Viele Anleger können eine positive Halbjahresbilanz ziehen. Die Erträge in gemischten Portfolien waren in der ersten Jahreshälfte 2024 weitgehend erfreulich, die Portfoliorenditen dabei vor allem von robusten Aktienkursen getragen. Viele Aktienindizes markierten neue Allzeithochs. Freundlich zeigten sich auch Rohstoffe und offensivere Segmente der Anleihemärkte. Am Euro-Rentenmarkt notieren zur Jahresmitte Finanz- und Hochzinsanleihen im Plus. Umgekehrt weisen Staatsanleihen und höhere Bonitäten am Unternehmensanleihemarkt leicht negative Gesamterträge auf – hier dominierte der Gegenwind von der Zinsseite. Es zeigt sich, dass die Inflationsraten nicht so schnell zurückkommen, wie von den Märkten noch zu Jahresbeginn erwartet, folglich ist ein Auspreisen von Zinssenkungserwartungen zu verzeichnen. Für den weiteren Jahresverlauf erwarten Anleger aktuell nur noch ein oder zwei Zinssenkungen der US-Notenbank, für die Zinspolitik der EZB wird mit zwei weiteren Zinsschritten gerechnet. Die im Vergleich zu den Vorjahren höheren Coupons bieten bei vielen Anleihen inzwischen aber einen zuverlässigen Puffer an Zinseinkommen, welches größeren Kursverlusten entgegenwirkt.
Abb. 01: Marktüberblick: Entwicklung verschiedener Assetklassen in 2024
Risikoreichere Anlageklassen haben sich in der ersten Jahreshälfte kaum von den zunehmenden geopolitischen Spannungen beeindrucken lassen. Gerade die direkte Konfrontation zwischen Israel und dem Iran ging weitgehend spurlos an den Märkten vorüber. Im abgelaufenen Quartal galt es für Anleger zudem, eine Reihe richtungsweisender Wahlen zu verdauen (u.a. Indien, Mexiko, Südafrika, Europaparlament). Der Nachrichtenkalender für die kommenden Monate bleibt reich gefüllt – besonders die im November anstehenden Präsidentschaftswahlen in den USA dürften auch an den Kapitalmärkten zu Phasen höherer Volatilität führen.
Eine Outperformance innerhalb der Anlageklassen war im 2. Quartal 2024 vielfach bei inflationsreagiblen Vermögenswerten zu beobachten. In zahlreichen Daten zeigte sich zuletzt wieder ein Reflationsimpuls. Viele Preisdaten halten sich hartnäckig inflationär. Davon profitieren aktuell klassische Inflationsgewinner, wie Edelmetalle, Industriemetalle und inflationssensitive Aktiensegmente. Gold konnte mit einer fulminanten Kursentwicklung neue Allzeithochs erreichen. Für weiterhin erhöhte Inflationsraten spricht, dass auch das konjunkturelle Umfeld wieder Aufwärtsdynamik entwickelt. Eine Reihe wichtiger Frühindikatoren stützt die Erwartung einer Belebung. Vor allem in den Vereinigten Staaten ist das Wachstum unverändert robust, bleibt aber weiterhin wesentlich erkauft durch einen extremen Fiskalimpuls schuldenfinanzierter Staatsausgaben.
Für viele Beobachter ist der US-Schuldenrausch im Grenzbereich des Vertretbaren. Selbst Profiteuren der waghalsigen Schuldenpolitik kommen inzwischen Zweifel. So warnte Goldman Sachs Vorstandsmitglied John Waldron jüngst, die US-Regierung solle sich nicht in die Selbsttäuschung begeben, dass ein unstillbarer Appetit für US-Staatsschulden vorhanden sei. Vielmehr müsse man sich sorgen, dass der Verschuldungspfad nicht mehr nachhaltig sei und den Reservewährungsstatus gefährde.
Im Kontext der hohen und steigenden US-Verschuldung kann an die Erkenntnisse aus den Arbeiten von Carmen Reinhart und Kenneth Rogoff ("This Time is Different") erinnert werden: Historisch finden sich keine Beispiele, in denen Schuldenexzesse "gut gingen"; in dem Sinne, dass eine geordnete Rückabwicklung möglich war. Immer dann, wenn zu lange über die Verhältnisse gelebt wurde und nicht tragfähige Kredit- und Verschuldungsblasen resultierten, setzte früher oder später ein Vertrauens- und Kontrollverlust ein, der im Ergebnis oft in ungeordneten Szenarien wie Hyperinflation, Zahlungsausfall oder komplettem Wertverlust der Währung mündete.
Abb. 02: Anstieg der US-Staatsverschuldung seit 2021
Die Gesamtverschuldung der USA stieg zuletzt auf 35,3 Billionen US-Dollar (per Juni 2024). Gemessen an der Wirtschaftsleistung erreichte die US-Verschuldung schon zum Jahresende 2023 einen neuen Höchststand von 123%. Zum Vergleich: In Griechenland wurde 2009 – kurz vor Beginn der Schuldenkrise – ein Gesamtschuldenstand von 127% im Verhältnis zum BIP markiert. Zwar sind beide Konstellationen nur partiell vergleichbar, weil die griechische Verschuldung ökonomisch betrachtet in "Fremdwährung" aufgenommen war, die USA hingegen ihre eigene Währung ohne Begrenzung selbst in beliebiger Menge drucken können und zudem den Status als Weltreservewährung genießen, dennoch sind Zweifel erlaubt, inwieweit sich die Vereinigten Staaten auf einem langfristig tragfähigen Kurs befinden.
Als mahnendes Beispiel dient die Beinah-Schuldenkrise Großbritanniens im Herbst 2022 nach Vorlage des Budgets durch Kurzzeit-Premierministerin Liz Truss. Damals führte die fiskalische Freigiebigkeit auf bereits sehr hohem Gesamtverschuldungsniveau auch in einem Land mit der Möglichkeit zur Verschuldung in eigener Währung zu raschen, panikartigen Verkäufen an den Bondmärkten. Der ungeordnete Zinsanstieg konnte von der Notenbank nur mit Mühe und Not abgefangen werden. Eine solche, ohne Vorwarnung erfolgende Verweigerung der Anleihemärkte gegenüber ausufernden, schuldenfinanzierten Begehrlichkeiten ausgabefreudiger Regierungen kann jederzeit und plötzlich eintreten und hat als "Liz Truss Moment" bereits Eingang in das Vokabular der Finanzmärkte gefunden. Gleichsam sollte die Eurokrise der Jahre 2010-2012 fortwährend als Warnung in Erinnerung gerufen werden.
