Nicht wenige Menschen sind in einer Wahrnehmungsfalle und "Filterblase" gefangen und suchen eine Bestätigung für das, was sie ohnehin schon glauben oder für richtig halten. Der "Mechanismus der kognitiven Dissonanzreduktion" vereinfacht komplexe Zusammenhänge in einem scheinbar einfachen Bild. Dies führt dazu, dass alles, was jemand an Informationen aufnimmt, erst einmal danach gefiltert wird, ob diese Informationen für wünschenswert gehalten werden oder nicht. Nicht selten wird diese kognitive Dissonanzreduktion durch ideologische Wunschbilder verstärkt.
Seriöse Risikobewertung sowie die Analyse sinnvoller präventiver oder reaktiver Maßnahmen bedingt jedoch einen evidenzbasierten und wissenschaftlichen Diskurs sowie eine interdisziplinäre Risikoanalyse basierend auf Fakten sowie fundierten Methoden jenseits "gefühlter Wahrheiten" oder ideologischer Weltbilder. Wenn dann scheinbar unvorhersehbar ein ungewünschtes Szenario eintritt, wird schnell der "Schwarze Schwan" aus dem Hut gezaubert. "Das konnten wir nicht wissen!" heißt es dann. Der "Schwarze Schwan" ist ein Symbol für Ereignisse, die als völlig unwahrscheinlich gelten und gänzlich überraschend eintreten. Doch bei genauerem Hinsehen stellt sich heraus, dass der scheinbar "Schwarze Schwan" nur ein dreckiger weißer Schwan war. Man hat schlicht und einfach schwache Signale und Frühwarnindikatoren ausgeblendet, diese nicht verstanden oder nicht ernstgenommen – da sie beispielsweise nicht in das eigene Weltbild passten. Der "Schwarze Schwan" wird zu einer Entschuldigung für die eigene Inkompetenz und Risikoignoranz. So wird eine "[…] vermeintliche Unvorhersehbarkeit von Ereignissen nur allzu oft als Ausrede für fehlendes Risikomanagement hergehalten […]. Auf diese Weise wird aus menschlichem Versagen höhere Gewalt, aus Leichtsinn Pech, aus Verantwortungslosigkeit Schicksal", so Nikolaus von Bomhard, Ex-Vorstandsvorsitzender des globalen Rückversicherers Munich Re.
Relevante Frühwarnindikatoren ausgeblendet
Auch der seit vielen Jahren existierende und nun verstärkte Konflikt zwischen der Ukraine, Russland und anderen Ländern liefert umfassendes Anschauungsmaterial für eine ausgeprägte Risikoblindheit und -ignoranz – insbesondere bei politischen Entscheidungsträgern. Für eine objektive Risikobewertung sollten sich Politiker weniger von Ideologien leiten lassen, sondern auf kluge und erfahrene Berater hören, die fähig sind, klug, interdisziplinär, methodisch fundiert in Zukunftsszenarien zu denken. Und für eine fundierte Risikoanalyse sollten alle relevanten Perspektiven berücksichtigt werden. Doch die Analyse hätte bereits vor vielen Jahren stattfinden müssen.
So warnte beispielsweise bereits im Jahr 1997, d.h. vor rund 25 Jahren, Jack F. Matlock Jr., der US-Botschafter in der UdSSR von 1987 bis 1991, dass die NATO-Osterweiterung eine "fundamentale strategische Fehlleistung" sei. Sie werde eine "Ereigniskette starten, die das größte Sicherheitsrisiko seit dem Ende der UdSSR" hervorbringen könne.
Auch der emeritierte MIT-Professor Avram Noam Chomsky stellte bereits im Jahr 2015 die Ampel auf Rot: "[…] die Idee, dass sich die Ukraine einem westlichen Militärbündnis anschließt, wäre für jeden russischen Präsidenten inakzeptabel". Die Bestrebungen der Ukraine würden sie nicht schützen, sondern vielmehr gefährden. Gab es hierzu politische Diskussionen über die Konsistenz und Relevanz des skizzierten Szenarios?
