Angesichts des Londoner Brexit-Antrags am Mittwoch haben deutsche Ökonomen vor großen schädlichen Auswirkungen für Großbritannien gewarnt. "Der Brexit-Prozess dämpft in diesem und im kommenden Jahr das Wachstum der britischen Wirtschaft spürbar", erklärte das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung. Die Düsseldorfer Ökonomen sagen für 2017 und 2018 eine Zunahme des britischen Bruttoinlandsprodukts von jeweils lediglich 1,3 Prozent voraus - nach 1,8 Prozent im Jahr 2016.
"In diesem und im kommenden Jahr werden die Briten erkennen müssen, dass der Brexit ihrer Wirtschaft schadet, und zwar über einen langen Zeitraum", so der Europa-Experte des IMK, Andrew Watt. Hoffnungen, Verluste im Wirtschaftsaustausch mit Europa durch eine stärkere Hinwendung nach Amerika auszugleichen, dürften sich als illusorisch erweisen, "insbesondere, wenn der US-Präsident seine protektionistischen Ankündigungen wahr macht". Donald Trump werde Großbritannien "sicherlich keinen Brexit-Bonus einräumen".
Als Hauptursache für die Wachstumsverluste führten die Konjunkturforscher an, dass die britischen Haushalte durch eine höhere Inflation infolge der 15-prozentigen Pfund-Abwertung seit Jahresbeginn 2016 weiter an Kaufkraft verlören. Gleichzeitig drohe durch die Aufnahme der Austrittsverhandlungen eine Investitionszurückhaltung bei den Unternehmen, die in kontinentaleuropäische Wertschöpfungsketten eingebunden seien.
Ifo-Präsident fordert Übergangsregelung
Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) warnt ebenfalls vor schwerwiegenden Folgen. "Mit der Brexit-Entscheidung steuert die britische Wirtschaft auf eine extrem ungewisse Zukunft zu", mahnt DIW-Konjunkturchef Ferdinand Fichtner. Vieles spreche dafür, dass die Briten in den Verhandlungen in den nächsten zwei Jahren "mit harten Bandagen kämpfen" würden. "In einem so unsicheren Umfeld werden es sich die Unternehmen in Großbritannien, aber auch im übrigen Europa, sehr genau überlegen, ob sie Geld für teure Maschinen ausgeben", meint Fichtner.
Für die deutsche Wirtschaft, deren Exporte zur Hälfte aus Investitionsgütern bestünden, könne dies "richtig schmerzhaft" werden. "Wir sollten uns von den bisher recht geringen Auswirkungen der Brexit-Entscheidung nicht einlullen lassen", mahnt Fichtner deshalb.
Der Präsident des Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung, Clemens Fuest, fordert unterdessen "kooperative Brexit-Verhandlungen" und eine Übergangsregelung zur Begrenzung der Brexit-Schäden. Fuest plädierte dafür, möglichst schnell Maßnahmen zu ergreifen, um die aufkommende Unsicherheit zu verringern.
"Die derzeit geltenden Regeln für den Handel zwischen Großbritannien und der EU sollten auch nach 2019 für eine Übergangsfrist weiter gelten, damit genug Zeit ist, über die künftigen Wirtschaftsbeziehungen zu verhandeln", schlägt der Ökonom vor. Sonst drohten für Unternehmen auf beiden Seiten des Kanals erhebliche Kosten. Deutschland habe ein großes Interesse daran, dass am Ende der Verhandlungen ein umfassendes Freihandelsabkommen bei Gütern und Dienstleistungen stehe, betont der Ifo-Präsident und warnt: "Ansonsten könnte Deutschland zu einem Hauptverlierer des Brexit werden."
Unternehmer wollen Planungssicherheit
Auch der Finanzmarktexperte beim Centrum für Europäische Politik, Bert Van Roosebeke, rechnet mit Übergangslösungen. Eine Verlängerung des zweijährigen Zeitraumes für den "Scheidungsvertrag" halte er für unrealistisch, "Übergangsszenarien" seien wahrscheinlicher, sagte Van Roosebeke zu Journalisten in Berlin. "Das ist letzten Ende aber nichts viel anderes als eine Verlängerung." Eine realistische Basis für das künftige Verhältnis könnte ein "Ukraine-Plus"-Modell in Anlehnung an das EU-Abkommen mit der Ukraine sein, das einen Binennmarktzugang ohne Freizügigkeit vorsehe.
Aus der deutschen Wirtschaft werden aber Warnungen vor negativen Folgen möglicher Ausnahmen laut. "Auch im Zeitalter der Digitalisierung bleibt der Handel mit Gütern und Dienstleistungen von größter Bedeutung", erklärt der Präsident des Bundesverbandes Großhandel, Außenhandel, Dienstleistungen (BGA), Anton Börner. "Gerade hier wären Zölle und regulatorische Barrieren schlecht für beide Seiten." Allerdings dürfe der Handel mit Gütern nicht losgelöst von den anderen Freiheiten gesehen werden, und auch Zugeständnisse für bestimmte Branchen seien "kritisch zu bewerten".
Zudem bräuchten die Unternehmer nach den zwei Jahren Verhandlungen "Planungssicherheit". Börner erwartet "zwei Jahre schwierige Verhandlungen". Ob sie zu schaffen seien, hänge "wesentlich davon ab, wie kooperativ sich insbesondere die britische Seite zeigt". Beide Seiten hätten kein Interesse daran, die Situation eskalieren zu lassen. "Das setzt aber auch die Einsicht der Briten voraus, dass, wer den Club aus eigenen Stücken verlässt, nicht kostenlosen Zutritt erwarten kann."
Auch der Präsident des Bundesverbandes Öffentlicher Banken Deutschlands (VÖB), Johannes-Jörg Riegler, fordert ein Einsehen der Briten. "Die britische Regierung muss bei der Umsetzung des Wählervotums nun akzeptieren, dass es keine Rosinenpickerei geben darf", betont er. Es solle aber ein faires Verhandlungsergebnis angestrebt "und auf praxistaugliche Übergangslösungen geachtet" werden. Riegler plädiert zudem für einen starken Finanzplatz Frankfurt in der EU der 27. Die EZB-Stadt sei auch der richtige Standort für die Europäische Bankenaufsichtsbehörde (EBA).