Die USA wähnen sich selbst dem Anschein nach weit entfernt von einer möglichen Schuldenkrise, doch ist die zuletzt vorgenommene Verkürzung der Laufzeiten neu ausgegebener Schuldpapiere durch das US-Finanzministerium bereits ein erstes Indiz für die begrenzte Bereitschaft und Aufnahmefähigkeit des Marktes für länger laufende Staatsschulden. Die verkürzten Laufzeiten erhöhen die Risiken, gehen sie doch mit einem steigenden Refinanzierungsbedarf einher. Gleichzeitig verteuern die über die letzten Jahre gestiegen Zinsen die Zinslast erheblich.
Mit ihrem Sanktions-Eigentor haben sich die Vereinigten Staaten zudem ausländische Nachfrage nach ihren Staatsanleihen dauerhaft und strukturell beschädigt. Einst als sicher und risikofrei wahrgenommenen US-Staatspapieren haftet nun der Makel an, dass Inhaber willkürlich enteignet werden können. Die Nachfrage von Überschussländern in Asien oder den Golfstaaten nach US-Staatsanleihen ist wenig überraschend im Rückzug begriffen. Ergänzend zu den politischen Risiken scheint es auch aus ökonomischer Abwägung heraus für ausländische Käufer wenig attraktiv, in einen Anleihemarkt zu investieren, der auf dem aktuell hohen Verschuldungsniveau wohl über lange Zeiträume hinweg negativer Realzinsen bedürfen wird, um die Schuldentragfähigkeit einigermaßen gewährleisten und eine fortlaufende reale Entschuldung bewerkstelligen zu können.
Ein möglicherweise einsetzender Käuferstreik lässt sich bereits anhand geringer Emissionsvolumina am langen Ende erkennen, aber auch in den Gesamterträgen langlaufender US-Staatsanleihen ablesen: 30-jährige US-Papiere nehmen auch 2024 Kurs auf einen negativen Gesamtertrag und würden damit in drei der letzten vier Jahre Verluste markieren. Als alternative Reservewährung zum US-Dollar beginnt sich zunehmend Gold zu etablieren. Viele ausländische Nachfrager von US-Anleihen der Vergangenheit haben ihre Käufe reduziert oder eingestellt und schichten ihre Reserven kaum überraschend in Gold um. Die USA werden sich folglich entweder neue Käuferklientel erschließen, oder aber mit dauerhaft erhöhten Refinanzierungskosten rechnen müssen.
Mit dem Privileg der Weltreservewährung und konkurrenzlos liquiden Märkten in US-Treasuries kann der Status Quo möglicherweise auch ohne Kriseneintritt noch eine Zeitlang aufrechterhalten werden. Doch sind die Risiken aus den aufgebauten Ungleichgewichten klar zuungunsten von (insbesondere langlaufenden) Festzinsanlagen verteilt. Mögliche Turbulenzen an den US-Anleihemärkten würden mit hoher Wahrscheinlichkeit global ausstrahlen und auch die Euro-Rentenmärkte in Mitleidenschaft ziehen.
Denn kaum besser ist die Situation der öffentlichen Finanzen in weiten Teilen Europas einzuschätzen. Eine Bereitschaft zum nachhaltigen Schuldenabbau ist auch in der Eurozone nicht erkennbar, auch hier konterkariert expansive Fiskalpolitik die Bemühungen einer monetären Straffung. Die vereinbarten Schuldenregeln der EU wurden über die letzten 20 Jahre weitgehend ignoriert. Es dominiert eine verbreitete Inkaufnahme unsolider Staatsfinanzen, der keine wirksamen Korrektivmöglichkeiten gegenüberstehen. Neuerliche Staatsschuldenkrisen sind ein relevantes Risiko. Daher scheint die dauerhafte Finanzierung von stetig steigenden Sozialausgaben und höheren Rüstungsausgaben und "Green Deals" kaum im Bereich des realistisch Möglichen, schon gar nicht bei höheren Zinskosten.
Investmentimplikationen: Die arg strapazierten öffentlichen Haushalte in den USA und Europa lassen das Risiko neuerlicher Schuldenkrisen wieder stärker in das Blickfeld rücken. Die waghalsige und generationenungerechte Ausgabenpolitik westlicher Regierungen steht im starken Kontrast zur sonst stets als Leitbild allen politischen Handelns proklamierten Nachhaltigkeit. Wenig nachhaltig erscheint daher der Investment Case für langlaufende Staatsanleihen hochverschuldeter Länder und Währungsräume. Das nach wie vor wahrscheinlichste Szenario für den realistischen Pfad des früher oder späten nötigen Schuldenabbaus ist die reale Entwertung durch Inflation. Sämtliche Alternativen (Sparen, Reformen, Steuererhöhungen, Zahlungsausfall) sind politisch unbequem. Finanzielle Repression und Inflation stehen jedoch den Interessen von Anleiheinvestoren entgegen. Neue Runden von Anleihekäufen und Gelddrucken werden sehr wahrscheinlich zur de facto Monetarisierung der Staatsschulden führen. Anleger, die dennoch im Festzinsbereich engagiert sein wollen oder müssen, sind in Zeiten anhaltend hoher Fiskaldefizite (und den Staaten "hilfsbereit" zur Seite stehender Notenbanken) mit kürzeren Restlaufzeiten grundsätzlich risikoärmer investiert. Inflationsindexierte Anleihen sind grundsätzlich ein Instrument, das partiellen Schutz bieten kann. In einigen Schwellenländern sind die öffentlichen Haushalte konservativer und umsichtiger finanziert. Die resultierende Staatsverschuldung scheint mithin tragfähiger und für Anleger mit ansprechenderen Rendite-Risiko-Merkmalen ausgestattet. Auf Ebene der Gesamtvermögensallokation spricht das Umfeld - da wo für Anleger möglich und tragbar - grundsätzlich weiterhin für die Substitution traditioneller Rentenquoten durch einerseits höhere Goldquoten (Werterhalt- und Liquiditätsfunktion sowie Vermeidung Gegenparteirisiko) und andererseits höhere Aktienanteile (Ertrags- und Einkommensfunktion).
