus wegbrechendem Steueraufkommen. Die fragilen französischen Staatsfinanzen senden schon heute Warnsignale. Der Risikoaufschlag für 10-jährige Frankreich-Anleihen stieg in den letzten Tagen erstmalig über das Niveau laufzeitgleicher Spreads spanischer Staatsanleihen. Wie schnell sich Verschlechterungen der Kreditwürdigkeit im Zuge steigender Haushaltsüberdehnungen manifestieren können, verdeutlicht sich aktuell in Israel. Seit Oktober 2023 reduzierten die Ratingagenturen mehrfach das Länderrating, die Refinanzierung verteuerte sich erheblich. Grundsätzlich bedarf es nicht viel Fantasie, um zu erkennen, dass mittelfristig die Notenbanken den Staaten wieder stärker unter die Arme greifen werden müssen. Entsprechende Risiken der Monetarisierung, Inflationierung und finanzieller Repression sind allesamt rentennegativ. Das resultierende Signal für die relative Gewichtung der Anlageklasse am Gesamtvermögen ist recht klar. Innerhalb des Rentenportfolios gilt es bessere Kreditqualitäten zu bevorzugen und Staatsanleihen von Ländern mit bereits heute überdehnten Bilanzen und überforderten Sozialsystemen zu meiden. Unverändert sehen wir in inflationsindexierten Anleihen für Investoren günstiger verteilte Risikoprofile als in nominalen Anleihen. 

Für Deutschland führt der Weg aus dem Krisenstrudel über einen langen Aufgabenkatalog, dessen Bestandteile bekannt und umfänglich beschrieben sind. Um Wiederholungen zu vermeiden, sollen hier als Stichworte genügen:

  • Wiederherstellung der Wettbewerbsfähigkeit
  • Steuer- und Abgabenlast (Beispiel: Anteil der Steuer- und Sozialabgaben an den Gesamtarbeitskosten in den USA bei 19,8%, in Deutschland bei 32,9%)
  • Bürokratie und Regulierung 
  • Ausweg aus dem Energiedesaster (Beispiel: Strompreise in den USA nach Statista: 16 cent/kwh, Deutschland 40 cent/kwh; jeweils in USD)
  • Teilnahme an Zukunftstechnologien 
  • Bildung (Beispiel: OECD Bildungsindex USA: Rang 8, Trend positiv; Deutschland Rang 18, Trend negativ)
  • Infrastruktur (der Brückeneinsturz in Dresden ist selbstverständlich sinnbildlich für falsch gesetzte Prioritäten; neben intakten Brücken, Schienen, Straßen, Glasfaser- und Mobilfunkverbindungen zählt zur Infrastruktur auch die Wiederherstellung der Sicherheit im öffentlichen Raum)
  • Rückkehr zu den Prinzipien freier Märkte, Vertragsfreiheit, Zulassen unternehmerischer Initiative

Ob dieser Weg der Umkehr beschritten wird, hängt stark von der Frage ab, ob die Bereitschaft zur Rückverankerung in der Realität gegeben ist. Die letzten beiden Jahrzehnte schienen in Deutschland und Europa immer stärker davon geprägt, mit Ge- und Verboten, Subventionen, Regulierung und anderen staatlichen Maßnahmen die Realitäten in die eigenen Denkmuster zwingen zu wollen. Besonders die hohen Folgekosten der Energieplanwirtschaft und die einsetzende Deindustrialisierung beginnen nun, die Gestaltungs- und Verteilungsspielräume in anderen Feldern (Stichwort Sozialsysteme) sichtbar zu begrenzen. Die normative Kraft des Faktischen führt in ersten Aspekten (wie Asyl, Migration) inzwischen zu einem ersten zaghaften Umdenken. In der Lebensrealität geankertes Umdenken wird auf vielen weiteren Feldern folgen müssen.  

"Wir sind umzingelt von Wirklichkeit."

