"Empört Euch!". So heißt die Streitschrift des 2013 verstorbenen Stéphane Frédéric Hessel. Hessel war ein umtriebiger Mensch. Als französischer Résistance-Kämpfer, Diplomat, Autor und politischer Aktivist. Unter anderem war er an der Redaktion der Charta der Menschenrechte beteiligt. Was ihn bis ins hohe Alter antrieb war sein Kampf für eine gerechte Welt und gegen den Finanzkapitalismus, der die Werte der Zivilisation bedrohe und den Lauf der Welt diktiere. Ein aktueller Blick auf eine aktuelle Studie der Hilfsorganisation "Oxfam" zeigt: Die Ungleichheit in der Welt nimmt zu.
"Ein Prozent der Weltbevölkerung hat mehr Vermögen als der Rest der Welt zusammen. Nur 62 Menschen besitzen genauso viel wie die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung", so Oxfam auf den eigenen Seiten. Das Ganze in Zahlen: Die reichsten 62 Personen des blauen Planeten besitzen zusammen 1,76 Billionen US-Dollar – ebenso viel wie die ärmere Hälfte der Menschheit, rund 3,5 Milliarden Personen. Und die Hilfsorganisation folgert: "Die weltweite soziale Ungleichheit hat einen neuen Höchststand erreicht." Eigentlich ein Grund die Verhältnisse für die Mehrzahl der Erdenbürger zu verbessern. Eine Chance für das Weltwirtschaftsforum in Davos. Eigentlich, wären da nicht …
Die Digitalisierung
Was in der freien Wirtschaft als neuer Siegeszug gefeiert wird, hat auch den Forums-Kreis von Davos und die Teilnehmer erreicht. Ganz nach dem Motto: "Viel hilft viel" wurde das Weltwirtschaftsforum mit digitalem (Halb-)Leben gefüllt. Die Wirtschaftswoche schrieb hierzu in einem Beitrag zu "Die fünf Probleme der Weltwirtschaft": "Nichts elektrisiert den Macher und Marktbeherrscher von heute so wie die digitale Revolution. Nichts aber macht ihn auch, es sei denn, er ist Gründer eines großen Silicon-Valley-Konzerns, so ratlos." Und der Zukunftsforscher und Publizist Jeremy Rifkin äußerste sich gegenüber dem "manager magazin" wie folgt: "Die Unternehmen müssen den Schritt von einem traditionellen Geschäftsmodell der zweiten industriellen Revolution in die neue digitalisierte Welt schaffen, wo ihre Kunden nicht mehr nur Konsumenten, sondern auch Produzenten sind. Und nicht nur das. Sie müssen gleichzeitig in beiden Welten sein. […] Wenn sie sich nicht schnell genug bewegen, nicht die richtigen Partnerschaften kreieren, dann sind sie tot." Der Tagesspiegel wiederum titelte: "Davos diskutiert Folgen der Digitalisierung." Für die Süddeutsche Zeitung sei "die digitale Spaltung […] das beherrschende Thema beim Weltwirtschaftsforum" gewesen. Kaum ein Panel, kaum ein Abendessen, bei dem nicht darüber diskutiert wird. Manche reden das Problem klein.
Doch nennen wir es an dieser Stelle prominent und in voller Größe beim Namen: Mehr als vier Milliarden Menschen haben weltweit keinen Zugang zum Internet. Zu diesem Ergebnis kommt eine aktuelle Studie der Weltbank. Während in Davos über mögliche Arbeitsplatzverluste in den reichen Wirtschaftsnationen in bis dato ungeahnter Höhe geredet und spekuliert wird, haben andere nichts. Sprich, sind viele Menschen in der Dritten Welt offline oder analog in der Welt von heute und morgen unterwegs. Das erschwert nicht nur den Zugang zu digitalem Wissen. Nein, es klemmt ganze Länder von der digitalen Aufbruchsstimmung ab. Die Bundesregierung schreibt auf den eigenen Internetseiten: "Die Bundesregierung bekennt sich zur Notwendigkeit flächendeckend verfügbarer leistungsstarker Breitbandnetze. Sie sind die Voraussetzung für gleichwertige Lebensverhältnisse und eine umfassende Teilhabe an den Chancen der Digitalisierung, die neue Handlungs-, Gestaltungs- und Qualifizierungsmöglichkeiten für alle Menschen eröffnet." Ein Umstand, der leider für viele Milliarden Menschen in den ärmeren Regionen dieser Welt (noch) ein Traum bleiben wird.
