Leonardo da Vinci hat einmal behauptet, dass all unser Wissen seinen Ursprung in unseren Wahrnehmungen hat. Auch unser (vermeintliches) Wissen über Risiken hängt daher sehr stark von unserer ganz subjektiven und damit höchst unterschiedlichen Wahrnehmung ab und ist damit letztlich Vorgang und Ergebnis einer hochkomplexen Reizverarbeitung. Das Material, aus dem Risiken konstruiert werden, liefern unsere Sinnesorgane. Ein raffiniertes biologisches System wandelt die winzigen elektrischen Impulse, die von unseren Nervenzellen ausgehen, in Bilder um und gaukelt uns damit unsere Realität vor, die letztlich aber nur eine unter unendlich vielen möglichen ist. Diese höchst subjektive Risikowahrnehmung bestimmt ganz wesentlich die Bedeutung und unsere Wahrnehmung des Faktors Mensch als Risikoursache.
Die Organe der Sinneswahrnehmung (Gesichts-, Gehör-, Tast-, Geschmacks- und Geruchssinn) erlauben uns die physische sowie neuro-physiologische Risikowahrnehmung. Wir nennen dieses subjektive Konstrukt Risiko. Wir sprachen mit Prof. Dr. Bernd Weber (Center for Economics and Neuroscience, Universität Bonn) sowie Axel Esser (HGS Concept) über die Wege zu einem intelligenten Risikomanagement mit Erkenntnissen der Neurowissenschaften.
Vorab sollten wir erst einmal klären, welche Forschungsbereiche Neurowissenschaften eigentlich umfasst. Handelt es sich um eine Kooperation von Medizinern, Psychologen und Biologen?
Bernd Weber: Die Neurowissenschaften beschäftigen sich im weitesten Sinne mit der Funktion des Gehirns. Am ehesten von Bedeutung für das Verständnis menschlichen Entscheidungs¬verhaltens sind dabei die kognitiven Neurowissenschaften. Dabei arbeiten heutzutage verschiedene Disziplinen aus der Biologie, der Medizin und der Psychologie sowie weiterer angrenzender Bereiche, wie der Ökonomie zusammen.
Ziemlich regelmäßig können wir in den Medien Artikel über neue Erkenntnisse der Hirnforschung lesen. Wo sehen Sie den Grund, dass Neurowissenschaften gerade "en vogue" sind?
Axel Esser: Speziell im Gebiet der Entscheidungsforschung bieten die Neurowissenschaften Methoden an die uns helfen die Prozesse besser zu verstehen, anstatt nur Verhaltensphänomene zu beschreiben. Die Fragen zur Qualität von Entscheidungen sind im Zusammenhang mit der Finanzkrise so aktuell wie nie zuvor. Antworten darauf so dringend wie nie zuvor. Mit der Entwicklung der bildgebenden Verfahren sind wir heute in der Lage Antworten auf einem neuen Niveau zu geben. Das spiegelt sich auch in den Medien wider.
Ein Blick in die Praxis des Risikomanagement zeigt, dass zwar viel über eine so genannte "Risikokultur" diskutiert wird – aber der Mensch in seiner Komplexität vielfach ausgeblendet wird. Müssten wir uns im Risikomanagement nicht stärker mit der hoch komplexen Entscheidungsinstanz Mensch beschäftigen?
Axel Esser: Unserer Meinung nach absolut. Vor allem im Finanzbereich, aber auch in der Industrie, wo es um wichtige Entscheidungen zu Risiken geht. Eigentlich ist es unabdinglich, zu verstehen, was im Gehirn eines Entscheiders abläuft. Wie in Studien nachgewiesen, unterliegen wir systematischen Verzerrungen in unseren Entscheidungen, die in der realen Welt viel Geld kosten können.
Oft sehen wir auch im Risikomanagement "den Wald vor lauter Bäumen nicht". Damit ist im Kern nichts anderes als die Nichtwahrnehmung von Objekten gemeint – bedingt durch die eingeschränkte Verarbeitungskapazität des menschlichen Gehirns. Psychologen nennen dieses Phänomen "inattentional blindness" (Unaufmerksamkeitsblindheit). Liefern die Neurowissenschaft hier tiefere Erkenntnisse in die selektive Wahrnehmung von Risiken?