Die Kapazität für weiter steigende Schulden ist in den meisten westlichen Staaten erschöpft. Nirgends aber sind politische Mehrheitsverhältnisse in Sicht, die für eine Rückkehr zu fiskalisch verantwortlichem Handeln werben. Gleich wer in den Vereinigten Staaten als Sieger der Präsidentschaftswahl im November hervorgehen wird, der Ausgabenkurs bleibt expansiv oder wird gar noch expansiver. Donald Trump stellt im Fall seiner Wahl umfängliche Steuersenkungen in Aussicht. Viele über ihre Verhältnisse lebende Staaten werden inflationär wirkende Fiskaldefizite aufrechterhalten, sodass der Inflationsanreiz der Staaten (und tolerierender Notenbanken) als verlässliche Konstante bestehen bleibt. Die Dauerfinanzierung staatlicher Defizite und deren über kurz oder lang inflationäre Wirkung stößt dann an Grenzen, wenn stark steigende Verbraucherpreise in zu hohen politischen Kosten resultieren und/oder die steigenden Zinslasten andere politische Ziele der Staaten konterkarieren. Tritt künftig eines dieser "Endspielszenarien" ein, könnten Notenbanken als letztes Mittel zur Zinskurvenkontrolle greifen: Der Anlagezins langlaufender Anleihen wird dann für einen langen Zeitraum auf einem definierten, deutlich unterhalb der Inflationsraten verankerten Niveau, gedeckelt. Historische Beispiele für ein solches Agieren finden sich u.a. in der Politik der Notenbanken der USA und Großbritanniens während und nach dem 2. Weltkrieg.
Abb. 03: Die Entwicklung der 10-jährigen US-Staatsanleihen und die Inflation im Zeitraum von 1940-1989
Zwischen 1942 und 1951 war der Zins für 10-jährige US-Staatsanleihen bei 2,50% fixiert, deutlich unterhalb der über diesen Zeitraum hinweg vorherrschenden Inflation. Wie auch in den 1970er Jahren erfolgte ein massiver Vermögenstransfer von Anleiheinvestoren hin zum Staat. Gläubiger erlitten einen erheblichen realen Kaufkraftverlust.
Anhaltend hohe Defizite sprechen für erhöhte Inflation
Unverändert erwartet der "Konsens" von Volkswirten und Analysten einen raschen Rückfall der Inflationsraten in Richtung 2%. Dies gilt gleichermaßen für die USA und die Eurozone. Bei genauerer Betrachtung drängt sich aber der Eindruck eines (auf nachfolgende Zinssenkungen gerichteten) Wunschdenkens auf. In wichtigen Komponenten der Verbraucherpreise ist weiter kein Abebben der Teuerungstreiber erkennbar. Das Lohnwachstum ist noch immer hoch. In der Eurozone stiegen die Arbeitskosten im 1. Quartal 2024 um 5,1% gegenüber dem Vorjahr an. In den USA herrscht Vollbeschäftigung, gleichzeitig verzeichnen auch die in den Inflationsmessungen hoch gewichteten Wohnkosten wieder Anstiege. Viele Agrarrohstoffe sind 2024 kräftig gestiegen – mit Zeitverzug werden diese Preissteigerungen die Waren in den Supermarktregalen erreichen. Auch Industriemetalle und Energiepreise sind gestiegen und werden neuerlichen Preisdruck in vielen Wertschöpfungsketten verursachen. Höhere Preise sind auch in Gütern zu erwarten, die aus Asien eingeführt werden: Die Frachtraten für Containertransporte sind im ersten Halbjahr 2024 merklich angestiegen.
Abb. 04: Die Kerninflation ist höher als die Gesamtinflation
Die Erwartung sinkender Inflationsraten ist aktuell kaum durch verlässliche Datenpunkte unterfüttert. Wahrscheinlicher ist eher ein anhaltender Reflationsimpuls, verzeichnet doch auch die globale Konjunktur wieder Aufwärtsmomentum. Frühzyklische Volkswirtschaften wie Taiwan und Korea zeigen entsprechende Dynamik, viele globale Frühindikatoren steigen an. In den USA wirken die hohen Staatsausgaben deutlich inflationär. Die Inflationspolitik der Staaten resultiert unverändert in hohen Lohnforderungen und -abschlüssen. In zahlreichen Ländern heben die Regierungen den Mindestlohn als Reaktion auf ihre zuvor selbst herbeigeführte Inflation an. Der disinflationäre Impuls aus dem Geldmengenangebot schwindet ebenfalls. In den USA sind die Jahresveränderungsraten von Kreditvergabe und Geldmenge M2 jüngst wieder in den positiven Bereich gedreht.
Abb. 05: Kumulative Inflation im Euroraum: Starker Anstieg seit drei Jahren
Selbst wenn die Inflation nun langsamer steigt als in den Vorjahren, ist in Erinnerung zu rufen, dass die kumulativen Effekte der Preisanstiege von Gütern und Dienstleistungen eine fortgesetzt hohe Belastung für die Verbraucher darstellen. Der Teuerungsschock der "organisierten Inflation" der Jahre 2021-22 hat zu einer dauerhaften Verankerung der Preise auf höherem Niveau geführt. Fortgesetzt belastet das hohe Preisniveau Niedriglohnempfänger, Rentner und all jene, die nicht von der Vermögenspreisinflation der Vorjahre profitieren konnten. Gesellschaftlich resultiert eine Zweiteilung in Begünstigte, die die Inflation besser verdauen können oder gar von ihr profitiert haben und solche, die sich fortgesetzt hohen Belastungen ihrer Lebenshaltungskosten ausgesetzt sehen.
Dieser Effekt führt auch zu einer Zweiteilung der Wirtschaft. Gerade in den Berichten vieler US-Unternehmen, deren Kunden in einkommensschwachen Segmenten konzentriert sind, lässt sich die strukturelle Kaufkraftschwächung sehr deutlich ablesen. Im Ergebnis steht auf der einen Seite eine boomende Wirtschaftslage für großkapitalisierte Unternehmen, Firmen mit Zugang zu Staatsaufträgen, Technologieunternehmen und speziell allen KI-Mag7-nahen Unternehmungen, während auf der anderen Seite viele Dienstleister sowie kleine und mittlere Unternehmen in einem Stagflationsumfeld gefangen sind. Dass diese beiden Ökonomien sehr unterschiedliche Endmärkte mit konträren Dynamiken bedienen, ist auch eine Ursache für die deutliche Auseinanderentwicklung von Unternehmensgewinnen und Aktienkursen dieser beiden Segmente, die beispielhaft durch Nasdaq 100 und Russel 2000 approximiert werden können.
