Kaum hatte der neue CEO John J. Ray III bei der insolventen Kryptobörse FTX übernommen, bezeichnete er die Situation als "beispiellos". Diese Einschätzung hat Gewicht, denn Ray übernahm bereits in der Vergangenheit das Steuer nach einem der größten Betrugsfälle der Welt (bis dato) – nämlich Enron. In der Financial Times klagte er an, dass sämtliche internen Kontrollen versagt hätten und keinerlei vertrauenswürdige Finanzinformationen vorlägen. Er bemängelte insbesondere eine "kompromittierte Systemintegrität" und eine zu hohe Machtkonzentration bei einer kleinen Gruppe "unerfahrener, unbedarfter und potenziell gefährdeter" Personen. Da wundert es umso mehr, dass historisch betrachtet weder Aufsehern noch Wirtschaftsprüfern aufgefallen ist, dass das FTX-Schiff ohne wirksames Risikomanagement oder ein internes Kontrollsystem in der stürmischen Kryptosee unterwegs war.
To the moon and back!
Wie zahlreiche große Betrugsfälle in der Vergangenheit eilte auch FTX lange Zeit von einem Rekord zum anderen und der Gründer, Sam Bankman-Fried, wurde als "Goldjunge der Kryptowelt" gefeiert. Passender wäre möglicherweise der Name "Scam Bankman Fraud", wie Stanford-Professor Martin Kulldorff auf Twitter vorschlug. Der Ex-CEO spricht von einer unglücklichen "Fehlkalkulation von Risiken und Hebelwirkung". Doch ein Blick hinter die Kulissen zeigt eher ein korruptes System mit ausgeprägter Risikoblindheit.
Der Zusammenbruch von FTX wiederum löste eine Kettenreaktion bei sämtlichen Kryptowerten und -börsen aus. So erklärte beispielsweise mit Genesis einer der marktführenden Kryptobroker, keine neuen Kredite mehr zu emittieren und die Rückzahlung bis auf Weiteres einzustellen. Zur Einordnung: Im Jahr 2021 vergab das Unternehmen über 130 Milliarden US-Dollar an Kryptokrediten.
Mit dem prestigeträchtigen Risikokapitalgeber Sequoia Capital und dem Vision Fund von Softbank-Chef Masayoshi Son schrieben namhafte Investoren ihre FTX-Anteile bereits vollständig ab. Auch der Staatsfonds des Stadtstaates Singapur erlitt einen Totalverlust von 275 Millionen US-Dollar.
Prominente Werbegesichter für FTX, wie Gisele Bündchen oder Tom Brady, könnten mit erheblichen Problemen belastet werden, wenn geprellte Käufer ihre geplante Sammelklage erfolgreich durchsetzen können. Denn der zuständige Rechtsanwalt der Kläger argumentiert, dass "ein solches Schneeballsystem nur mit der Hilfe und Werbung der berühmtesten und beliebtesten Prominenten der Welt Erfolg hat". Und keiner hatte relevante Frühwarnindikatoren ernst genommen.
Wenn aus Partnern erbitterte Konkurrenten werden
Die Kryptobörse Binance nimmt eine Schlüsselrolle beim Fall von FTX ein. Zunächst hatte Binance-Gründer Zhao Changpeng im Jahr 2019 noch in FTX investiert, doch die beiden Unternehmen entwickelten sich schnell wieder auseinander. Binance musste sich mit kritischen Regulatoren herumschlagen, während sich FTX und Bankman-Fried mit zahlreichen prominenten Geldgebern schmücken konnte – und die Regulatoren eher durch eine ausgeprägte Risikoblindheit auffielen. Das Unternehmen sicherte sich unter anderem für 19 Jahre die Namensrechte am Stadion der Miami Heat und engagierte mit Tom Brady den Star der Footballliga NFL als "Ambassador". Bankman-Fried galt als der aufstrebende Krypto-König. Changpeng und Binance beendeten ihr Investment in FTX und erhielten FTT-Token und Binance-USD im Gegenwert von rund zwei Milliarden US-Dollar.