Die Bargeld(lose) Diskussion
Jüngst verkündete Carl-Ludwig Thiele, Mitglied des Vorstands der Deutschen Bundesbank, dass das Bargeld erhalten bleibe: "Es gibt (…) viele gute Gründe, weiterhin Bargeld zu verwenden. Eine politisch motivierte Zurückdrängung oder Abschaffung ist weder sinnvoll, noch nötig." Und das Vorstandsmitglied ergänzt: "Die Deutsche Bundesbank lehnt die Forderung nach einer Abschaffung des Bargelds ebenso ab wie Restriktionen für die Bezahlung von Waren und Dienst¬leistungen mit Bargeld. Neben unbaren Zahlungsinstrumenten sind Bank¬noten und Münzen unverzichtbar, da erst dadurch die Wahlmöglichkeit der Verbraucher gesichert wird."
So sind oft die gleichen Kriterien bei der Wahl des Zahlungsinstruments "bar oder unbar" an der Ladenkasse relevant - einfach, schnell und sicher soll es sein." Das klingt nach einem klaren Bekenntnis.
Ganz im Gegenteil zum Chef der Deutschen Bank, John Cryan. Für ihn ist Bargeld eher hinderlich, unterstützt Geldwäsche und Kriminelle. Der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bank sieht das Ende des Bargeldes nahen und gab dies im Rahmen des Davoser Weltwirtschaftsforums zum Besten. Neben aller scheinbaren "Sperrigkeit" des Bargeldes liegt in der Idee des bargeldlosen Zahlens das Aufheben der Anonymität des kaufenden Kunden. "Bargeld bedeutet Freiheit für die Bürger und einen Kontrollverlust für Unternehmen und den Staat. Während Kunden relativ sicher – weil unbehelligt – kaufen können ist das Thema Bargeld Unternehmen, Banken und Finanzbehörden ein Dorn in den Augen. Die Gründe? Sie haben keine Transparenz über das, was der Kunden mit seinem Geld unternimmt […] Für Finanzinstitute ist das Handling von Bargeld, Sparschweinen und -strümpfen ein kostspieliges Unterfangen", so der Beitrag "Cybersicherheit im Bankenumfeld" im FIRM-Jahrbuch 2015. Unter dem Titel "Total durchsichtig" ging das Wirtschaftsmagazin "brand eins" bereits 2013 dem schwedischen Weg des bargeldlosen Zahlens nach. Hierzu heißt es in einem Interview mit Niklas Arvidsson, Autor der Studie "The Cashless Society": "Auch die Polizei ist dafür. Dass sich die Steuerbehörden für das Thema interessieren, liegt auf der Hand. Der bargeldlosen Gesellschaft fällt der Kampf gegen Schwarzarbeit und die organisierte Kriminalität leichter. Oder anders: Solange man am Bargeld festhält, kommt die Gesellschaft für die "social costs" auf." Das ist die eine Wahrheit. Hinzu kommen mindestens drei weitere.
Nämlich 1: Das sich gegen die Schwedischen Absichten massiver Wiederstand innerhalb der Gesellschaft gegen das "bargeldlose Bezahlen" formiert.
2. Kommt der Vorstoß von John Cryan gerade zur rechten Zeit. Denn die Deutsche Bank wird für das Jahr 2015 mit 6,8 Milliarden Euro den höchsten Jahresverlust in der Geschichte der Bank verbuchen. Außerdem kämpft die Bank mit unabsehbaren Altlasten und Risiken. Die Deutsche Bank befindet sich seit Jahren im Strudel der Strafzahlungen: Libor- und Euribor-Skandal, Devisen-Manipulationen, Verstöße gegen das US-Sanktionsrecht, Geldwäsche-Vorwürfe in Russland und so weiter. Für das Jahr 2016 rechnet die Bank mit Restrukturierungskosten und Abfindungen von rund einer Milliarde Euro. Und auch die Risikovorsorge für schlechte Kredite wird wohl steigen. Möglicherweise zündet John Cryan Nebelbomben, um von den hauseigenen Problemen abzulenken.
Und 3. Verkennen die Befürworter des bargeldlosen Bezahlens, dass ein Großteil der Weltbevölkerung weder über Bankkarten, Bezahlsystemzugänge noch sonstige IT-gestützte Bezahlmöglichkeiten verfügt. Der Grund ist einfach: Sie sind arm, werden ärmer und verdingen sich als Tagelöhner, Wanderarbeiter oder leben als Obdachlose und Bettler auf der Straße. Und daran wird kein bargeldloses Bezahlen etwas ändern. Von daher führt ein solcher Vorstoß im Rahmen des Weltwirtschaftsforums in die Sackgasse. Mehr noch: Es verkennt die wirklichen ökonomischen Probleme dieser Welt und konzentriert wiederholt das wirtschaftliche Denken auf die Erste Welt samt einiger Schwellenländer.