Robert Habeck, Bundeswirtschaftsminister

Die Schreckensmeldungen aus dem Volkswagen-Konzern, der erstmals in 87 Jahren Unternehmensgeschichte Produktionsstandorte schließen muss, sich zu massiven Kostensenkungsprogrammen gezwungen sieht und wohl nicht ohne Massenentlassungen auskommen wird, ist für Deutschland ein Fanal. Vielleicht kann die herausragende Bedeutung von VW dazu führen, dass eine ehrliche Ursachenanalyse der Schieflage zum gerade noch rechtzeitigen Weckruf für eine Kurskorrektur wird. Der Vorrang der Ideologie vor den Realitäten müsste dafür aber aufgegeben werden. Viele Irrwege der letzten zwanzig Jahre müssten verlassen, die naive Vorstellung, Deutschland könne sich als "Vorreiter" ohne Folgekosten in energiepolitische Abenteuer stürzen, beendet werden. Wie Prof. Hans-Werner Sinn kürzlich treffend zusammenfasste: "Deutschland richtet seine eigene Industrie zugrunde. Das werden andere Länder begrüßen, aber nicht kopieren". Die Loslösung von Utopien, physikalischen Unmöglichkeiten, Wunschdenken und Hinwendung zu Pragmatismus und Verantwortung wären also Wege aus den selbstverursachten Krisen.

Die dafür nötige gedankliche Offenheit und das Mindset der Aufgeschlossenheit scheinen aber leider keine Charaktermerkmale unserer Zeit. Solange das Nichtwahrhabenwollen der Realitäten, Symbolpolitik und das Einmauern in Wagenburgen der eigenen Überzeugungen dominante Primate bleiben, maximieren sich die Schäden weiter. Es gilt das alte Prinzip: Die Kosten eines nicht adressierten Problems steigen im Quadrat der Zeit, über die hinweg das Problem verschleppt wurde. 

Abb. 06: Erdgaspreis in den USA ist nach wie vor deutlich niedriger als in EuropaAbb. 06: Erdgaspreis in den USA ist nach wie vor deutlich niedriger als in Europa

Noch wird die Abwanderung der Industrie in Deutschland von Teilen der Politik und Wissenschaft billigend in Kauf genommen oder gar begrüßt ("Degrowth"-Mentalität). Noch besteht die Zielvorgabe, dass der Energieverbrauch eines Industrielandes bis 2045 drastisch gesenkt werden müsse, statt in tragfähige Konzepte der Ausweitung verfügbarer und günstiger Energie zu investieren. Noch wähnt sich das Land in dem Luxus, auf Leistungsprinzipien verzichten zu können. Noch besteht die Vorstellung, mit Lieferkettengesetzen, Flottenzielen und Berichtspflichten würden keine wohlstandsmindernden Lasten einhergehen. Noch geben sich zu viele der Illusion hin, dass auch ein Zeitalter der Abschottung den Wohlstand vergangener Offenheit erhalten könne – gerade der vielbeschworene Wert der Weltoffenheit gilt plötzlich wenig, wenn Offenheit gegenüber den "falschen" Regionen der Welt gefragt ist. So besteht die Gefahr, dass viele Schäden irreversibel werden, bevor das nötige Umdenken einsetzt. Man ist frei die Realität zu ignorieren, stellte Ayn Rand einst fest, man könne aber nicht die Folgen der ignorierten Realität ignorieren. So ist zu hoffen, dass aus der Realitätsverweigerung herausgefunden werden kann, bevor sich die Schäden und Kosten fataler Fehleinschätzungen weiter maximieren. Wie werden wohl andernfalls einst die Geschichtsbücher über eine Epoche urteilen, in der Deutschlands Alleingänge den rasanten Abstieg von einer führenden und weltweit bewunderten Industrienation zum kranken Mann der Welt auslösten? 

