Vor der HipHop-Bühne des Open-Air-Festivals Rheinkultur war die Stimmung aggressiv. Verschiedene Zwischenfälle, insbesondere körperliche Auseinandersetzungen zwischen rivalisierenden Jugendlichen, hatte es schon gegeben. Als dann aufgrund von Sicherheitsbedenken auch noch der Auftritt des nächsten HipHoppers (bezeichnender Weise mit dem Namen "Haftbefehl") abgesagt wurde, kochte die Stimmung über: Die Bühne wurde von zahlreichen randalierenden Jugendlichen gestürmt und das Equipment beschädigt. Eine auf Rollen gelagerte, riesige Beschallungsanlage wurde von der Bühne in die Zuschauer gestürzt – ein Wunder, dass es keine Schwerverletzten gab (eindrucksvolle Bilder auf YouTube unter "Rheinkultur Randale"). Erst durch den polizeilichen Einsatz von Pfefferspray und Diensthunden konnte die Lage befriedet werden.
Die polizeiliche Einsatzplanung
Bei ungeplanten Einsatzverläufen stellt sich aus polizeilicher Sicht immer die Frage, in wie weit die Fehlentwicklung nicht schon zum Zeitpunkt der Einsatzplanung hätte erkannt werden können oder sogar müssen. Denn der gesetzliche Auftrag zu Gefahrenabwehr und Strafverfolgung beinhaltet prinzipiell auch die Verpflichtung für die Polizei, den potenziellen Risiken für den Einsatzerfolg durch einsatztaktische Maßnahmen zu begegnen. In der Praxis bezieht sich die kritische Reflexion jedoch weitgehend auf die einsatzbezogenen Umstände und Entscheidungen, nicht auf die grundlegenden Fragen zur angewandten Methodik bei der Einsatzplanung.
Die polizeiliche Einsatzplanung ist als Prozessmodell angelegt, dem so genannten Planungsprozess und Entscheidungsprozess für den Einsatz (PEP). Zwischen der Informationssammlung und der letztendlichen Entscheidung für ein bestimmtes Vorgehen liegt die so genannte Beurteilung der Lage. Sie ist das Herzstück der polizeilichen Einsatzplanung. In der maßgeblichen Polizeidienstvorschrift (PDV) werden daher dezidierte Anforderungen an die Beurteilung der Lage beschrieben. Allerdings findet sich dort keine Vorgabe, mit welcher Methodik die Beurteilung der Lage durchzuführen ist. Das aktuell in der Polizei verbreitete Vorgehen weist jedoch Schwächen auf (fehlende Dokumentation, unklarer Umgang mit Wechselwirkungen, Kompatibilitätsdefizite etc.), so dass die Auseinandersetzung mit alternativen Ansätzen zur Durchführung einer polizeilichen Beurteilung der Lage geboten erscheint.
Da der Umgang mit (Einsatz-)Risiken im Zentrum der Planung steht, ist es wenig verwunderlich, bei der Auseinandersetzung mit methodischen Alternativen den Blick auch auf das breit gefächerte Feld des Risikomanagements zu werfen. Das betriebliche Risikomanagement und die polizeiliche Beurteilung der Lage haben gleichermaßen das Motiv, in differenzierter Form die Zusammenhänge zwischen Ursachen und Wirkungen zu identifizieren. Gerade dies ermöglicht eine Einflussnahme auf den (Einsatz-)Verlauf und letztlich das Ergebnis. Das jeweilige Ziel ist eine höhere Sicherheit. Trotz der thematischen Nähe zwischen Einsatzmanagement einerseits und Risikomanagement andererseits sind die Kenntnisse über die Methoden des Risikomanagements im Polizeibereich überraschend schwach ausgeprägt. Dies hat viele Ursachen und soll hier nicht weiter thematisiert werden.
Die Suche nach Alternativen
In einer Forschungsarbeit wurde daher untersucht, welche Methoden des Risikomanagement für die polizeiliche Einsatzplanung adaptiert werden könnten. Als vielversprechender Ansatz rückte die FMEA (Failure Mode and Effects Analysis, deutsch Fehlermöglichkeits- und -einflussanalyse) in den Mittelpunkt der Betrachtung. Aber warum ausgerechnet eine FMEA?
