Hohe Korruptionsanfälligkeit im Gesundheitswesen


Die Antikorruptionsorganisation Transparency International Deutschland e.V. sieht die eklatante Gefahr von Transparenzmangel, Korruption und Betrug im deutschen Gesundheitswesen. "Wir wollen alle vom Gesundheitswesen Betroffenen, also mindestens neunzig Prozent der Bevölkerung, auf die Dunkelzonen des Gesundheitssystems hinweisen, um Intransparenzen zu bekämpfen und Änderungen zu erzwingen", so Anke Martiny, Vorstandsmitglied von Transparency Deutschland, in Berlin. Deutschland sei die Nummer 3 auf der Welt bei den Kosten des Gesundheitswesens. "Bei den Leistungen und ihren Ergebnissen für die Gesundheit der Bevölkerung rangieren wir aber nur im Mittelfeld unter den vergleichbaren Industrieländern", sagt Martiny.

Transparency Deutschland kritisiert vor allem die unklare Vergabepraxis bei den Rabattverträgen der gesetzlichen Krankenkassen, den unzureichend regulierten Vertrieb von Arzneimitteln und deren Rohstoffen sowie die fehlende Transparenz in der Arbeit und die Abhängigkeiten von der Pharmaindustrie der Europäischen Zulassungsbehörde für Arzneimittel. Durch unwirtschaftliche, verschwenderische und unsaubere Praktiken gehen jedes Jahr Unsummen an Versichertengeldern verloren. Experten des European Healthcare Fraud and Corruption Network schätzen überall in Europa Verluste zwischen drei und zehn Prozent des Gesundheitsbudgets. Das wären in Deutschland Milliardensummen. Strukturell habe sich nichts daran geändert, dass das deutsche Gesundheitswesen durch die föderalistisch organisierte Gesundheitsadministration und durch die Verlagerung der Handlungs- und Kontrollmaßnahmen vom Staat auf die öffentlich-rechtlichen Körperschaften des Gesundheitswesens äußerst intransparent, kleinteilig interessengeleitet und damit korruptionsanfällig sei, so Transparency International.

Dabei kristallisieren sich folgende wesentliche Themen heraus:

Korruptionsfördernde neue Strukturen im deutschen Gesundheitsmarkt

1. Als höchst problematisch haben sich die durch das GKV-WSG
(GKV-WettbewerbsStärkungsGesetz) erlaubten Rabattverträge  zwischen den gesetzlichen Krankenkassen und Herstellerfirmen herausgestellt. Sie sollten den Wettbewerb fördern und die Arzneimittelkosten senken. Da die Bedingungen solcher Verträge aber für Ärzte und Patienten nicht einsehbar sind, bringen sie für die Ärzte lediglich zusätzliche Bürokratie und möglicherweise Regressmaßnahmen mit sich. Den Pharmaherstellern aber ermöglichen sie, Mitarbeiter der gesetzlichen Krankenkassen durch geeignete Maßnahmen quasi zu Marketing-Agenten für fragwürdige und bedenkliche Pharma-Produkte zu machen, indem sie Kassenvertreter zu Rabattverträgen für solche fragwürdigen Produkte veranlassen. Die Kosten für diesen Zuwachs an korruptionsfördernder Intransparenz tragen vor allem die Versicherten, wenn ihre Ärzte über Rabattverträge mit den Kassen gezwungen sind, anstelle auf dem Markt verfügbarer preiswerter Generika von den Herstellern rabattierte, aber trotzdem immer noch überteuerte Markenprodukte zu verordnen. Diese Geschäfte sind deshalb möglich, weil die Rabattverträge nicht offen gelegt werden müssen und so die fachöffentliche Kontrolle entfällt.

2. Das von der Bundesregierung im AVWG (ArzneimittelVersorgungsWirtschaftlichkeit-Gesetz) formulierte Ziel, nur werbefreie Praxis-Software für ärztliche Verordnungen zuzulassen, kam im Jahre 2006 nicht zustande. Grund dafür war, dass die kassenärztliche Bundesvereinigung anstelle der vom Gesetzgeber geforderten Überprüfung und Zertifizierung mit den Software-Herstellern eine freiwillige Selbstverpflichtungserklärung vereinbarte und abschloss. Das Ergebnis ist mehr als unbefriedigend, nämlich völlig unwirksam – trotzdem intervenierte die Bundesregierung nicht. Die Versicherten tragen nun die Kosten für nach wie vor durch mangelhafte Software überhöhte Verordnungskosten, auch bei Nachahmerprodukten.

3. Die industriellen Verursacher von Gesundheitsschäden, die durch massiven Lobbyismus und problematische Werbemaßnahmen mittels Desinformationen, Irreführungen, Unterdrückungen und Fälschungen gefährliche Arzneimittel in den Markt gelangen lassen, genießen stärkeren staatlichen Schutz als die Patienten. Dies liegt darin begründet, dass es in Deutschland im Gegensatz etwa zu den USA nach wie vor – der Contergan-Fall liegt gerade fünfzig Jahre zurück – kein effektives Haftungsrecht mit Umkehr der Beweislast im Schadensfall im Medizinbereich (Verursacherprinzip) gibt.