Die Ungleichheit auf der Welt
Die Süddeutsche Zeitung schrieb im Rahmen ihrer Berichterstattung zum Weltwirtschaftsgipfel: "Alle Studien belegen: Die Ungleichheit in der Welt wächst, Einkommen und Vermögen driften immer mehr auseinander. Die digitale Revolution wird diesen Prozess noch einmal verschärfen und gerade in der Mitte der Gesellschaft viele Jobs kosten." Und die Zeit folgert: "Seit 2010 ist das Vermögen der Superreichen um sagenhafte 44 Prozent oder etwa 540 Milliarden Dollar gestiegen. Das Vermögen der ärmeren Hälfte aber sank im gleichen Zeitraum um 41 Prozent oder rund eine Billion Dollar." Die Zeitung schlussfolgert: "Immer weniger Superreiche besitzen immer mehr, doch Einkommen und Vermögen der Ärmsten steigen trotz Wirtschaftswachstum so gut wie gar nicht an."
Oxfam zufolge erhält der Vorstandsvorsiteznde von Indiens größtem IT-Dienstleister 416mal so viel wie einer seiner typischen Angestellten. Und auch in den USA sind die Gehälter der Konzernlenker seit Ende der 1970er Jahre um 90mal schneller angestiegen als das Einkommen ihrer durchschnittlichen Mitarbeiter.
In diesem Zusammenhang ist von allen Beteiligten stets viel von gesellschaftlicher Verantwortung die Rede. Warme Worte, die beim eigenen Geldbeutel aufhören. Somit traf beispielsweise das Thema höherer Steuern nicht auf Zustimmung. Steuern ist übrigens ein gutes Stichwort. Wenn sich viele Konzerne ihrer Steuerverpflichtung hierzulande entledigen, mit komplizierten Firmenverflechtungen nur einen Bruchteil dessen zahlen, was sie zahlen müssten, ist etwas nicht in Ordnung. Stimmen Selbstdarstellung und Außenwahrnehmung nicht mehr überein. Entstehen von staatlicher Kontrolle quasi losgelöste Unternehmensverbünde, die bestimmen was, wie wann und wo geschieht. Die Firmendichte der großen digitalen Player und ihr Einfluss auf ein Wirtschaftsforum von Davos darf in diesem Zug nicht unterschätzt werden.
Peter Spiegel umschreibt es im Buch "Global Impact" wie folgt: "Ein offener Markt treibt die Akteure der Wirtschaft dazu, immer die Augen offen zu halten nah Möglichkeiten zu Effizienzsteigerung und Kostenreduktion in der Produktion, zur Erschließung neuer Märkte sowie zur Senkung der Steuern und Abgaben." Der Autor Spiegel schlussfolgert unter anderem: Wirtschaftliche Akteure können ihr Geschäftsmodell unter Ausnutzung aller Stärken und Schwächen aller Länder der Welt modellieren und optimieren. Im Umkehrschluss heißt das: Wenige optimieren ihre Wirtschaftlichkeit, streben nach Gewinnmaximierung und höhlen damit die sozialen und gesellschaftlichen Strukturen aus, in denen sie sich bewegen. Denn Staaten stellen ihrerseits Infrastrukturen bereit, halten diese am Laufen, eröffnen Möglichkeiten und Anreize der Geschäftstätigkeit und sorgen für Bildung, Kultur und Krankenversorgung. Doch diesen Gemeinwohlgedanken teilen viele Großkonzerne nicht. Wenige Ausnahmen, dass sich Unternehmen an ihrem Standort tiefgreifend sozial, gesellschaftlich und kulturell engagieren. Vielfach werden Leuchtturmprojekte für die Eigenvermarktung gefördert. "Das große Ganze", sprich ein umfassendes Engagement in der Stadt, in der Region, bleibt außen vor.