"Hard times create strong men,
Strong men create good times,
Good times create weak men,
And weak men create hard times”


Michael Hopf

Viel gewonnen wäre, wenn es der Politik gelänge, sich im Spiel der freien Märkte auf ihre eigentliche Rolle des Schiedsrichters zurückzuziehen und sie künftig die Anmaßung unterlassen würde, gleichzeitig auch Spieler, Trainer, Rasenheizungsbeauftragter, Grassaatgutherkunftsberichterstattungsempfänger sein zu wollen, die Radwege vor dem Stadion zu planen und vorab die Spannbreite zulässiger Ergebnisse festzulegen. 

"We are at the end of a cycle. The collectivism and moral posturing of the woke agenda 
have collided with reality and no longer have credible solutions to offer 
to the actual problems of the world.” 


Javier Milei, Präsident Argentiniens vor der UN-Generalversammlung am 24.09.2024

Investmentimplikationen: "Mehr Hanse, weniger DDR" so könnte das Erfolgsrezept gegen Abschottung nach innen und außen lauten, für die Prinzipien von Offenheit, Freihandel, Innovation, Verständigung, Erfinder- und Kaufmannsgeist. Findet in den Märkten, in denen Anleger beheimatet sind, eine solche Umorientierung nicht statt, ist es legitim und notwendig, Anlagekapital auch in den Regionen der Welt arbeiten zu lassen, in denen diese Prinzipien höher geschätzt werden, oder in denen zumindest die Veränderungsrate in die richtige Richtung zeigt. Beispielsweise haben sich die Teilnehmer am asiatischen Freihandelsabkommen auf den Weg begeben, Handelsschranken zum gegenseitigen Nutzen aufzulösen und friedvolle Kooperation zu suchen. Der im Sommer abgehaltene China-Afrika Gipfel ist ein Hoffnungszeichen für große strategische Investitionslösungen bei Rohstoffen, Infrastruktur und Technologieinvestitionen, die getroffenen Vereinbarungen erscheinen für alle Beteiligten werthaltig. Europa steht dabei als Beobachter und mit mahnenden Zeigefingern an der Seitenlinie der Abschottung; die USA versuchen aktiv, China nächste Entwicklungsschritte auf dem Feld der Halbleitertechnologie vorzuenthalten. 

Südafrika ist mit der neuen Regierungskoalition aktuell ein positives Paradebeispiel dafür, wie schnell es gelingen kann, mit richtigen Weichenstellungen "Quick Wins" zu erzeugen und eine äußerst vielversprechende Investitionsdynamik zu erzeugen. In Argentinien steht der Beweis noch aus, ob das von Präsident Milei lancierte Reformprogramm die tiefe strukturelle Krise überwinden kann – die Aufgabe in dem südamerikanischen Land ist groß, muss es sich doch aus einem sehr tiefen, über Jahrzehnte gegrabenen Tal der Dauerkrise herausarbeiten (Im Rentenportfolio sind wir aktuell in südafrikanischen Anleihen, sowohl in Hart- wie auch in Lokalwährung engagiert, nicht aber in argentinischen Anleihen investiert.). In Europa zeigen Irland und Dänemark wie (trotz EU-Regulierung) unternehmerische Initiative intelligent aktiviert werden kann. Griechenland hat beeindruckend den Nachweis erbracht, dass Strukturreformen zwar mit Schmerzen einhergehen, aber eben entscheidende Erfolge in Standort- und Wettbewerbsbedingungen mit sich bringen. 

