Bei der Risikobewertung komplexer Systeme – wie etwa einer Chemie- oder Nuklearanlage – darf die höchst subjektive Risikowahrnehmung nicht außer Acht gelassen werden. Auch unser (vermeintliches) Wissen über Risiken hängt von unserer ganz individuellen und damit höchst unterschiedlichen Risikowahrnehmung ab und ist damit letztlich Vorgang und Ergebnis einer hochkomplizierten Reizverarbeitung. Logischerweise wird ein Atomphysiker die Risiken der Nukleartechnik anders einschätzen als ein Politiker und Theologe. Denn das Material aus dem Risiken konstruiert sind, liefern unsere Sinnesorgane.
Ein raffiniertes biologisches System wandelt die winzigen Impulse, die von unserem Nervensystem ausgehen, in Bilder um und gaukelt uns damit unsere Realität vor, die letztlich aber eine unter unendlich vielen möglichen ist. Fragen Sie einen Nuklearexperten nach der Wahrscheinlichkeit für einen Reaktorunfall, dann wird er Ihnen möglicherweise vorrechnen, dass es in einem deutschen Atomkraftwerk mit einer Wahrscheinlichkeit von 2,9 x 105 pro Jahr zu einem Super-GAU kommt. Legt man eine Betriebszeit eines Atomkraftwerks von 40 Jahren zugrunde, so ergibt sich für einen Atomkraftwerksblock eine Wahrscheinlichkeit von 0,1 Prozent.
Die Wahrscheinlichkeit, dass es in Europa innerhalb von 40 Jahren zu einem Super-GAU kommt, liegt bei rund 16 Prozent. Bei der Bewertung der Risiken im Zusammenhang mit der Nuklearanlage Fukushima hatten die Experten aber wohl aufgeblendet, dass Japan an der geologischen Bruchzone dreier tektonischer Platten (die Eurasische Platte im Westen und Norden, die Philippinische Platte im Süden und die Pazifische Platte im Osten) liegt und von den etwa 240 Vulkanen, die zum pazifischen Feuerring gehören, immer noch 40 aktiv sind. Eine deterministische Szenarioanalyse würde dem Risikomanager recht schnell verdeutlichen, dass die Wahrscheinlichkeit einer zerstörerischen Katastrophe als extrem hoch betrachtet werden muss. Allein in den vergangenen hundert Jahren konnten wir uns vom Zerstörungspotential technischer Systeme im Zusammenhang mit Naturkatastrophen überzeugen.
So führte das Erdbeben von Kōbe, welches am 17. Januar 1995 eine Stärke von M=7,3 erreichte, nicht nur zu einer Naturkatastrophe mit einer der höchsten Schadenssummen aller Zeiten in Japan, sondern vor allem auch zu massiven Schäden im Bereich der Wertschöpfungskette diverser Computerhersteller. Das Beben forderte rund 6.400 Todesopfer, rund 44.000 Menschen wurden verletzt. 300.000 Menschen wurden durch das Erdbeben obdachlos. Das Große Kantō-Erdbeben vom 1. September 1923 forderte etwa 142.800 Todesopfer.
Eine objektive Risikoanalyse hätte den Betreibern Tepco aufgezeigt, dass das Katastrophenpotenzial und die Eintrittswahrscheinlichkeit als extrem hoch bewertet werden müssen. Katastrophen senden uns in der Regel Warnsignale. Von diesen Frühwarnindikatoren haben wir einige erhalten (siehe beispielsweise Kyschtym, Windscale bzw. Sellafield, Idaho Falls, Three Mile Island, Tschernobyl, Tōkai-mura).
Jede unabhängige Experten-Kommission wird zu dem Ergebnis kommen, dass in einer Welt hochriskanter Technologien – trotz noch so effizienter Sicherheitsvorkehrungen – Unfällen unvermeidlich sind und Katastrophen eintreten werden. Es wird uns nie gelingen, jedes Risiko aus risikoreichen und komplexen Systemen zu eliminieren. Denn Risiken sind und bleiben Noch-Nicht-Ereignisse, die argwöhnisch und verschlagen in den Seitengängen einer ungewissen Zukunft lauern. Und umgekehrt bedeutet der Verzicht auf jegliche Risiken das größte Risiko.
Der Text erschien als Editorial in Ausgabe 02/2011 der Zeitschrift Risk, Compliance & Audit (RC&A).
Weitere Themen in der RC&A 02/2011:
> Keep it smart & simple: Expertenempfehlungen zur Gestaltung eines Risikomanagements
> Endogene Risiken an internationalen Kapitalmärkten
> Risikofrühwarnsysteme für Verbundgruppen: Notwendigkeit und Konzeptionsanregungen
> Gute Frage: Was ist ein Währungskrieg?
> Lean Risk Management für den Mittelstand
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Kommentare zu diesem Beitrag
Beispiele sind neben Naturkatastrophen auch die "Zweite Große Wirtschaftskontraktion", wie u.a. Nobelpreisträger Kenneth Rogoff die jüngste Finanzkrise nennt oder die scheinbar berherrschbaren Ölbohrungen in der Tiefsee.
Eine triviale Fehlerbaumanalyse mit verschiedenen Szenarien ( evt. noch kombiniert mit entsprechenden Korrelationen) kann hier schon einen ersten Überblick über Gefährdungspotenziale und deren Auswirkungen geben.
Die Menschheit ist schon immer (un-) bewusst Risiken eingegangen. Entdeckungsdrang sowie geistige als auch technologische Weiterentwicklung sind dabei wesentliche "Triebkräfte". Allerdings könnten fatale Ereignisse wie nukleare Katastrophen oder durch die Menschheit verursachten Naturkatastrophen eines Tages zu "bösen Überraschungen" führen.
Vielleicht überschätzt die Menschheit die Beherrschbarkeit derartiger Risiken. Zu guter Letzt kann die Menschheit sehr schnell katastrophale Ereignisse verdrängen und mehr oder weniger zur Tagesordnung übergegehen nach dem Motto: Shift the limits for a better future.