Auch der US-amerikanische Diplomat, Vizeaußenminister und ehemalige CIA-Direktor William Joseph Burns warnte bereits im Jahr 2008 vor einer Eskalation eines potenziellen NATO-Beitritts der Ukraine: "Ein NATO-Beitritt der Ukraine ist die schrillste aller roten Linien für Russland. Ich kenne niemanden, der darin etwas anderes sieht als eine unmittelbare Bedrohung russischer Interessen."
Auch der ehemalige US-Verteidigungsminister Robert Michael Gates wies bereits früh auf eine Eskalation hin. Der parteilose Politiker arbeitete 26 Jahre lang beim US-Geheimdienst CIA und warnte im Jahr 2015, dass in der Schnelligkeit der NATO-Erweiterung ein Fehler läge: "[…] Der Versuch, Georgien und die Ukraine in die NATO zu bringen, ging zu weit – eine kolossale Provokation."
Und auch im vergangenen Jahr warnte Sir Roderic Lyne, der ehemalige britische Botschafter in Russland, davor, dass "es in jeder Hinsicht dumm sei, die Ukraine in die NATO [zu drängen]. Wenn man einen Krieg mit Russland vom Zaun brechen will, ist dies der beste Weg."
Frank Blackaby, der ehemalige Leiter des Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI) schrieb bereits im Jahr 1996, dass "jede russische Regierung militärisch wie auch politisch [auf eine NATO-Erweiterung] reagieren würde", und dass "Europa […] auf den Zweiten Kalten Krieg" zusteuert.
Und Henry Alfred Kissinger, ein deutsch-US-amerikanischer Politikwissenschaftler und ehemaliger US-Außenminister, warnte im Jahr 2019, die USA und China befänden sich in den "Vorgebirgen eines neuen kalten Krieges".
Und bereits vor einem Vierteljahrhundert warnten 50 renommierte Geopolitik-Experten in einem offenen Brief, den sie an den damaligen US-Präsidenten Bill Clinton schickten, vor den Risiken einer NATO-Erweiterung und wiesen darauf hin, dass dies ein "politischer Fehler historischen Ausmaßes" sei.
Warum hat niemand der politischen Entscheidungsträger im Westen auf jene mahnenden Stimmen gehört, die den Krieg antizipierten und eine friedliche Lösung vorgeschlagen haben? Warum wurden in Szenarioanalysen diese kritischen Stimmen nicht berücksichtigt?
Der Ukraine-Krieg und das mediale und politische Framing
Wie lautet die politische Antwort des Westens auf den völkerrechtswidrigen russischen Angriff auf die Ukraine? Putin sei verrückt, völlig irre und habe den Bezug zur Realität verloren und verfolge einen massiven Expansionsdrang. Doch welche Rolle spielt im Konflikt der Expansionsdrang der Nato? Wer diskutiert die legitimen Sicherheitsinteressen Russlands, die immer wieder seitens der Nato ignoriert wurden.
"Am 17. Dezember vergangenen Jahres hat Moskau mit zwei Vertragsentwürfen verdeutlicht, worum es ihm [Putin, Anmerkung Redaktion] geht, nämlich eine weitere Ausdehnung der Nato nach Osten zu verhindern und dafür eine verbindliche Zusicherung zu erhalten. Dabei beruft er sich auf die Nato-Russland-Vereinbarungen der 1990er Jahre, insbesondere die Nato-Russland-Grundakte von 1997. Moskau befürchtet, dass vor allem ein Nato-Beitritt der Ukraine das strategische Gleichgewicht mit den USA gefährden würde. […] Die Vorschläge wurden im Januar 2022 sowohl bilateral mit den USA in Genf als auch multilateral im Nato-Russland-Rat und in der OSZE diskutiert. Der Westen wies russische Forderungen nach einem Ende der Nato-Erweiterung zurück […]", so Wolfgang Richter, ehem. Leiter des militärischen Anteils der Ständigen Vertretung Deutschlands bei der OSZE, in der aktuellen Ausgabe (03/2022) der "Blätter für deutsche und internationale Politik".