Deutschland verfügt über genügend Substanz und Kapitalstock, um eine erfolgreiche Rückankoppelung an die Realität zu bewerkstelligen und sich aus den verbliebenen Tagträumereien befreien zu können. Teile des aktuell verantwortlichen politischen Personals wirken hilflos und wenig krisenerprobt – faktisch kann man daraus kaum einen Vorwurf formulieren, entstammt es der Sozialisation nach einer wohlstandsverwöhnten Schönwetterperiode, in der Fehler verziehen wurden und großzügige Verteilungsspielräume vorhanden waren. Auch viele Wirtschaftsverbände und staatsnahe Unternehmen haben Fehlentwicklungen zu lange mitgetragen oder sich in Opportunismus geübt, statt Führung und Verantwortungsübernahme einzufordern (Eine Ursache dafür mag ebenfalls im "süßen Gift" der Subventionen begründet sein - die 40 Dax-Konzerne vereinnahmten 2023 insgesamt 10,7 Mrd. Euro an Subventionen). Den Preis dafür zahlen heute primär Mitarbeiter und Aktionäre der betroffenen Konzerne. Eine zügige Rücknahme der fatalen energiepolitischen Utopien und Abenteuer (deren Scheitern u.a. in den welthöchsten Strompreisen für Konsumenten und zugleich in über 300 Stunden p.a. negativer Strompreis erkennbar ist, in denen der Strom – analog zu Schrott – "entsorgt" werden muss) und Abschied von der Vorstellung, ein Industrieland vollständig mit Strom betreiben zu können, wäre dabei eine erste wichtige Kurskorrektur, auf die weitere Paradigmenwandel folgen müssten. 

Festzustellen ist aber auch: Aktuell wird an den Märkten sehr viel Deutschland-Risiko über einen Kamm geschoren. Dabei mangelt es häufig an der nötigen, gebotenen Differenzierung. In der Folge sind viele Aktien, auch jene mit weniger stark von Negativdynamiken betroffenen Geschäftsmodellen, zu Ausverkaufspreisen erhältlich. Viele mittelständische Aktiengesellschaften sind in Spitzen- und Nischentechnologien aktiv, deren Wettbewerbsvorteile sich auch unter ungünstigsten Bedingungen noch lange verteidigen lassen werden. Diese Resilienz ist derzeit in ausgewählten Fällen untergepreist. Sollte in Deutschland insgesamt eine Wende zu Innovationsfähigkeit und besseren Rahmenbedingungen gelingen, schlummert in einigen soliden Unternehmen auf dem aktuellen Bewertungsniveau eine kostenfreie innenliegende Option, die rasch "ins Geld" kommen kann, wenn sich der Optionshebel aktiviert. 

Marktausblick: Anleger hoffen auf weitere Zinssenkungen

Dem Mini-Crash von Anfang August folgten bislang keine Nachbeben. Die Stimmung an den Märkten war im Gegenteil zuletzt kaum von Nervosität, sondern vielmehr von viel Optimismus gekennzeichnet. Beflügelt vom eingeleiteten Zinssenkungszyklus hoffen viele Anleger bereits auf die traditionelle Jahresendrally. Tatsächlich stehen die geldpolitischen Signale nun auf grün und stützen - ceteris paribus - direktional die Kapitalmärkte. Bis zum Jahresende erwarteten Marktteilnehmer eine weitere Absenkung des Zinsniveaus in den Vereinigten Staaten auf dann 4%, der Einlagenzins der EZB wird bei 3% gesehen. Diese Zinsschritte können die Kurse sicherlich kurzfristig beflügeln und für einige weitere Monate mit starker Rentenperformance sorgen. Eine sorgfältige Analyse verkennt aber nicht, was Zinssenkungen – vor allem in Europa - nicht leisten können: Sie adressieren nicht die Strukturprobleme, Staatseingriffe, Regulierungsbürden. Sie sorgen nicht für neue Freihandelsabkommen und lösen für sich keine Investitionen der Unternehmen aus, wenn diese keine positiven Kapitalrenditen erwarten können. 