Genau diese FTT-Token spielten beim Niedergang von FTX eine wichtige Rolle, denn Changpeng kündigte am 6. November 2022 auf Twitter an, seine Anteile aufgrund der "jüngsten Enthüllungen, die ans Licht kamen" verkaufen zu wollen. Dabei bezog er sich wohl auf einen Bericht von Coindesk vom 2. November 2022, in dem insbesondere das Verhältnis von Alameda Research und FTX heftig kritisiert wurde. So wurde beiden Häusern vorgeworfen, zu eng miteinander verwoben zu sein. Alameda verwaltet laut des Berichts Assets im Wert von 14,6 Mrd. US-Dollar, ein Großteil davon FTT-Token. Schnell wurde gemutmaßt, dass das Unternehmen nicht genügend Liquidität vorhalte und es sich beim Token lediglich um "heiße Luft" handele. Die Tokens wurden quasi aus dem Nichts erschaffen. Der Hedgefonds Alameda Research hatte an Sam Bankman-Fried einen Kredit von eine Mrd. US-Dollar vergeben. Und parallel erhielt auch Chefentwickler Nishad Singh einen Kredit in Höhe von 543 Mio. US-Dollar. Gleichzeitig soll Sam Bankman-Fried FTX-Gelder in Höhe von rund vier Mrd. US-Dollar an Alameda Research überwiesen haben. Diese Gelder sollen Kundeneinlagen gewesen sein, um die Risikotragfähigkeit von Alameda zu erhöhen bzw. das Unternehmen vor der Insolvenz zu retten.
Im Zusammenhang mit Alameda Research gibt es diversen "Gossip", von dem nicht abschließend bekannt ist, wie hoch der jeweilige Wahrheitsgehalt ist. Fakt ist, dass deren CEO Caroline Ellison immer wieder in den Mittelpunkt des Geschehens rückt. So wird von polyamoren Beziehungen berichtet und ihr eine Liaison mit Bankman-Fried nachgesagt. Zusammen mit acht weiteren Personen sollen beide bis kurz vor den Veröffentlichungen in einem 30 Millionen Dollar teuren Penthouse auf den Bahamas gelebt haben. Was wohl heute als bestätigt gilt: Sonderlich konservativ war die "Risikomanagerin" nicht – zumindest in Bezug auf den beruflichen Risikoappetit und das Fehlen elementarer Bestandteile eines guten Risikomanagements (hierzu später mehr!). In Interviews bestätigte die 28-Jährige zumindest den Verdacht, dass sie von einem wirksamen und quantitativen Risikomanagement nicht viel hält. Sie verwies darauf, dass die Grundrechenarten für das Management der FTX-Risiken völlig ausreichen würden. Dies ist umso erstaunlicher, da Caroline Ellison an der Stanford University Mathematik studiert hat. Von Ruth Ackerman, eine ihrer Dozentinnen, wurde sie als eine "schlaue, fokussierte, sehr mathematische Person" charakterisiert. Doch möglicherweise hat Ellison nie gelernt, dass ein wirksames Risikomanagement auf fundierten Methoden, einer adäquaten Organisation und einer gelebten Risikokultur basiert. Statt sich mit der Umsetzung eines wirksamen Risikomanagements zu beschäftigen, philosophierte sie auf Tumblr lieber über Geschlechterrollen, Kultur und Gesellschaft. In einer Akademikerfamilie aufgewachsen, war übrigens Gary Gensler, der jetzige Vorsitzende der US-Börsenaufsichtsbehörde, einmal der Vorgesetzte ihres Vaters, der am Massachusetts Institute of Technology (MIT) tätig war.
Wie auch der FTX-Gründer Bankman-Fried, kommt Ellison während ihrer Zeit in Stanford mit der philosophischen Bewegung des "effektiven Altruismus" (effective altruism) in Kontakt und wird Mitglied im "Stanford Effective Altruism Club". Bei der Bewegung wird das Ziel verfolgt, mit beschränkten Ressourcen Zeit und Geld optimal einzusetzen, um das Leben möglichst vieler empfindungsfähiger Wesen möglichst umfassend zu verbessern. Inwieweit mit der FTX-Pleite dieses Ziel unterstützt wurde, darf jeder Leser selbst beurteilen.
Wenn wir schon bei noch offenen Fragen sind: Der Coindesk-Bericht hinderte den Binance-CEO Changpeng zu Beginn nicht daran, FTX übernehmen zu wollen, was letztlich mit seinem Twitter-Statement aber endgültig passé sein dürfte. Bisher ist nicht bekannt, wer die Quelle der geleakten Informationen und Dokumente hinter dem Bericht ist und es kamen bereits Spekulationen auf, dass Changpeng bewusst seinen Hauptkonkurrenten aus dem Weg geräumt hat. Im Bloomberg-Milliardärs-Index wurde das Vermögen von Bankman-Fried innerhalb eines Tages von 16 Mrd. US-Dollar auf 991 Mio. US-Dollar korrigiert. Es gab deshalb bereits Berichte, die in Hollywood-Manier vom "perfekten Mord" von Changpeng Zhao an Bankman-Fried schrieben.