Als generelles Ziel der Methode gilt bekanntermaßen die Absicht, alle potenziellen Fehler im Vorfeld zu entdecken und die damit verbundenen Risiken richtig einzuschätzen. In der Folge sollen durch entsprechende Gegenmaßnahmen ein Schadenseintritt vermieden bzw. dessen Folgen gemindert werden. Wird der Begriff des Fehlers hier weit gefasst und synonym zu Schwachstelle, Mangel oder Gefahrenquelle gesetzt, lässt sich dies auch auf den polizeilichen Kontext übertragen. Als Hilfe bei der Einschätzung darf durchaus erwähnt werden, dass die Methode von namhaften Experten als universell einsetzbar beschrieben wird, die "eines Tages von […] sämtlichen präventiv denkenden Menschen aller Bereiche benutzt werden wird" [vgl. Werdich 2011].
Der Reiz des Einsatzes der FMEA speziell im Rahmen der Planung von polizeilichen Großeinsätzen besteht insbesondere darin, die Vielzahl von Risiken zu gewichten und gegeneinander abwägen zu können. Denn die bloße Identifikation von Risiken lässt keinen belastbaren Rückschluss auf die Kritikalität hinsichtlich des Einsatzerfolgs zu. Dieser Umstand würde bei unreflektierter Fortsetzung des Prozesses dazu führen, für jedes erdenkliche Einsatzrisiko Steuerungsmaßnahmen zu ergreifen. Im Ergebnis wäre die Polizeiorganisation schnell an ihrer Leistungsgrenze bzw. überfordert. Das Bewertungsergebnis im Rahmen der FMEA gibt dem Polizeiführer nun Aufschluss darüber, welche der identifizierten Risiken priorisiert zu bearbeiten sind. Ein weiterer Vorteil der FMEA ist die Möglichkeit, jedem erkannten Risiko individuelle Steuerungsmaßnahmen und Verantwortlichkeiten zuordnen zu können und anschließend eine Neubewertung des erkannten Einsatzrisikos durchzuführen. Dies fördert eine effektive und effiziente Einsatzvorbereitung. Kurzum: Die Verwendung der Methode drängt sich im Kontext polizeilicher Einsatzplanungen förmlich auf.
Das Anwendungsbeispiel
Aus diesem Grund wurde der Versuch unternommen, eine FMEA für einen polizeilichen Großeinsatz zu erstellen. In der Umsetzung könnte eine polizeiliche FMEA dann wie folgt aussehen. Der eingangs skizzierte Sachverhalt soll hier als Beispiel dienen.
Zunächst wurde eine Strukturanalyse erstellt. Als übergeordnetes Systemelement wurde die Open-Air-Veranstaltung benannt. Aus der Perspektive der Polizei war der Einsatzzweck, die Veranstaltung zu schützen und damit einen ungehinderten Verlauf zu gewährleisten. Würde dies aufgrund bestimmter "Fehler" nicht sichergestellt, hätte dies Auswirkungen auf der Folgenebene, hier auf die Open-Air-Veranstaltung. Ursächlich können natürlich verschiedene Elemente sein. Neben den Zuschauern, wie in Abb. 01 zu erkennen, selbstverständlich auch die Einsatzkräfte der Polizei. Hier wurde noch eine Differenzierung der Einsatzkräfte aus Sicht der Aufbauorganisation zur Einsatzbewältigung vorgenommen.
Des Weiteren wurde eine Funktionsanalyse erstellt (vgl. Abb. 02). Im Fokus steht hier beispielhaft die konkrete Funktion der Polizei, bei kritischen Bedingungen in die Veranstaltung einzugreifen. Dies kann durch unterschiedliche Maßnahmen erfolgen, wie sich anhand des Funktionsnetzes erkennen lässt. So spielt die Gefährdungsbeurteilung eine große Rolle dabei, kritische Bedingungen zu erkennen. Zur Gewährleistung einer fundierten Gefährdungsbeurteilung sind – beispielhaft aufgeführt – verschiedene Aufklärungsmaßnahmen am Veranstaltungsort, auf An- und Abreisewegen etc. durchzuführen.