Abb. 07: Die Konjunkturindikatoren für Deutschland sind zuletzt nochmal weiter eingebrochenAbb. 07: Die Konjunkturindikatoren für Deutschland sind zuletzt nochmal weiter eingebrochen

Die düstere Datenlage in Europa ist bekannt. Die Lagebeurteilung des ZEW-Index fiel zuletzt in etwa auf die Tiefs der Coronakrise. Der Ifo-Index bestätigt die schwer angeschlagene Wirtschaftslage und hat nach zwischenzeitlicher Aufhellung wieder eine Trendwende in Richtung Rezessionsterrain vollzogen. Der deutsche Industrie-Einkaufsmanagerindex zeigt desolate Werte und signalisiert seit Mitte 2022 mit Werten unterhalb der Expansionsschwelle, also seit nunmehr zweieinhalb Jahren, eine tiefe Industrierezession. Auch in den USA korrespondieren viele Datenpunkte mit einem bevorstehenden zyklischen Abschwung. Der oftmals verlässliche ISM-Index und seine Komponenten deuten auf eine rückläufige Wirtschaftsleistung. Auch der Ausblick kleiner und mittelständischer Unternehmen (NFIB-Umfrage) bleibt getrübt. Die Abkühlung am Arbeitsmarkt ist spürbar. Nach 26 Monaten endete die Zinskurveninversion – die Renditen 10-jähriger Anleihen liegen nun wieder oberhalb der 2-jährigen Zinsen. Diese Phase der Versteilerung – ausgehend deutlich fallender Zinsen am kurzen Ende der Zinskurve – trat historisch häufig zu Beginn oder inmitten einer Rezession auf. Zugleich sind die Inflationsraten rückläufig. Die schwächere Wirtschaftsdynamik sollte für weiter nachlassenden Preisdruck sorgen, wie auch für moderateres Lohnwachstum. Von Öl- und Energiepreisen geht aktuell ein stark disinflationärer Impuls aus. Einige Energiepreise liegen derzeit 20 bis 30% unterhalb ihrer Vorjahresniveaus. 

Investmentimplikationen: Das Umfeld rückläufiger Konjunktur- und Inflationserwartungen bietet für Anleihen kurzfristig optimale Bedingungen. Gepaart mit erhöhten Risiken aus geopolitischen Risiken und dem Zinssenkungskurs der Notenbanken stehen uns möglicherweise performancestarke Rentenmonate bevor. Fallende Zinsen und steigende Anleihekurse bieten dabei mögliche Ausstiegsgelegenheiten für Anleger, denen die mittel- und langfristigen Aussichten für Zinsrisiken nicht behagen. Weder Laufzeitprämien noch Kreditrisikoprämien sind aktuell üppig, Anlegern entgehen daher in den meisten Segmenten auch keine unwiederbringlichen Chancen. 

Besonders aber die überstrapazierten öffentlichen Haushalte in der westlichen Hemisphäre, weitere Eventualverbindlichkeiten aus stark steigenden Sozialausgaben im Rezessionsfall, die Risiken neuer "Green Deals" (vgl. Draghi-Plan), hohe Rüstungsausgaben und das generell erhöhte Inflationsrisiko aus dem starken Inflationsanreiz der Staaten steht einem übermäßig positiven Ausblick für Renten entgegen. Die 2022 an den Anleihemärkten erlittenen Drawdowns sind anhaltende Mahnung. Tail-Risiken in Folge der US-Präsidentschaftswahl (Protektionismus, nochmalige Defizitausweitung, Vertrauenskrise) gilt es zusätzlich abzuwägen. Auch wir sind geneigt, in weitere Rallyes hinein Nominalzins-Exposure eher wieder zu reduzieren.  