Werden aktuell fundierte, neutrale und tiefergehende Analysen über die Ursachen des Konflikts durchgeführt? Jeder Risikomanager weiß, dass man zunächst die Ursachen analysieren muss, um wirksame Maßnahmen umzusetzen. Wo lesen wir, wie westliche Länder immer wieder Öl ins Feuer gegossen haben, um Russland zu provozieren? Wo werden evidenzbasiert die Fakten auf den Tisch gelegt und analysiert, die hinter der ganzen Entwicklung stehen?
Wo liest man in den Medien, dass der ukrainische Präsident Selenskyj am 24. März 2021 ein Dekret erlassen hat mit dem Ziel einer Zurückeroberung der Krim? Wer hat überhaupt mitbekommen, dass die ukrainische Armee im Donbas-Gebiet massiv verstärkt wurde und im Süden Richtung Krim zusammengezogen wurde? Wer diskutiert die in Polen und Rumänien stationierten MK-41-Raketensysteme, von deren Abschussrampen konventionelle oder atomare Raketen innerhalb weniger Minuten Moskau erreichen könnten? Wer diskutiert in diesem Kontext die Tatsache, dass der ukrainische Präsident Selenskyj auf der Münchener Sicherheitskonferenz am 11./12. Februar 2022 äußerte, dass er Nuklearwaffen beschaffen möchte? Nein, wieder das gleiche Framing.
Ein scheinbar verrückter russischer Präsident habe am 27. Februar 2022 seine Nuklearkräfte in den Alarmzustand Stufe 1 gesetzt. Wo können wir in der westlichen Presse lesen, dass der französische Außenminister zu Beginn des Krieges Putin mit der nuklearen Power der Nato drohte? Erst anschließend reagierte Putin und versetzte seine Atomstreitkräfte in Alarmbereitschaft.
Wer analysiert in den westlichen Medien die Rolle der paramilitärischen Kräfte in der Ukraine, beispielsweise des Asow-Regiments, einer Fremdenlegion mit rechtsextremen Tendenzen?
Auch der 20. Februar 2014 ist aus dem Gedächtnis vieler Journalisten und Politiker verschwunden. An diesem Tag wurde mit Unterstützung des damaligen US-Präsidenten Barack Obama die ukrainische Regierung gestürzt, um das Land in die NATO zu ziehen. Zuvor hatte die US-Botschaft in Kiew Demonstranten unterstützt und der US-amerikanische Senator John McCain die Demonstranten ermuntert, die ukrainische Regierung zu stürzen.
Und welche Rolle spielt North Stream II im Konflikt, ein Projekt, dass von Deutschland initiiert wurde und nicht von Russland? Warum kritisieren die USA die Energieabhängigkeit Deutschlands bzw. Europas von Russland, während sie gleichzeitig russisches Öl importieren und gleichermaßen von russischen Rohstoffen abhängig sind?
Kurzum: Mit Propaganda und Manipulation werden Menschen auf die "richtige" Seite gezogen und von eigenem Denken befreit. Und gefangen im eigenen Echoraum befreien sich viele Menschen vom demokratischen Prozess einer konstruktiven Meinungs- und Urteilsbildung. Das Diffamieren Andersdenkender als "Querdenker", "Putin-Versteher", "Rechtsradikale" ist hierbei ein komfortabler Notausgang in Gesinnungsgesellschaften. "Factfulness" sowie eine Kultur der Abwägung wären Alternativen jenseits einfacher Welterklärungsbilder.
Risiken jenseits des Dorfzauns gibt es nicht
Insbesondere politische Entscheidungsträger vermitteln den Eindruck, dass sie sich vor allem auf die Risiken in ihrem unmittelbaren Umfeld konzentrieren und Risiken jenseits des Dorfzauns (siehe hierzu die Frühwarnindikatoren oben) ausblenden. Das eigene Dorf ist für sie die Welt. Und langfristige geopolitische Entwicklungen und Risiken werden im besten Fall nur über einen Betrachtungshorizont bis zur nächsten Wahl analysiert.