Abb. 06: Wertentwicklung von Technologieaktien im Vergleich zu Small- und Mid-Caps
"Inflation ist das erste Allheilmittel des schlecht geführten Staates (…)"
Ernest Hemingway
Die anhaltende "fiskalische Dominanz" scheint für die kommenden Jahre ein realistisches Basisszenario, unter dem die Portfoliokonstruktion agieren muss. Anhaltend hohe Defizite, steigende Verschuldung und eine Reihe von strukturellen Treibern (Onshoring, Umbauten der Energieversorgung, Trend zu mehr Protektionismus und Zunahme geopolitischer Krisenherde) könnten wiederholte Inflationsschübe und Inflationsüberraschungen folgen lassen. Auf die Notenbanken als Korrektiv zu ausgabefreudigen Staaten ist in dieser Gemengelage nur bedingt Verlass. Die Erfahrungen der letzten Jahre zeigen, dass sie sich allzu bereitwillig in den Dienst der Zentralstaaten stellen. Die Zinssenkung der EZB im Juni 2024 ist ein weiterer Beleg für die Tendenz, im Zweifelsfall gegen Preis- und Geldwertstabilität zu handeln, dafür aber die Interessen von Konjunkturbelebung, lockeren Finanzierungsbedingungen und realen Entschuldungsmöglichkeiten zu bedienen. Noch bevor die Inflationsraten überhaupt das 2%-Ziel (welches an sich bereits schon einer Selbstermächtigung der Notenbank gleichkommt – echte Preisstabilität wäre bei maximal 0% Preissteigerungen gegeben) erreichen, geschweige denn sich längere Zeit zuverlässig unterhalb dieser Marke eingepegelt haben, entschied sich die Notenbank für den Zinsschritt – obwohl kurz zuvor die Inflationsrate in der Eurozone gar wieder von 2,4% auf 2,6% angestiegen war. Die Kerninflation beschleunigte sich mit gleicher Veröffentlichung von 2,7% auf 2,9%. Zinssenkungen bei 5% Lohnwachstum und 2,9% Kernteuerung sind schwerlich mit dem Ziel von Preisstabilität in Einklang zu bringen. Der Zinsschritt löste aber kaum wahrnehmbaren Widerspruch aus. Es steht zu befürchten, dass das 2%-Preisziel – ähnlich den Maastricht-Kriterien für die Staatsschulden – schleichend zu einem genauso unverbindlich und bei Bedarf flexibel handhabbaren Wert erodiert und immer weniger Lenkungswirkung für geldpolitische Entscheidungen entfaltet. Bedenklich ist auch die Aussage von EZB-Chefvolkswirt Lane zu werten, der kürzlich dafür warb, Energiepreissteigerungen künftig in geldpolitischen Entscheidungen weitgehend zu ignorieren.
Investmentimplikationen: Der Inflationsanreiz für Staat und Notenbanken bleibt bestehen. Daher ist es für Anleger weiterhin notwendig, wachsam gegenüber Inflationsüberraschungen zu sein und im Portfolio inflationsschützende Instrumente vorzuhalten. Umgekehrt gilt es Anlagestrategien zu vermeiden, die sich im Inflationsfall fragil zeigen. Für beide Strategien hatten wir in vergangenen Berichten ("What were you thinking?" und "Der reale Kapitalerhalt und seine Feinde") mögliche und zuverlässige Portfoliobausteine aufgezeigt. Die Vorfestlegung der EZB auf eine Zinssenkung im Juni illustriert den strukturellen Bias hin zu einer lockeren Geldpolitik, trotz widersprüchlicher Daten, der in die Zukunft gerichtet bestehen bleiben wird. Wohlüberlegte Rentenstrategien betonen vor diesem Hintergrund inflationsindexierte Anleihen und kurze bis mittlere Laufzeitsegmente. Fremdwährungskomponenten können sinnvoll sein. In einigen Währungsräumen lassen sich noch immer hohe, positive Realzinsen vereinnahmen, die stabilitätsorientierte Zinspolitik ist dabei in einigen Fällen gar von unabhängigeren, inzwischen verlässlicheren Notenbanken gedeckt. Sachwerte sind (allerdings je nach gezahltem Einstandspreis) in vielen Fällen ein zuverlässiges und inflationsreagibles Element, um Vermögen gegen Kaufkraftverlust zu verteidigen. Bei Aktien ist in der Auswahl entscheidend, mit wieviel Preissetzungsmacht Unternehmen in der Lage sind, steigende Kosten in Verkaufspreise überzuwälzen. Ein wesentliches Qualitätsmerkmal in der Selektion kann sein, inwieweit es Unternehmen gelingt, die Dividendenzahlung im 5-Jahres-Schnitt oberhalb der vorherrschenden Inflation wachsen zu lassen. Inflationsrobuste Geschäftsmodelle finden sich vielfach in den Sektoren Industrie, Versicherung, Energie, sowie Grund- und Rohstoffe.
Die Welt begibt sich in eine Neuauflage der Fehler von vor 100 Jahren: Protektionismus, Militarismus und Interventionismus als Gift für Frieden, Freiheit und Wohlstand
Für den Inflationsausblick alles andere als hilfreich wirkt überdies die angespannte geopolitische Lage mit all ihren Konflikten, Krisenherden, zunehmender Konfrontations- und abnehmender Verständigungs- und Kooperationsbereitschaft. Die gestiegene Konflikt- und Eskalationsgefahr im militärischen Bereich deutet auf weiter steigende Kosten und Fehlallokation volkswirtschaftlicher Ressourcen.
"Frieden ist deflationär, Krieg ist inflationär"
Louis-Vincent Gave
Militärausgaben waren in der Geschichte immer, ohne Ausnahme, inflationär. Die Begleiterscheinungen bewaffneter Konflikte – weniger internationaler Freihandel, weniger Arbeitsteilung, weniger Kooperation – verstärken zugleich den Preisdruck konfrontativer und instabiler Zeitepochen zusätzlich. Die besorgniserregende globale Hochrüstung ist für Anleger gleich mehrfach relevant: Historisch waren Perioden kriegerischer Auseinandersetzungen stets Phasen, die negativ auf erzielbaren Kapitalmarktrenditen lasteten. In Deutschland vergeht aktuell kaum eine Woche, in der nicht von Großaufträgen des Bundes und Bestellungen von Kampflugzeugen, gepanzerten Fahrzeugen, Militärsatelliten und ähnlicher Ausrüstung zu lesen ist. Jeder Euro, der in diesem Kaufrausch in die Kassen des militärisch-industriellen Komplexes fließt, steht definitionsgemäß nicht für sinnvolle Investitionen in Bildung, Forschung und Infrastruktur zur Verfügung. Der Kapitalstock erodiert weiter, die Chancen für künftiges Wachstum und kommende Kapitalrenditen werden geschmälert. Innovation und Wohlstand stehen zurück.
"(…) Das zweite Zaubermittel ist der Krieg.
Beide bringen einen zeitweiligen Aufschwung, und beide führen zum völligen Zusammenbruch."