Bernd Weber: Ja. Der Kernbegriff in Bezug auf selektive Wahrnehmung ist Fokus – so wie auf der physischen Ebene unser Blickfeld begrenzt ist, so ist es auch im mentalen Bereich. Wir nehmen bewusst nur auf, worauf wir unsere Aufmerksamkeit lenken und nur das schafft es auch in unser Gedächtnis, auf das wir ja bei Entscheidungen zurückgreifen müssen. Daniel Kahneman bezeichnet das als WYSIATI (What you see is all there is). Gleichzeitig sind wir aber auch Phänomenen wie subliminales Priming ausgesetzt, wobei unbewusste Reize eine Wirkung auf unsere Entscheidungen haben, oder der Hang zu Kohärenz im Gehirn, der Zusammenhänge darstellt, die nicht vorhanden sind.
Analog zur psychologischen Forschung besteht auch im Risikomanagement ein fast dogmatischer Streit über den Einsatz von analytischen Methoden und quantitativen Risikomodellen sowie der intuitiven Bewertung von Risiken durch Experten. So kritisiert der Direktor des Harding-Zentrum für Risikokompetenz, Gerd Gigerenzer, logisch-rationale Modelle, die das Fällen von Urteilen und Entscheidungen als das Resultat komplexer unbewusster Algorithmen betrachten. Stattdessen ist er davon überzeugt, dass Entscheidungen vor allem intuitiv anhand von Faustregeln getroffen werden. Können die Neurowissenschaften hier schlichten oder neue Erkenntnisse liefern?
Bernd Weber: Das ist in der Tat eine interessante Frage. Einerseits gibt es aus der Gehirnforschung die Aussage, analytisch-logische Verfahren sind hilfreich bei einfachen Entscheidungen und bei komplexen Entscheidungen ist Intuition besser. Das trifft so wohl auch für die alltäglichen Entscheidungen zu, die wir treffen müssen. Das ist allerdings anders, wenn es um unternehmerische oder finanzielle Entscheidungen unter Risiko geht. Da sollten wir uns lieber nicht auf Heuristiken oder Intuition verlassen. Intuition basiert auf der Fähigkeit der Mustererkennung im Gehirn, das heißt einer automatischen Abwägung von "gelernten Wahrscheinlichkeiten". Das bedingt ein Umfeld, das hinreichend regelmäßig ist, um vorhersagbar zu sein und viele Gelegenheiten, diese Regelmäßigkeit durch langjährige Erfahrung zu bestätigen. Heuristiken sind eine spezielle Form dieser Art von Intuition, die auf automatischen Erfahrungswerten beruhen. Sie sind schnell, meist unbewusst und können zu Fehlern führen. Dies ist insbesondere der Fall, wenn sich das Umfeld verändert, was ja heute bei unternehmerischen Entscheidungen eher die Regel als die Ausnahme ist.
Wenn wir es mit komplexen Risiko-Entscheidungen zu tun haben, ist es deshalb zwingend notwendig, entsprechende analytische und quantitative Risikomodelle einzusetzen. Selbst dann, so einer der amerikanischen Forscher (Brian Knudson), kann es sein, dass die emotionale oder intuitive Entscheidung den Vorrang bekommt.
Welchen Mehrwert kann die moderne Hirnforschung für das Management von Risiken in Unternehmen liefern oder auch für alle Entscheidungen unter Risiko?
Axel Esser: Je tiefer wir in diese Frage eindringen, desto stärker kristallisiert sich ein Faktor als kritisch heraus und das ist das Thema "emotional regulation" (Emotionale Regulation). Studien in der Neurokonomie haben hinreichend bestätigt, dass Emotionen Entscheidungen unter Risiko oder Unsicherheit beeinflussen und dass Entscheider lernen müssen, diese Emotionen zu regulieren. Wir arbeiten in diesem Zusammenhang mit einem Modell, das zuerst in den USA entwickelt wurde und Anticipatory Affect Model heißt. Dieses Modell sagt, dass wenn bestimmte Bereiche im Gehirn stark aktiviert sind – also durch Emotion gesteigerte Antizipation – es zu Fehlentscheidungen kommt. Entweder durch zu hohes Risiko oder dem Vermeiden von Risiken. Beide sind in Anbetracht einer ausgewogenen Chancen-Gefahren-Betrachtung problematisch.
Big Data ist – auch im Kontext Risikomanagement – in aller Munde. Das Volumen der Datenmengen geht in die Terabytes, Petabytes und Exabytes. Wie geht eigentlich unser Gehirn mit diesem Übermaß an Daten bzw. Informationen um?
Bernd Weber: Die Informationsverarbeitungskapazität unseres Gehirns ist sehr beschränkt. Vor allem in Bezug auf das, was wir als Arbeitsgedächtnis bezeichnen. Es ist ein echter Engpass. Deshalb ist Qualität diesbezüglich das Kriterium nicht Quantität. Es ist eine sehr spannende und wichtige Frage, wie Informationen aufbereitet sein müssen, damit sie gut zugänglich und verarbeitbar sind. Hier ist noch dringender Forschungsbedarf.