Dies führt dazu, dass die großen geopolitischen Themen (beispielsweise die humanitäre Katastrophe im Jemen, die Territorialkonflikte im Chinesischen Meer oder die geopolitische Neuordnung der Handelsrouten zwischen China und Europa durch Chinas ambitioniertes Seidenstraßenprojekt und auch der seit Jahrzehnten schwelende Konflikt in der Ukraine) nicht oder rein ideologisch diskutiert werden. Ein völkerrechtswidriger Angriff Russlands auf die Ukraine wird anders bewertet als ein völkerrechtswidriger (und auf Lügen basierender) Krieg gegen den Irak oder gegen Afghanistan. So haben bis heute weder Politiker noch Geheimdienste Beweise präsentiert, dass Afghanistan oder Osama bin Laden an den Anschlägen des 11. Septembers 2001 beteiligt waren.
Welcher Politiker diskutiert heute den Ukraine-Konflikt in einem größeren Kontext, beispielsweise dem Schachzug, dass Putin die "Xi Jinping Thought" unterzeichnet hat und umgekehrt der chinesische Präsident Xi Jinping sich klar gegen eine NATO-Erweiterung ausgesprochen hat. Welcher Politiker denkt über Szenarien eines chinesisch-russischen Tandems für das globale geopolitische, geostrategische und wirtschaftliche Machtgleichgewicht nach?
Ein Risikomanagement für den Dschungel muss anders aussehen als das für das Dorf: Es wäre beispielsweise sinnvoll, wenn die Dorfbewohner (= Politiker) mit Hilfe von Kreativitätsmethoden versuchen würden, potenzielle (Stress-)Szenarien zu identifizieren ("Welche Überraschungen könnten uns im Dschungel begegnen? Welche Maßnahmen könnten mich schützen?"). Hierbei muss auch beachtet werden, dass Risiken (insbesondere auch geopolitische Risiken) in komplexen Systemen durch Nichtlinearität gekennzeichnet sind. Dies bedeutet, dass kleine Störungen des Systems oder minimale Unterschiede in den Anfangsbedingungen häufig zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen (Schmetterlingseffekt, Phasenübergänge) führen können.
Rückspiegelblick versus Szenario-orientierte Ansätze
Politiker sollten damit aufhören, den "Schwarzen Schwan" als Entschuldigung für das eigene Versagen aus der Tasche zu zaubern. Sie sollten stattdessen eher das graue Nashorn ("grey rhino") auf dem Radar haben. Denn hierbei handelt es sich um eine Gefahr, die sich langsam bewegt, offensichtlich ist und dennoch bequemerweise ignoriert wird.
Weder Pandemien, noch geopolitische Konflikte, noch die Nuklearkatastrophe in Fukushima oder Black-Out-Szenarien, Cyberattacken oder Rohstoffvolatilitäten oder -knappheiten sind "Schwarze Schwäne". Vielmehr handelt es sich um "sehr wahrscheinliche, mit wesentlichen Auswirkungen verbundene, jedoch vernachlässigte Bedrohungen". Politiker und Unternehmen haben es vielmehr weltweit versäumt, für solche potenziellen Risiken vorzusorgen. Die chaotische und wenig strategisch ausgerichtete Energiepolitik in Deutschland liefert hierfür ausreichend Anschauungsmaterial. Geopolitische Risiken gab es anscheinend bisher in der Denkwelt politischer Entscheidungsträger nicht. Anders lässt sich das Chaos in der Energiepolitik nicht erklären.
Ganz nach dem Motto: "Augen und Ohren zu und durch" werden Risiken aus einem Rückspiegelblick dokumentiert und in Form einer Risikobuchhaltung konserviert. Der Erkenntnisgewinn ist gering, denn potenzielle zukünftige Szenarien werden so ausgeblendet. Und erst wenn jenseits einer "kognitiven Dissonanzreduktion" unabhängig und aus unterschiedlichen Perspektiven die Ursachen für die Ukraine-Eskalation analysiert werden, wird man die "Kuh vom Eis" bekommen.
Viele Akteure müssen sich vom Rückspiegelblick verabschieden und lernen, interdisziplinär und interkulturell zu denken, um mit Hilfe von Szenario-orientierten Ansätzen ein solides Navigationsinstrument zur Verfügung zu haben. Einfach mal ehrlich zuhören und auch unliebsame Szenarien, die nicht in das eigene Weltbild passen, auf dem Radar haben. Alles andere wäre ausgeprägte Risikoblindheit nach dem Motto: "Ich mach mir die Welt – widdewidde – wie sie mir gefällt …"