Ernest Hemingway
Zudem steigt mit immer weiterer Hochrüstung naturgemäß die Gefahr einer Eskalation mit unabsehbaren Folgen. Allein die Präsenz und Verfügbarkeit eines zunehmenden Überangebots an Militärtechnik erhöht die Risiken einer schlussendlichen Fehlkalkulation oder politischen Versuchung des tatsächlichen Einsatzes. Historisch finden sich zahllose Beispiele außenpolitischer Eskalation, mit dem Ziel, einen Befreiungsschlag aus innenpolitischen Problemen zu erwirken. Leider mangelt es aktuell nicht an Situationen, in denen sich Regierungen in Versuchung sehen könnten. Die Polarisierung und große Unzufriedenheit weiter Bevölkerungsteile (zum großen Teil auch als direkte Folge der Inflationsschäden der letzten Jahre) erhöhen oft den innenpolitischen Druck.
"Denken Sie niemals, dass Krieg, egal wie notwendig und gerechtfertigt, kein Verbrechen sei."
Ernest Hemingway
Im geopolitischen Gesamtkontext lassen sich zur Stunde kaum Signale ausmachen, die eine Abkehr von der vorherrschenden Konfrontationspolitik und Eskalationsbereitschaft möglich scheinen lassen. Initiativen der Entspannung und Verständigung sind rar. Stattdessen scheinen viele Akteure in einer geschichtsvergessenen Überheblichkeit gefangen, die unverkennbare Parallelen zum "Schlafwandeln" vor Ausbruch des 1. Weltkriegs aufweist. Im Kern vieler geopolitischer Krisenherde steht die sich abzeichnende Neuordnung der globalen Macht- und Kräfteverhältnisse. Mit dem politischen, militärischen und wirtschaftlichen Erstarken neuer Mächte ist die einst unumstrittene Hegemonialrolle der USA kein Naturgesetz mehr. Der alte Hegemon zeigt aber wenig Bereitschaft, in einer schlussendlich doch nicht vermeidbaren Neuordnung eine konstruktive, kooperative Rolle zu finden. Die teils rustikale Verteidigung der Vormachtstellung gegen eine zunehmend multipolare Weltordnung begründet viele der sich aktuell verschärfenden Konfliktherde und entsprechend nachfolgenden Rüstungsausgaben.
Bislang folgen viele westliche Staaten mit wenig Rücksicht auf eigene Interessen dem Kurs der USA. Die dabei oft selbstüberschätzende, moralisch überfrachtete und scheinbar in den Realitäten der 1970/80er Jahre stehengebliebene Grundhaltung ignoriert nicht selten die neuen globalen Realitäten und Kräfteverhältnisse. Sie trägt überdies nicht zur Verständigungsbereitschaft bei. Eine klare Abkehr vom Hegemonialanspruch der USA ist hingegen in vielen Schwellenländern der BRICS+ Gruppe erkennbar. Fehlender Rückhalt für die westliche Agenda zeigte sich zuletzt bei der Ukraine-"Friedenskonferenz" in der Schweiz, bei der viele Schwergewichte nicht bereit waren, die Abschlusserklärung mitzutragen. So verweigerten u.a. Brasilien, Mexiko, Saudi-Arabien, Südafrika, Indien und Indonesien die Zustimmung der von westlichen Staaten formulierten Zustandsbeschreibungen. Während also viele westliche Staaten dem US-Kurs noch weitgehend bedingungslos folgen, gewinnen die BRICS+ Staaten an Selbstbewusstsein und Gestaltungswillen. Die Mehrzahl dieser aufstrebenden Staaten ist gewiss kein Hort von Freiheit, Liberalismus und Marktwirtschaft. Umso wichtiger wäre das Werben für eine global regelbasierte Agenda, deren Spielregeln zum jeweils gegenseitigen Nutzen und unter Achtung der Interessen aller Beteiligter wirken. In jedem Fall scheint vorgezeichnet, dass die Fähigkeit der USA graduell schwindet, den globalen Kurs in gleichem Maße vorzugeben, wie es in der Nachkriegsordnung lange Normalzustand war.
Auch auf Ebene der Handelspolitik versuchen die USA, ihre Vormachtstellung zu verteidigen. Nicht minder bedenklich führt der Gebrauch von Sanktionen, Sanktionsdrohungen, Zöllen und Handelshemmnissen zu einer zunehmend protektionistischen Ausrichtung des Welthandels, der zwangsläufig für alle Beteiligten in höheren Preisen und weniger Wohlstand mündet. Die zunehmend konfrontative Handelspolitik ist aktuell primär gegen China gerichtet, zuletzt wurden weitere drakonische Zölle (u.a. 25% Zoll auf Batterien, 100% auf Elektroautos) verhängt. Chinas Außenminister Wang Yi warf den USA vor, im Bestreben die Hegemonialstellung zu verteidigen, "den Verstand verloren" zu haben und "Mobbing" gegenüber China zu betreiben. Auch die EU lässt sich in die Handelskonflikte einspannen und verhängt ihrerseits Zölle gegen die Einfuhr chinesischer Waren, besonders prominent ebenfalls am Beispiel von Elektrofahrzeugen. Die Wirkung ist grotesk – war es doch politisch lange Zeit erklärtes Ziel, mehr Fahrzeuge mit Elektroantrieb auf europäische Straßen zu bringen. Dafür wäre eine verbesserte Erschwinglichkeit nötig, also mehr und billigere Elektroautos. Zölle gegen genau diese günstigeren Modelle aus China konterkarieren eindeutig das Ziel.
Es gilt in Erinnerung zu rufen, dass Zeitperioden der Abschottung und des Protektionismus niemals günstige Bedingungen für Wachstum und Wohlstand mit sich brachten. Im Gegenteil lehren die Erfahrung der 1920er Jahre (auch damals ausgehend von protektionistischen Maßnahmen der USA mit Emergency Tariff Act 1921, Fordney–McCumber Tariff Act 1922 und schließlich dem weitreichenden Smoot-Hawley Act 1930) und der nachfolgenden Depression, welche zerstörerische Wirkung auf Freihandel und Prosperität die Handelsbarrieren mit sich brachten, wie sie bestehende Wirtschaftskrisen verstärkten und schließlich auch geopolitische Konflikte und Gräben weiter vertieften.
Abb. 07: Krieg, Währungsreform und Inflation gefährdeten in den letzten 100 Jahren den realen Kapitalerhalt
Konflikte, Kriege, Abschottung und Zeiten großer Umwälzungen waren mithin stets Gift für Kapitalrenditen. Oft gingen Phasen der Konfrontation auch einher mit Hochinflation. Nahezu immer war Inflation die Folge imperialer Überdehnung früherer Weltreiche in ihrer Spätphase. Prominentes Fallbeispiel dafür ist das Römische Reich mit Hyperinflation und Münzverschlechterung. Doch auch in Frankreich mündete die Überforderung öffentlicher Finanzen gleich mehrfach in fiebrigen, hyperinflationären Spekulationsblasen und schließlich folgenreichen sozialen Unruhen. Die späte Sowjetunion und andere Ostblockländer hatten mit der Überforderung ihrer Ausgabenpolitik entsprechende Inflations- bzw. Währungsverfallerfahrungen.