Was macht das Gehirn (risiko-)intelligent?
Axel Esser: Intelligenz in diesem Zusammenhang besteht darin, die Denk- und Entscheidungsfähigkeiten des Präfrontalen Cortex zur Verfügung zu haben. Das ist nur dann möglich, wenn man Kontrolle über die Emotionen hat.
Eine Risiko-intelligente Kultur kann sich auf dieser Basis in einem Unternehmen entwickeln. Das heißt Mitarbeiter kennen die Mechanismen, die bei Entscheidungen unter Risiko oder Unsicherheit zu bedenken und zu steuern sind und wenden dieses Wissen konsequent an.
Was wären aus ihrer Sicht mehrwertstiftende und spannende Forschungsgebiete im Bereich "Risikointelligenz" bzw. Neuro-Risikomanagement?
Bernd Weber: Ein solches Gebiet – wie oben erwähnt – ist das Thema Informationsverarbeitung. Ein zweites Gebiet ist das Thema der emotionale Regulation, das zentral für qualitativ bessere Entscheidungen ist. Vor allem, was Entscheiden unter Risiko oder Unsicherheit betrifft. Ansätze wie self-control, mindfulness oder neurofeedback werden auch gezielt untersucht und es gibt zunehmend Bestätigung, dass sie eine regulierende Wirkung haben.
Es fehlt allerdings noch an klar belastbaren Beweisen, wie diese emotionsregulierenden Interventionen auf das Risikoverhalten wirken. Um diese wissenschaftliche Stringenz zu liefern, müssen wir auch in der neurowissenschaftlichen Forschung dazu kommen, ähnlich wie in der Medizin schon lange durchgeführt, randomisierte und kontrollierte Studien über die Effektivität bestimmter Maßnahmen zu erheben. Das würde Unternehmen eine höhere Verlässlichkeit für Maßnahmen zur Verbesserung der Risiko-Entscheidungen auch in diesem Bereich bieten.
Prof. Dr. Bernd Weber ist einer der Direktoren des Center for Economics and Neuroscience an der Universität Bonn und erforscht dort seit Jahren die biologischen Grundlagen menschlichen Entscheidungsverhaltens.
Zudem leitet er den Geschäftsbereich Neuro-economics an der Life&Brain GmbH durch den die wissenschaftlichen Erkenntnisse für Unternehmen und Politik nutzbar gemacht werden.
Axel Esser, Gesellschafter der HGS-Concept ist seit über 20 Jahren als Berater, Trainer und Coach in der Wirtschaft und im Leistungssport tätig. Er ist Gesellschafter der HGS Concept, die international in der Beratung großer Unternehmen tätig ist.
Als Diplom-Kaufmann und Diplom-Psychologe entwickelt er seit fünf Jahren zusammen mit Forschern, Wissenschaftlern und anderen Fachexperten praxisorientierte Ansätze zur Anwendung der Erkenntnisse aus den Neurowissenschaften für Unternehmen.
[Die Fragen stellte Frank Romeike, Chefredakteur RiskNET sowie verantwortlicher Chefredakteur der Zeitschrift RISIKO MANAGER sowie Mitglied des Vorstands beim Institut für Risikomanagement und Regulierung (FIRM); Das Interview ist erstmalig in Ausgabe 07/2014 der Zeitschrift RISIKO MANAGER im FIRM Special veröffentlicht worden.]
Kommentare zu diesem Beitrag
Komplexe Risikoentscheidungen gibt es nicht. Entweder man hat Risiko, dann kennt man die Wahrscheinlichkeiten, oder man hat Unsicherheit, dann kennt man keine Wahrscheinlichkeiten. Ein Großteil des Elends im Risikomanagement resultiert daraus, dass Entscheidungen unter Unsicherheit als "komplexe Risiko-Entscheidungen" umetikettiert werden. Risikomodelle schaffen dann eine Scheinsicherheit, die dann gründlich in die Irre führen kann, wie die Erfahrungen der Finanzkrise zeigen.
In solchen Situationen erzielt Herr Gigerenzer mit seinen (alles andere als perfekten) Heuristiken oftmals tatsächlich bessere Ergebnisse.
Und ich bin davon überzeugt, dass gerade in komplexen Entscheidungssituationen (denken Sie beispielsweise an komplexe Ursache-Wirkungsketten in einer Supply-Chain oder die Bewertung von Währungsrisiken in einem komplexen Netzwerk) Heuristiken völlig versagen. Stochastische Ansätze können hier im Entscheidungsprozess einen echten Mehrwert bieten. Das kann man übrigens auch empirisch belegen.