Abb. 08: In zahlreichen Marktphasen zeigt sich ein hoher Gleichlauf zwischen S&P 500 und USD/JPYAbb. 08: In zahlreichen Marktphasen zeigt sich ein hoher Gleichlauf zwischen S&P 500 und USD/JPY

Für die kommenden Monate gilt es, die Zinssituation in Japan weiter im Blick zu halten: Das Zinsdifferential zwischen Japan und praktisch allen anderen wichtigen Währungsräumen der Welt engt sich vermutlich weiter ein. Aktuell sehr hoher Lohndruck und steigende Inflationsraten in Japan sprechen dafür, dass die Notenbank ihren Ankündigungen auch entsprechende Straffungstaten folgen lassen wird. Kapital fließt dann verstärkt aus Europa und Nordamerika ab, der Japanische Yen wertet auf. Lange war die japanische Währung stark negativ gegenüber beinahe allen Risikoanlagen korreliert, Marktstress ging oft einher mit einer Aufwertung des Yens. Diese Rolle hatte er über die letzten Jahre mit den extremen Niedrigzinsen und der Zinskurvenkontrolle verloren. Nun aber spricht vieles dafür, dass der Yen wieder als geeigneter Portfoliohedge für genau die ungemütlichen Marktphasen taugen könnte, in denen ausgelöst durch die Rückabwicklung der Carry Trades traditionelle Portfoliobausteine unter Druck geraten. Es gibt kaum verlässliche Daten über Höhe, Volumina und genaue Investitionsziele des Carry Trades, Fakt ist aber, dass die aufgebauten Positionen signifikant sind und immer wieder Marktvolatilität wie im August auslösen können. 

Investmentimplikationen: Anleger müssen im Zuge einer Straffung der japanischen Geldpolitik mit erhöhten Risiken von Kapitalabflüssen aus Carry-Trade Zielinvestments (Aktien, Renten, Währungen in Europa, Amerika und Schwellenländern) rechnen. Westliche Zielinvestments japanischer und Carry-Trade-Anleger werden in diesem Zuge mit höherer Schwankungsanfälligkeit risikoadjustiert unattraktiver. Der Wechselkurs des japanischen Yens ist ökonomisch faktisch die Gegenbuchung der Carry-Trade-Auflösungen. Er wertet auf, wenn Aktien und Anleiheninvestments in Euro, US-Dollar oder Schwellenlandwährungen aufgegeben und nach Japan repatriiert werden. Positionen im Yen könnten ein Portfolio als Beimischung in etwaigen Stress- und Schwächephasen entsprechend stabilisieren. 

Zuletzt war vermehrt zu beobachten, dass der Yen ebenfalls zu seiner früheren Rolle als Risk-off-Währung zurückfindet. Analog zum Schweizer Franken, fragen Anleger in Phasen der Unsicherheit an den Märkten nun auch wieder verstärkt Yen nach. Die Eignung als geopolitischer Hedge scheint uns aber begrenzt, hierfür erweist sich der Goldpreis wiederholt als geeigneteres Instrument. Eine wesentliche Eskalation der bestehenden geopolitischen Spannungen stellt ein weithin nicht diversifizierbares, nicht versicherbares Risiko dar. Auch dafür scheint am ehesten noch Gold als sinnvolle Sicherungsoption. 

Eine gewisse Skepsis gegenüber der aktuell doch recht optimistischen Grundstimmung an den Märkten ergibt sich für uns auch aus der Frage, wie lange eher getrübte Wirtschaftsdaten auf der einen, aber sehr zuversichtliche Gewinnerwartungen und folglich steigende Aktienkurse auf der anderen Seite sich realistisch noch weiter auseinanderentwickeln können. Auch Warren Buffet scheint nicht überzeugt: Sein Kassebestand ist historisch hoch, er hielt zuletzt mit 234 Mrd. US-Dollar mehr T-Bills als die US-Notenbank. 

"An investor has to do very few things right as long as he or she avoids big mistakes."

Warren Buffett, Berkshire Hathaway. 1992 

Autor
Bernhard Matthes, CFA | Bereichsleiter BKC Asset Management | Bank für Kirche und Caritas eG

Bernhard Matthes, CFA
Bereichsleiter BKC Asset Management
Bank für Kirche und Caritas eG

 

 

[ Bildquelle Titelbild: Generiert mit AI ]
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