Der Historiker Niall Ferguson zieht in seinem Essay ("We’re all Soviets now”) gar Parallelen zwischen dem Zustand der Sowjetunion der letzten Tage und den Vereinigten Staaten heute: Staatsdefizite im Dauerzustand, ein aufgeblähtes Militär, greise Politiker, eine den Lebensrealitäten entrückte Nomenklatura. Selbst zwischen der sinkenden sowjetischen Lebenserwartung aufgrund des grassierenden Alkoholmissbrauchs und den heute in den USA steigenden Zahlen der Drogentoten finden sich Ähnlichkeiten.
Die USA scheinen entschlossen, einen wenig kompromissbereiten Weg der Konfrontation und des Protektionismus fortzusetzen. Ihr Agieren erinnert an eine siegverwöhnte, nominal überlegene Fußballmannschaft, die sich gegen einen unterschätzten, überraschend spielstarken Gegner nur durch grobes Foulspiel zu helfen weiß. Einige BRICS-Staaten verlassen wiederholt ihre "Coachingzone" in unsportlicher Weise. Auf internationaler Bühne fehlt der Schiedsrichter, der entsprechende Regelverstöße mit gelben oder roten Karten disziplinieren könnte. Die Nichtachtung oder gar versuchte Unterordnung legitimer Interessen anderer Staaten unter die eigenen Interessen wirkt auf beiden Seiten des "Spielfelds" kurzsichtig und unklug. Gerade in Anbetracht der wachsenden Bedeutung der BRICS+ Staaten im Vergleich zur westlichen Einflusssphäre der G7 böte sich zum gegenseitigen Nutzen vielmehr Kooperation und friedliche Koexistenz auf Basis marktwirtschaftlicher Spielregeln an.
Abb. 08: Der Wachstumsbeitrag der BRICS-Länder übersteigt den der G7
Investmentimplikationen: Das Risiko für eine weitere Verschärfung bestehender geopolitischer Spannungen ist leider hoch. Für Anleger ergeben sich aus der Möglichkeit eskalierender Konflikte keine erkennbaren Positivszenarien. Allenfalls können klassische "sichere Häfen" je nach individueller Risikoabschätzung in entsprechender Gewichtung für das Gesamtvermögen als Hedge gegen adverse Szenarien dienen. Solange die dominierende Policy-Richtung nicht auf Kooperation dreht, bleibt die Friedensdividende außer Kraft, die globalen Freihandelsströme belastet.
Europa versäumt es bislang, sich von den Interessen der USA zu emanzipieren und stärker eigene Ziele zu verfolgen. Der ökonomische, kulturelle und spirituelle Abstieg (alle drei bedingen sich gegenseitig) des Kontinents ist auch eine Folge einer fehlenden eigenen Identitäts- und Zieldefinition. Die einseitige Abhängigkeit, in die man sich begeben hat, wirkt inzwischen klar gegen die Wettbewerbsfähigkeit und Standortqualität der meisten europäischen Länder. Die resultierenden Konsequenzen speziell für Deutschland beschrieb u.a. Deutsche Börse Chef Theodor Weimer in seiner kürzlichen "Wutrede" treffend ("Ramschladen", "Entwicklungsland"). Solche Weckrufe aus der Wirtschaft kommen spät. Angesichts des seit Jahren zu beobachtenden Niedergangs der heimischen Standort– und Rahmenbedingungen wären nicht nur frühere und prominentere Mahnungen für Reformen wünschenswert gewesen, sondern sicher auch der Appell, den strategischen Kurs stärker aus der engen Umklammerung US-amerikanisch dominierter Interessen zu befreien.
Stattdessen nimmt Europa weiter an Symbolpolitik teil, wie Zöllen gegen China oder verschärften Sanktionen gegen russische Rohstoffe. Das jüngst initiierte Annahmeverbot für russisches Kupfer, Nickel und Aluminium an den Rohstoffbörsen London Metal Exchange und Chicago Mercantile Exchange verschärfen bestehende Knappheiten in den Metallen. Entsprechende Preissprünge ließen nicht lange auf sich warten. Inflationsdämpfend wirken diese Maßnahmen in jedem Fall nicht.
"The only free market leader in the world right now is bizarrely in Argentina”
Stanley Druckenmiller
Dass Appelle wie jene von Theodor Weimer nicht einmal mehr eine breite gesellschaftliche Debatte auslösen, sondern weitgehend verhallen, zeigt bedauerlicherweise die Unfähigkeit und Unwilligkeit weiter Teile der Verantwortungseliten in Politik und Wirtschaft eine glaubhafte Kurskorrektur vorzunehmen. Die Lasten aus Bürokratie, Bevormundung, Innovationsfeindlichkeit, Dirigismus, Umverteilung und Ideologie münden in Deutschland zunehmend in einer scheinbar billigend in Kauf genommenen Deindustrialisierung (während in den USA eine Re-Industrialisierung in vollem Gange ist). Offenkundig ist in Vergessenheit geraten, dass das Gelingen der "sozialen Marktwirtschaft" vor allem zuallererst auch der "Marktwirtschaft" bedarf.
"Der Kluge sieht das Unglück kommen und verbirgt sich;
die Unverständigen laufen weiter und müssen büßen"
Sprüche 22,3
Geldmenge, Gold und Gesamtertrag
Eine weitaus konstruktivere Selbstreflektion ist dem vormaligen britischen Notenbankchef Mervyn King gelungen. Wie auch wir in der Vergangenheit wiederholt das fehlgeleitete Vertrauen in die Prognosefähigkeit von "Experten" und Zentralbanken hinterfragt haben, kritisiert King in Rückbetrachtung die Reaktionsfunktion der Notenbanken auf die Coronapandemie als Serie eklatanter Fehleinschätzungen. Wie in anderen vermeintlich von Wissenschaftlichkeit geprägten Bereichen auch, steht fundierten Entscheidungsprozessen oft blinde Modellgläubigkeit und Anmaßung von Wissen entgegen. Folge sind Fehlsteuerungen, Fehlsignale, nicht optimale oder gar falsche Policy-Entscheidungen, die oft in hohen Schäden und Kosten resultieren. King kritisierte "Gruppendenken" und Kollektivversagen der "wissenschaftlichen Ökonomen" als Ursache für die Inflationskrise 2022. In der Börsenzeitung sagt King: "Viele Wirtschaftswissenschaftler (…) haben auf die wahrscheinliche Folge einer sehr wesentlichen monetären und fiskalischen Expansion hingewiesen, die die aggregierte Nachfrage steigert, während das aggregierte Angebot durch Maßnahmen zur Eindämmung von Corona gesenkt wurde. Wenn zu viel Geld zu wenig Gütern hinterherjagt, ist das ein Rezept für Inflation und ist es immer gewesen." Laut King sei es "dumm" gewesen, auf Modelle zu vertrauen, deren Inflationsprognosen die Geldmenge ignorieren. Man habe daher die Inflation nicht kommen sehen und sei dann überrascht gewesen. Auch Fed-Chef Powell hatte im Rahmen einer Kongressanhörung 2020 keine Inflationsgefahren gesehen und auf die Frage nach den Risiken der Geldmengenausweitung angegeben, man müsse die Bedeutung der Geldmengen "verlernen." Bereits der Präsident der Reichsbank während der Weimarer Hyperinflation, Rudolf Havenstein, stellte damals die Rolle der Geldmenge als inflationsursächlich in Abrede. Offenkundig erfolgen trotz der hohen Schäden, welche Hoch- und Hyperinflation stets hinterlassen, kaum anhaltende Lernerfahrungen.
