Im Münchener ifo Institut gibt es unterschiedlichen Auffassungen über die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB). Während ifo-Chef Hans-Werner Sinn die Zinssenkung von Anfang November scharf kritisierte, hält sein Kollege Timo Wollmershäuser die Zinsen sogar noch für zu hoch. Im Vorfeld der EZB-Ratssitzung in der kommenden Woche erklärt er: Eigentlich müssten die EZB-Zinsen negativ sein.
Wollmershäuser ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am ifo Institut und dort für Monetäre Makroökonomie zuständig. Außerdem hat er gerade vertretungsweise den Lehrstuhl für Finanzwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München inne. Mit anderen Worten: Er ist ein Experte, der sich zu seinem Spezialgebiet äußert.
Sinn dagegen ist auf vielen Feldern unterwegs. Nachdem er - gemeinsam mit Wollmershäuser - die so genannten Target-Salden populär gemacht hatte, unterbreitete er einen Vorschlag zur Verbesserung des deutschen Rentensystems und unterzog anschließend die deutschen Energiewende einer Fundamentalkritik. Populäre Themen sind ihm nicht fremd, und auch den Kontakt zu Boulevardpresse scheut Sinn ähnlich wie manche Politiker nicht.
"Draghi missbraucht das Euro-System, indem er den Südländern Billigkredite gibt, die sie am Kapitalmarkt so nicht bekommen würden", sagte er nach der jüngsten EZB-Zinssenkung der Bild-Zeitung und behauptete: "Damit die Euro-Krisenländer mehr sparen und dringend überfällige Reformen umsetzen, brauchen sie höhere Zinsen, die ihrem höheren Konkursrisiko angemessen sind, nicht niedrigere Zinsen."
Sein Kollege Wollmershäuser dagegen schreibt im jüngsten ifo-Schnelldienst: "Ähnlich wie schon 2009 käme eine für die EZB geschätzte Taylor-Regel zu dem Ergebnis, dass der angemessene Leitzins aufgrund der ausgeprägten konjunkturellen Schwäche und des geringen Preisdrucks negativ sein müsste und dass frühestens 2016 eine erste Leitzinsanhebung stattfinden sollte."
Taylor-Regeln beschreiben, wie eine bestimmte Zentralbank üblicherweise auf bestimmte konjunkturelle Rahmenbedingungen reagiert. Was Wollmershäuser meint, ist, dass der aktuelle Leitzins von 0,25 Prozent immer noch zu hoch ist, wenn man ihn mit dem Zinsniveau vergleicht, das die EZB in der Vorkrisenzeit für angemessen hielt.
Der Ökonom geht nun der Frage nach, wie die EZB mit dem Problem umgehen könnte, dass der Leitzins zwar eigentlich negativ sein müsste, es aber de facto nicht sein kann. Würde sie ihren Hauptrefinanzierungssatz auf null senken, müsste sie den Satz für Bankeinlagen bei der EZB, der schon jetzt bei null liegt, in den negativen Bereich senken. Davor scheut sie bisher zurück.
Eine weitere Möglichkeit, die auch andere Zentralbanken anwenden, ist die so genannte Forward Guidance. Die Zentralbank verspricht dabei, unter bestimmten Bedingungen ihre Leitzins bis zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht anzuheben. Glauben die Märkte diese Zusage, sinken die Marktzinsen im entsprechenden Laufzeitenbereich auf diesen Wert.
Ist Forward Guidance für die EZB eine Lösung? Wollmershäuser sagt: "Ja". Seiner Einschätzung nach müsste die EZB dazu wie die US-Notenbank verfahren und ihre bisher sehr allgemein gehaltene Niedrigzinszusage ("für einen längeren Zeitraum") konkretisieren und eventuell mit dem Erreichen von Zielwerten verbinden.
Allerdings sind die Voraussetzungen dafür bei der EZB nicht so gut wie bei der Federal Reserve. So spricht gegen eine Verwendung der Arbeitslosenquote, dass diese in Europa keine Zielgröße der Geldpolitik ist. Die sich eigentlich anbietende Inflationsrate wird aber von der EZB selbst regelmäßig prognostiziert, was ein gewisses Glaubwürdigkeitsproblem darstellt.
Wollmershäusers Vorschlag: "Um die Wirkung der zukunftsgerichteten Hinweise zu verstärken, könnte die EZB erneut mehrjährige Tender mit Vollzuteilung durchführen." Die sollten dann aber nicht wie die aktuell laufenden Geschäfte nach Fälligkeit zum durchschnittlich herrschenden Leitzins abgerechnet, sondern zum aktuellen Leitzins begeben werden.
Zum Abschluss seines Aufsatzes weist der ifo-Ökonom dann aber doch noch auf die Risiken hin, die ein derartiges Vorgehen mit sich brächte: In den Ländern mit relativ gesunder Konjunktur könnte es zu einem Inflationsanstieg und Vermögenspreisblasen kommen. Außerdem würde die Zentralbank auf diese weiterhin die Kapitalmärkte unterbieten, was am Ende zu einer noch stärkeren Fragmentierung der Finanzmärkte führen würde. Da klingt Timo Wollmershäuser dann doch wieder wie sein Chef Hans-Werner Sinn.
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