Luftschlösser noch und nöcher
Bei der letzten großen Finanzierungsrunde wurde FTX mit 32 Milliarden US-Dollar bewertet. Eine seriöse Buchprüfung fand dabei nicht statt…
Die bereits nach einer Woche von Ray aufgedeckten Unzulänglichkeiten lesen sich wie eine Mängelliste des Schreckens, die jeden Risikomanager in Schnappatmung versetzen:
- Viele der 130 Unternehmen der FTX-Gruppe, insbesondere die in Antigua und auf den Bahamas, verfügten nicht über eine angemessene Unternehmensführung und hatten auch noch nie eine Board-Sitzung abgehalten.
- Es gab erhebliche Verfahrensmängel bei der Kassenführung, unter anderem fehlten Listen der Bankkonten und der Zeichnungsberechtigten.
- Firmengelder wurden veruntreut, um Häuser und andere persönliche Gegenstände für Mitarbeiter und Berater zu kaufen.
- Ein Risikomanagement-System oder ein internes Kontrollsystem war – falls überhaupt – als Papiertiger existent.
Ruf nach schärferer Aufsicht
Fast schon reflexartig erfolgt nach jedem großen Betrugsfall der Ruf nach strengeren Regeln und Vorgaben. So machte sich die US-Finanzministerin Janet Yellen für eine schärfere Aufsicht der Kryptobranche stark. Doch niemand beschäftigt sich mit der Frage, warum die existierende Aufsicht und auch die Wirtschaftsprüfer komplett versagt haben. Und wie bei allen bisherigen Unternehmenspleiten beginnt das "Schwarze-Peter-Spiel" von Neuem. Niemand hat etwas gewusst und niemand ist schuld. Schuld sind immer die anderen …
Maßlose Selbstüberschätzung
Bankman-Fried sieht (scheinbar) bis heute keine Fehler bei sich, sondern sucht diese insbesondere beim Regulator. In einem Interview mit Vox, das er später widerrief, bezeichnete er die Insolvenzbekanntmachung ("Chapter 11") als seinen "größten Fehler" und führte weiter aus "Wenn ich das nicht getan hätte, könnten in einem Monat die Abhebungen starten und die Kunden wären vollständig entschädigt".
Am letzten Wochenende suchte Bankman-Fried mit den verbliebenen Mitarbeitern verzweifelt nach potenziellen Investoren, um die Liquiditätslücke von 8 Mrd. US-Dollar zu schließen und jeden der eine Million Kunden zu entschädigen.
Wenn Milliarden spurlos verschwinden…
Wie vor einigen Jahren bei Wirecard, bei denen der damalige CEO Markus Braun bis zum Ende mit dem größenwahnsinnigen Ziel unter dem Codename "Project Panther" die um ein Vielfaches größere Deutsche Bank übernehmen wollte, platzte letztlich die Blase und niemand wusste, wo die Milliarden hingekommen sind. Im Falle von Wirecard wurde mantraartig die Mär vom "gigantischen Betrug", dem die Wirecard AG aufgesessen wäre, wiederholt.
Und auch bei Wirecard wurde das Betrugssystem durch ein nicht wirksames Risikomanagement begleitet. Im vom Wirtschaftsprüfer testierten Jahresabschluss schwärmen die Autoren auf rund 20 Seiten von dem hohen Reifegrad des Wirecard-Risikomanagements. Sie schreiben von einer wertorientierten Unternehmenssteuerung und von der Übererfüllung relevanter internationaler Standards und regulatorischer Anforderungen. Und selbstverständlich existierten keinerlei existenzbedrohende Szenarien.
Auch im Falle von FTX ist zum heutigen Tage nicht klar, wo die fehlenden Milliarden gelandet sind. Amerikanische Medien verweisen immer wieder auf "unautorisierte Transaktionen". Die Beträge reichen dabei von vier bis zu zehn Milliarden US-Dollar.
Same, same but different
Mark Twain hätte wohl seine wahre Freude bei der Analyse des FTX-Falls, insbesondere da seine These, wonach sich Geschichte "zwar nicht wiederhole, aber sich vielmehr reime" bestätigt zu werden scheint:
- Entscheidungen im "Hinterzimmer": Bei FTX und seiner Schwesterfirma Alameda Research wurden alle wichtigen Entscheidungen von der "Polycule"-Gruppe getroffen, den zehn Mitbewohnern, die gemäß Berichten zumindest eine gewisse Zeit lang eine romantische oder gar sexuelle Beziehung zueinander hatten. Die Frage, wo die Milliarden-schweren Einlagen der Kunden verblieben sind, ist bisher genauso ungeklärt, wie die legendäre, gleich gelagerte Frage bei Wirecard.
- Intransparentes Firmengeflecht: "The FTX Group" umfasst(e) ein Gebilde von mehr als 130 Unternehmen, die sich über einige Länder verteilten. Die meisten Firmen davon führten keine testierten Bilanzen.