Investmentimplikationen: Der begrenzte Lern- und Aufarbeitungswille beinhaltet für Anleger freilich eine nützliche Botschaft: Das Primat der beständigen Geldmengenausweitung soll möglichst ungestört weiterverfolgt werden können. Fiskalische Maßlosigkeit und ungebremster Ausgabenhunger erfordern ein Mindestmaß der Kooperation zwischen Geld- und Fiskalpolitik. Wiederholt belegt ist damit vor allem, dass die Interessen von Anleihegläubigern keinem starken Schutz unterliegen.
Generell kann die Aussage getroffen werden, dass die Geldgeschichte über Jahrhunderte bis auf wenige Ausnahmen stets eine Geschichte der gegen die Interessen von Sparern und Anleiheinvestoren gerichteten Politik gewesen ist. Weil Geld stets staatsnah organisiert war und ist und damit primär die Interessen des Staates und seiner Interessengruppen befriedigt, kommt es immer wieder zur Übervorteilung der Geldnutzer und einem Vermögenstransfer von Sparern und Gläubigern hin zum Staat und ausgewählten begünstigten Gruppen. Diese Grundthese findet sich auch bestätigt in Lyn Aldens lesenswertem Buch "Broken Money".
Alden weist anhand zahlreicher historischer Beispiele nach, dass immer dann, wenn ein Anreiz zum "Debasement" der Währung besteht, über kurz oder lang auch dazu gegriffen wird und in der Folge Kaufkraft und Außenwert der jeweiligen Währung beschädigt werden ("If debasement can occur, it eventually will occur”). Besonders intensive Geldmengenausweitung zur Finanzierung staatlicher Defizite waren historisch wenig überraschend während Kriegszeiten zu beobachten. Wie auch wir in vergangenen Berichten aufgezeigt hatten, erleiden Vermögensinhaber vorhersehbar Kaufkraftverluste, wenn die Performance ihrer Anlagen nicht mindestens Schritt halten kann mit der über einen Anlagezeitraum erfolgten Geldmengenausweitung. Beispielhaft verweist Alden auf die breite US-Geldmenge, die 2010 bei 8,5 Billionen US-Dollar lag, Ende 2022 hingegen bei 21,4 Billionen Dollar, ein Zuwachs von 7,3% p.a. – dieser Wert war für den Zeitraum dieser zwölf Jahre die entsprechende Hürde, die mit Nachsteuerrenditen von Anlagen übertroffen werden musste, um den Kapitalerhalt erreichen zu können. Über diesen Zeitraum war mit Null- und Niedrigzinspolitik der Notenbanken aber kaum Zinseinkommen zu generieren. Es kann fast schon als Normal- und Regelzustand angenommen werden, dass aus risikoarmen Zinsanlagen erzielbare Anlagerenditen deutlich unterhalb der Rate der Geldmengenausweitung liegen. Aktuell befinden sich die Zinsen zwar immerhin im Vergleich zu den Vorjahren auf erhöhtem Niveau, ob dieses aber ausreichen wird, um das künftige Wachstum des Geldangebots zumindest auszugleichen, scheint fraglich. Alden stellt als naheliegende Lösung fest: "Over the long arc of time, from a saver’s perspective it will almost always be better to hold a scarce commodity money directly than to hold the promise made by a kingdom, empire, or nation-state. The former is subject to the firm laws of nature, while the latter is subject to the fallibility of mankind.” Interessant ist ferner die Beobachtung, dass das Geldmengenwachstum in den USA eine gewisse Parallelität zur Staatsverschuldung aufweist: Im Mai 2014 waren die USA mit 17,5 Billionen US-Dollar verschuldet, heute erreicht der Schuldenstand knapp 35,3 Billionen, ein Zuwachs von 7,4% p.a. und damit erstaunlich nah an den 7,3% p.a. Geldmengenwachstum. Der Gedanke liegt nahe, dass eben jenes Geldmehrangebot durch die Zentralbank bereitgestellt wird, welches zur Finanzierung der Defizite nötig ist.
Investmentimplikationen: Strukturell hohe Staatsdefizite und Schulden sprechen fortgesetzt für erhöhte Inflation und finanzielle Repression. Zwar ist im Rezessionsfall immer wieder auch mit Rallyes langlaufender Anleihen zu rechnen, doch ist das grundsätzliche Chancen-Risiko-Verhältnis von Staatsanleihen mit langen Restlaufzeiten zuungunsten der Anleger gerichtet. Die für längere Zeit weiter erhöhte Inflation könnte auch den Spielraum der Notenbanken für Zinssenkungen einengen. Es ist somit denkbar, dass sich das Zinsniveau für kurzfristige Anlagen in den USA noch länger oberhalb von 5% und in Europa oberhalb von 3% halten kann. Investoren erzielen in kurzen Laufzeitbändern damit weiterhin vergleichsweise risikoarmes und ansprechendes Zinseinkommen.
Als Schutz vor weiterer Inflationierung und vor dem Inflationsinteresse des Staates hat historisch Gold stets seine verlässliche Eignung bewiesen. Der wie immer exzellente "In Gold We Trust Report" von Ronald-Peter Stöferle und seinen Kollegen bietet auch 2024 wieder eine Fülle lesenswerter historischer und aktueller Einwertungen zur Rolle des Edelmetalls im Anlageportfolio.