4. Transparenzregeln für den geplanten Gesundheitsfonds stehen immer noch aus. Transparency Deutschland hat dies seit langem angemahnt, denn es ist nicht auszuschließen, dass die höheren Krankenversicherungsbeiträge nach der Einführung des Gesundheitsfonds wie bisher zu einem erklecklichen Batzen in den falschen Taschen verschwinden, weil kein öffentlich kontrollierbarer Ausgleichsmechanismus zwischen armen und reichen Kassen etabliert wird und damit der solidare Ausgleich der Lasten misslingt.

II. Gesundheitsgefährdende Globalisierungsfolgen durch intransparente Vertriebswege

1. Verschmutzte und verfälschte Rohstoffe für Arzneimittel gelangen zur Weiterverarbeitung in die "erste Welt" und führen zu Gesundheitsschäden bis hin zu Todesfällen.

Transparency Deutschland fordert seit Jahren eine lückenlose Kennzeichnung medizinischer Substanzen vom Ursprungsprodukt bis zum Endverbraucher, um Gesundheitsschäden verfolgen und ahnden zu können. Klandestine Vertriebswege sind besonders korruptionsanfällig, denn sie sind vielfach mit Schwarzmarktstrukturen, Schmuggel und Geldwäsche verbunden.

2. Arzneimittelfälschungen gelangen durch Drogendealer-Banden als Vollfälschungen oder Look-alikes  inzwischen auch auf den europäischen Markt und werden vorwiegend im Internethandel vertrieben, der kaum zu kontrollieren ist.

Transparency Deutschland fordert fälschungssichere Verpackungen, die in Verbindung mit einer lückenlosen Kennzeichnung in der Vertriebskette diesem Handel Schranken setzen.

3. Dopingmittel und andere gesundheitsgefährdende Substanzen werden weltweit in hohem Maße illegal vertrieben, ohne dass bei uns geeignete Gegenmaßnahmen der Bundesregierung und der Aufsichtsbehörden der Länder erkennbar werden.

Transparency Deutschland fordert größere Anstrengungen der Bundesregierung zur Bekämpfung illegalen Medikamentenhandels und zur Kontrolle des Internets sowie Kontrollmaßnahmen der Bundesländer, um gesundheitliche Schäden der Bevölkerung zu verhüten.

III. Vorrang wirtschaftlicher Interessen vor dem Gesundheitsschutz auf europäischer Ebene

1. Die Generaldirektion Unternehmen und Industrie ("Direction Générale Entreprises et Industrie") unterstützt die Europäische Zulassungsbehörde für Arzneimittel (EMEA) darin, Arzneimittel vorschnell zuzulassen, ohne ihre Wirksamkeit, Sicherheit und Wirtschaftlichkeit hinreichend geprüft zu haben. Ursächlich hierfür sind unter anderem nicht offen gelegte Interessenkonflikte von  "Experten", die gleichzeitig für die Herstellerfirma des zuzulassenden Produktes tätig sind, sowie der Vorrang von Industrieförderung vor dem Gesundheitsschutz in der EMEA.

2. Die Pharmakovigilanz soll von der EMEA auf die Herstellerfirmen übertragen werden, so dass es keine unabhängige Kontrolle über Sicherheit und Wirksamkeit von Arzneimitteln und Medizinprodukten mehr geben wird, welche schon jetzt durch den Einfluss der Wirtschaftskreise auf die EMEA nur eingeschränkt vorhanden ist. Verbrauchern wie Fachkreisen werden Zugang und Information über wesentliche regulatorische Datengrundlagen, über relevante Sicherheitsdaten sowie über bekannt gewordene Fälle unerwünschter Arzneimittelwirkungen mit dem Hinweis auf Geschäftsgeheimnisse oder auf den Datenschutz verweigert. Diese Intransparenzen sind das Ergebnis eines immensen und stetig wachsenden problematischen Lobbyismus, der auch national kaum kontrolliert werden kann. Die Bestrebungen der Bundesregierung, das "Bundesamt für Arzneimittel und Medizinprodukte" (BfArM) in eine industriefinanzierte Agentur DAMA umzuwandeln, was unter anderem durch Aktivitäten von Transparency Deutschland verhindert werden konnte, liegen auf derselben Ebene.

3. Obgleich das Arzneimittelgesetz der EU Arzneimittelwerbung für verschreibungspflichtige Produkte gegenüber den Endverbrauchern verbietet und gesundheitsbezogene Informationen ausdrücklich nur ohne Bezug auf Arzneimittel erlaubt, wird in der Generaldirektion Unternehmen und Industrie weiter darauf hin gearbeitet, der Pharmaindustrie die Möglichkeit zur Direktwerbung für verschreibungspflichtige Arzneimittel einzuräumen, wie dies in den USA, dem weltweit teuersten Gesundheitssystem, erlaubt ist. Damit könnten auch bei uns fragwürdige und risikoreiche Produkte mit desinformierenden Werbeaussagen unkontrolliert in den Markt gedrückt werden. Dadurch sinkt die Qualität der medizinischen Versorgung und steigen die Behandlungskosten, wie in den USA feststellbar. Eine Kontrolle solcher Werbung, die auch nach dem deutschen Heilmittelwerbegesetz verboten ist, ist praktisch nicht möglich, weil sie nach dem deutschen Vertriebsstandort der Herstellerfirma vom jeweiligen Bundesland zu leisten wäre. Die Länder haben sich qualitativ und aufgrund mangelndem Durchsetzungswillen zu einer der ärgsten Schwachstellen bei der Verfolgung nicht legaler Arzneimittelwerbung entwickelt.


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