Abb. 02: Funktionsanalyse
Von besonderem Interesse ist aus polizeilicher Sicht die Fehleranalyse (vgl. Abb. 03). Bei einem Open-Air-Festival muss – je nach Bühnenprogramm – von aggressivem, mitunter alkoholisiertem Publikum ausgegangen werden. Dass Zuschauer die Bühne stürmen könnten, spielt üblicher Weise in den Gefährdungsanalysen der Veranstalter keine Rolle. Angesichts der Erfahrungen vor der HipHop-Bühne des Open Air-Festivals Rheinkultur wurde der "Fehler" (polizeilich eher der "Verlauf") mit in die Fehleranalyse der FMEA aufgenommen und die Fehlerfolgen der entsprechenden Systemelemente benannt. Da die rechtzeitige Entdeckung des Fehlers/Verlaufs aber das polizeiliche Ziel ist, wurde eine entsprechende Funktion ("Gefährdungslage beurteilen") den Einsatzkräften der Polizei zugeschrieben. Identifiziert wurden anschließend Fehlerreaktionen, die beispielsweise eine Unterstützung des Security-Personals zur Folge haben könnte.
Abb. 03: Fehleranalyse
Auf dem zugehörigen FMEA-Formblatt wurden Maßnahmengruppen angelegt. In Abb. 04 ist lediglich ein kleiner Ausschnitt der ersten Analyseschritte wiedergegeben. Maßnahmen, die noch vor Beginn der Veranstaltung getroffen werden, wurden der Maßnahmengruppe "präventiv" und Maßnahmen während der Veranstaltung der Maßnahmengruppe "korrektiv" zugeordnet. So würde eine korrigierende Maßnahme je nach Aufklärungsergebnis unter Umständen die in der Funktionsanalyse benannte Bereitstellung von Eingreifkräften bedeuten.
Abb. 04: Maßnahmenübersicht (Ausschnitt Formblatt)
Fazit
Ob ein Bühnensturm, wie er im Open-Air-Festival Rheinkultur stattfand, durch eine Einsatzplanung mittels FMEA tatsächlich verhindert worden wäre, kann aus heutiger Sicht nicht mehr beantwortet werden. Sicher ist jedoch, dass die unterschiedlichsten, auch bis heute unwahrscheinlichen Verläufe auf systematische Art und Weise identifiziert, dokumentiert und im Entscheidungsprozess berücksichtigt werden können. Im polizeilichen Planungsprozess hätte dieses Szenario zumindest in Erwägung gezogen und über Vermeidungsmaßnahmen nachgedacht werden können.
Nicht ausgeblendet werden darf dabei aber, dass die Erstellung einer FMEA durchgängig als aufwendig beschrieben wird. Im polizeilichen Kontext spielt das eine große Rolle, da die FMEA nicht als Grundlage für die Fertigung tausender Produkte, sondern lediglich für die Durchführung eines (!) polizeilichen Einsatzes genutzt werden würde. Die Intensität des Methodeneinsatzes sollte daher in den Kontext von Komplexität und potenzieller Schadensbedeutung gesetzt werden. Ohnehin dürfte der Mehrwert hier vor allem in einem systematischen Wissensmanagement liegen, in dem Know-how über verlaufsbezogene Zusammenhänge und phänomenbezogene Risiken gesichert wird.
Autor:
Kriminaldirektor Stefan Kahl (MBA), Fachhochschule für öffentliche Verwaltung Nordrhein-Westfalen – Fachdisziplin Einsatzlehre
Weiterführende Informationen:
Werdich, M. (2011): FMEA - Einführung und Moderation: Durch systematische Entwicklung zur übersichtlichen Risikominimierung, Springer Fachmedien, Wiesbaden 2011, S. 193–195.