Zuletzt hatte die Entkoppelung des Goldpreises bei vielen Marktbeobachtern für Erstaunen gesorgt. Historisch übliche Treiber von Goldpreis-Rallyes, wie ein schwacher Dollar oder fallende (Real)Zinsen scheiden derzeit als Erklärung aus. Doch bei genauerer Betrachtung könnte die Stärke des Edelmetalls rationaler sein, als auf den ersten Blick vermutet. Die robuste Nachfrage nach dem Edelmetall in den letzten Monaten wird primär physischen Goldkäufern in der östlichen Hemisphäre zugeschrieben. Die chinesische, aber auch andere asiatische Notenbanken kaufen Gold im großen Stil. Gleichzeitig nehmen die Bestände in westlichen ETFs ab. Auslieferungen physischer Bestände in London oder New York werden nach Asien oder in den Nahen Osten verschifft. Gold wandert damit in erheblichem Umfang von West nach Ost. Hier zeigt sich eine klare Erkenntnis: Während das Systemvertrauen im Westen noch hoch ist, sehen östliche Marktteilnehmer die klare Notwendigkeit einer Versicherung gegen Systeminstabilität und fragen ein von westlicher Finanzinfrastruktur unabhängiges Instrument nach. Das Grundmisstrauen asiatischer Investoren in vormals bewährte Reservewährungen und Anlagen in westliche Staatsanleihen scheint dabei durchaus begründet:
- Die vorsätzlich betriebene reale Entwertung von Festzinsanlagen in Euro oder US-Dollar macht diese als langfristige Anlagen für Investoren aus Schwellenländern unattraktiv.
- Die Erosion von Eigentums- und Freiheitsrechten in vielen westlichen Regionen bzw. deren willkürliche und situative Auslegung reduziert das Vertrauen in US- oder Euro-domizilierte Anlagen.
- Risiken aus unsolider Finanz- und Fiskalpolitik legen nahe, dass Investitionen in westlichen Anlagen für ausländische Investoren künftig ungünstigeren Bedingungen unterliegen könnten, von erhöhter Besteuerung bis hin zu Zugangsbeschränkungen oder denkbaren Kapitalverkehrskontrollen
- Spätestens seit dem Präzedenzfall der Konfiszierung russischer Auslandsvermögen durch westliche Staaten besteht für viele Schwellenländer die objektive Notwendigkeit, sich als "Derisking-Maßnahme" unabhängig von vergleichbaren Sanktionsmaßnahmen zu machen.
Gold ersetzt daher sukzessive den US-Dollar als Reservewährung. Einst als risikofrei betrachtete US-Dollar und Euro- Anlagen werden heute in vielen Schwellenländern als politischer Willkür unterliegend angesehen und daher gemieden. Gold ist eine liquide und naheliegende Alternative, die Unabhängigkeit von den genannten Risiken ermöglicht.
Konstruktive Portfolioerträge voraus?
Bei allen aktuell bestehenden Risiken gibt es für Investoren aber auch eine wichtige, erfreuliche Botschaft: Der Realzins ist und bleibt vermutlich auf einem Niveau, welches nach vorne blickend durchaus konstruktive Portfoliorenditen ermöglichen kann.
Wie wir in der Vergangenheit bereits gezeigt hatten, hängen die Renditemöglichkeiten eines Portfolios wesentlich an den Ausgangsbewertungen und vor allem am zum Ausgangszeitpunkt einer Investition vorherrschenden Realzins. Hohe positive Realzinsen gehen einher mit nachfolgend ansprechenden Investmenterträgen, auf niedrige oder gar negative Realzinsen folgen hingegen meist enttäuschende Gesamterträge. Diese gegenseitige Abhängigkeit gilt für nahezu alle Anlageklassen. Sinkende Realzinsen führen zu steigenden, oft überhöhten, Preisen von Vermögenswerten. Deren höhere Preise senken dann im Ergebnis die Gesamtertragserwartung für die Zukunft. Umgekehrt gilt: Ein der Wirtschaftsaktivität angemessenes und real positives Zinsniveau ermöglicht realistische Marktpreise für Sach- und Vermögenswerte. Erträge und künftige Preisveränderungen dieser Investments gehen sehr viel wahrscheinlicher mit zufriedenstellenden Gesamterträgen einher.
Abb. 09: Portfolioerträge über 5 Jahre in Abhängigkeit des Realzinses
Etwas verknappt gilt die Aussage: Alles hängt am Realzins. Die Renditen eines gemischten Portfolios aus Aktien und Anleihen zeigen über einen 5-Jahres-Zeitraum (Kapitalmarktzyklus) einen klaren Zusammenhang mit dem Realzins zum Beginn der Periode. Nach Jahren niedriger und negativer Realzinsen herrscht heute in den wichtigsten Anlageregionen der Welt wieder ein entweder knapp (Europa) oder deutlich (USA) positives Realzinsumfeld vor. Die Aussichten über die kommenden 5 Jahre konstruktive Portfoliorenditen erwirtschaften zu können, stehen daher auf Basis historisch beobachteter Zusammenhänge nicht schlecht.
Die Festlegung der innerhalb des Kapitalmarktzyklus angemessenen und opportunen Portfoliozusammensetzung ist jeweils eine fortlaufende Aufgabe. In unseren Multi-Asset Strategien und in der Verwaltung des BKC Treuhand Portfolios versuchen wir stets, Investorengeld da einzusetzen, wo Marktprämien mit einer ansprechenden Vergütung der Risiken einhergehen, umgekehrt meiden wir schlecht kompensierte Risiken. Zu letzteren zählen wir aktuell nicht nur Zinsrisiko in langlaufenden Anleihen, sondern zunehmend auch Kreditrisiken. Nachdem Unternehmensanleihen zwischen 2020 und 2023 vielfach in der Breite mit begründeten Risikoaufschlägen handelten, ist aktuell ein sehr viel selektiveres Vorgehen erforderlich, um am Rentenmarkt Kreditrisiken angemessen vergütet zu bekommen. In weiten Teilen des Marktes sind sehr optimistische Szenarien gepreist, es ist kaum eine Sicherheitsmarge vorhanden, auf die wir üblicherweise bei allen Anlageentscheidungen bestehen.
Abb. 10: Risikoaufschläge von Investment-Grade-Anleihen und High-Yield-Anleihen im 5-Jahres-Zeitraum
Vielfach ist aber auch gar keine erhöhte Bereitschaft für Kreditrisiken notwendig, um aktuell ansprechende Endfälligkeitsrenditen erwerben zu können. Die risikofreien Zinsen am kurzen Ende bieten Anlegern aktuell auskömmliche Gelegenheiten, Kapital real erhalten zu können. Diese Ertragsmöglichkeit ist derzeit auch die primäre Opportunität für konkurrierende Anlageklassen.