- Dubiose Gestalten: Der "Chief Regulatory Officer" von FTX, Dan Friedberg, war vor rund zehn Jahren in einen der größten amerikanischen Online-Poker-Betrugsfälle verwickelt. Er war damals Anwalt von UltimateBet und beriet die Führungskräfte unter anderem bei einer Strategie zur Begrenzung der Auszahlungen an die Opfer. Im August 2021 wurde die dubiose Personalkonstellation auf der Kryptowährungs-Nachrichtenseite CoinGeek thematisiert und die Ernennung Friedbergs aufgrund seiner Vergangenheit als "fast komisch unangemessen" bezeichnet. Der Autor merkte ferner an, dass es "irgendwie ein Rätsel bleibt", wie Friedberg "es geschafft hat, ein Berufsverbot zu vermeiden", nachdem die Aufzeichnungen über seine Verstrickungen aufgetaucht waren.
- Versagen bei Unternehmenskontrollen und keine vertrauenswürdigen Finanzinformationen: Dies ist zwar der (!) Klassiker bei den größten Betrugsfällen unserer Zeit, trotzdem scheint FTX dem Ganzen nochmals die Krone aufgesetzt zu haben. Denn der neu eingesetzte CEO bezeichnete dies in den Gerichtsunterlagen als beispiellos. Wohlgemerkt: John J. Ray III hatte bereits bei Enron aufgeräumt!
- Dilettantische interne Prozesse: Wohl am anschaulichsten, wie unprofessionell und dilettantisch die internen Prozesse im milliardenschweren Unternehmen FTX (scheinbar) abgelaufen sind, sieht man am Beispiel der Gehaltszahlungen. So stellten die Mitarbeiter in einem Online-Chat ihre Anträge auf Lohn, welche durch personalisierte Emojis von den Vorgesetzten genehmigt wurden.
- Regulatoren in der Kritik: Wie auch bei Wirecard, kam auch bei FTX erhebliche Kritik am Regulator auf. So sagte Bankman-Fried in einem Vox-Interview, dass seine geäußerte offene Haltung gegenüber Regulatoren "nur PR" war. Allerdings: Die Bankenaufsicht ist (bisher) für die größten Teile des Kryptomarktes noch gar nicht zuständig. Deshalb forderte beispielsweise der Chef der deutschen Bankenaufsicht BaFin, Mark Branson, dass das Bankensystem einen Schutzwall vor dem Krypto-Markt brauche. Hierbei wird allerdings entscheidend sein, dass die Aufsicht international koordiniert erfolgt und wirksame Instrumente zur Früherkennung zum Einsatz kommen.
- Prominente und einflussreiche "Botschafter": Enron war wohl der bekannteste Vorläufer, wenn es darum ging, ganz gezielt Lobbyarbeit zu leisten. So war es die zentrale Maßgabe an die Manager, sich eng mit der Politik zu vernetzen. Im Falle von FTX waren es neben Politikern (FTX war nach George Soros mit 36 Millionen US-Dollar der größte Spender der Demokraten bei den Midterms 2022) insbesondere prominente Werbegesichter und Fürsprecher, deren Reputation gezielt genutzt wurde. Ethereum-Gründer Vitalik Buterin führt in einem Twitter-Post aus, dass der Betrug deshalb der schlimmste bisherige Krypto-Betrug ist, weil sich FTX immer als besonders "tugendhaft und gesetzestreu inszeniert" hätte.
- Gier frisst Hirn: Ebenfalls ein Klassiker der größten Betrugsfälle! Alameda versprach potenziellen Anlegern in einem Pitch Deck von 2018 eine Rendite von 15 % – bei (angeblich) keinem Risiko. – Eine Kombination, die jedem guten Risikomanager komisch vorkommen sollte! Aber wenn kein Risikomanagement existiert, dominiert Risikoblindheit!
Autoren:
Dr. Christian Glaser ist promovierter Risikomanager und als Generalbevollmächtigter eines namhaften Finanzdienstleisters tätig. Er ist außerdem Dozent an mehreren Hochschulen und Buchautor mehrerer Fachbücher sowie zahlreicher Fachveröffentlichungen in den Bereichen Finanzdienstleistungen, Unternehmensführung und Management, Controlling sowie Risikomanagement.
Frank Romeike ist Gründer und geschäftsführender Gesellschafter der RiskNET GmbH – The Risk Management Network. Er war Chief Risk Officer (CRO) der IBM und hat einige Standardwerke zum Thema Risikomanagement und Stochastik veröffentlicht. Außerdem hat er Lehraufträge an mehreren Hochschulen angenommen.