Fakt ist, was in unseren modernen Gesellschaften nicht funktioniert, ist in vielen armen Regionen dieser Welt undenkbar. Diese werden an der kurzen Leine gehalten und dienen als billige und verlängerte Werkbank der Ersten Welt. Und daran wird sich nichts ändern. Denn "arbeitsintensive Massenproduktion kann gar nicht anders, als in Niedriglohnländer auszuwandern", wie Peter Spiegel feststellt. Die Folge dieser scheinbaren Daueroptimierung von Arbeitsprozessen im globalen Maßstab umschrieben Hans-Peter Martin und Harald Schumann, Autoren des Buchs "Die Globalisierungsfalle", bereits in den 1990er Jahren mit dem "Aufstieg einer wirtschaftspolitischen Heilslehre, die eine Heerschar von Wirtschaftsberatern fortwährend in die Politik trägt: des Neoliberalismus". Die Folge nennen die Autoren als "tittytainment", will heißen: "Der überwältigende Rest […] müsse mit tittytainment bei Laune gehalten werden, einer Mischung aus Entertainment und Ernährung am Busen (tits) der wenigen Produktiven."
Die gefährliche Gemengelage der Risiken
Die benannten Bereiche stellen nur einen kleinen Ausschnitt der Risikobereiche dar, mit denen sich die Weltenlenker auseinandersetzen müssen. Im Rahmen des Weltwirtschaftsforums waren konkrete Ergebnisse fehl am Platz. Im Gegenteil. Böse Zungen behaupten, dass Davos einmal im Jahr zur Selbstinszenierung vieler Teilnehmer diene. Eigentlich ein antiquiertes und boniertes Verhalten in Zeiten wie diesen. Denn die gefährliche Mischung von Problemen und Risiken macht ein klares und zukunftsgewandtes Handeln unumgänglich. Denn turbulente Finanzmärkte, der Klimawandel, Krieg und Zerstörung im Nahen Osten sowie massive Flüchtlingsströme schreien nach Lösungen. So kommt die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) in einem Beitrag zu "Risiken auf breiter Front" zu dem Ergebnis: "Bei allen Risiken – ob umweltbezogen, gesellschaftlich, wirtschaftlich, geopolitisch oder technologisch – ist die Wahrscheinlichkeit eines Eintritts demnach gestiegen. Die Risiken sind auch stärker miteinander verknüpft als früher." Hintergrund sind die Ergebnisse des "Global Risk Report 2016". Und die Generell scheint das Leben in den Augen der Experten riskanter geworden zu sein. Und die NZZ schlussfolgert vor dem Hintergrund der Studie: "Noch nie in den elf Jahren, in denen die Studie zu den globalen Risiken erstellt wurde, sei die Risikolandschaft so breit gefächert gewesen". Ein besonderes Augenmerk müsse demnach der anhaltenden Flüchtlingskrise und Lösungen gelten.
Eigentlich, doch was tut Europa? Vor allem streiten, Grenzen aufbauen, Schengen außer Kraft setzen und mit harter Hand von Griechenland mehr Einsatz im Kampf gegen die Flüchtlingsströme fordern. Sogar der Ausschluss Griechenlands aus dem Schengen-Raum wurde bereits lautstark gefordert, gefolgt von Kürzungen der Hilfsgelder für das Land. Das alles ist kein Ruhmesblatt für die EU, denn Menschen lassen sich nicht durch Mauern und Grenzzäune von einer Flucht abhalten. Ganz zu schweigen von einer gefährlichen Stimmungsmache in vielen europäischen Ländern, die solche Rufe mit sich bringen. Ein Blick in die aktuell vorherrschende populistische Politik, flankiert von einer vielfach unsäglichen Medienberichterstattung hierzulande, genügt. An dieser Stelle wäre zwingend ein einheitliches und vor allem chancen-suchendes Vorgehen der EU ratsam. Doch davon sind wir weit entfernt. Die Welt ist aus den Fugen geraten, die europäische Idee droht zu zerfallen und Kriege, Mord und Vertreibung brechen sich Bahn. Die Schere zwischen Arm und Reich wird größer – in allen Teilen der Welt. In diesem Kontext schrieb der eingangs erwähnte Stéphane Frédéric Hessel: Das schlimmste ist die Gleichgültigkeit.
Und er folgert: "Die Gründe, sich zu empören, sind heutzutage oft nicht so klar auszumachen – die Welt ist zu komplex geworden. Wer befiehlt, wer entscheidet? […] Um wahrzunehmen, dass es in dieser Welt auch unerträglich zugeht, muss man genau hinsehen […]."
Abbildung 01: The Global Risks Interconnections Map 2016 [Source: Global Risks Perception Survey 2015]
Abbildung 02: The Changing Global Risks Landscape 2015–2016: The 10 Most Changing Global Risks [Source: Global Risks Perception Survey 2014 and 2015, World Economic Forum]
Abbildung 03: The Top Five Global Risks of Highest Concern for the Next 18 Months and 10 Years [Source: Global Risks Perception Survey 2015, World Economic Forum]