Politische und gesellschaftliche Risiken, wirtschaftliche Zerwürfnisse oder die zunehmende Digitalisierung mit immer mehr Daten, die es zu analysieren gilt. Der Rucksack für die Versicherungsbranche wird nicht leichter. Wir sprachen mit Guido Vos, seines Zeichens Executive Head of Risk Underwriting bei Euler Hermes Deutschland, über das Spannungsfeld des Chancen- und Risikomanagements in unsicheren Zeiten.
Länderrisiken und geopolitische Risiken sind in der Finanz- und Versicherungsbranche mittlerweile ein wichtiger Bestandteil von Analysen. Wie generiert, verarbeitet und analysiert Euler Hermes diese Daten?
Guido Vos: Euler Hermes bewertet Risiken in über 200 Ländern aus über 50 Standorten weltweit. Rund 1.300 Kreditanalysten analysieren jährlich rund zwei Millionen Jahresabschlüsse, die in einer Datenbank der EH-Gruppe hinterlegt sind. Dazu führen unsere Experten etwa 500.000 Gespräche im Jahr, um die spezifischen Risikoprofile der Unternehmen zu analysieren. Das entspricht rund 2.000 qualifizierten Kontakten weltweit pro Tag. Diese Informationen werden in unseren Systemen erfasst und ständig überwacht. Auf dieser Grundlage erkennen wir sehr schnell positive, aber auch negative Trends. Die Besonderheit von Euler Hermes liegt damit im internationalen Netzwerk der Experten und dem weltweiten Kreditprüfungs- und Bonitätsbewertungssystem. In diesem System sind die Bewertungen für internationale Konzerne wie für kleine lokale Player hinterlegt, die aus allen Branchen kommen.
Besteht bei einem Blick auf die wackelige Wirtschaftsunion in Europa nicht die Gefahr eines Bruchs des EU-Wirtschafts- und Binnenmarkts per se?
Guido Vos: Die politischen Risiken in Europa haben gegenüber 2015 deutlich zugenommen. Anti-europäische Stimmungsmache wird in vielen Ländern Europas, insbesondere in Wahlkämpfen gerne genutzt. Ein anderer Wahlausgang in den Niederlanden und in Frankreich hätte nach dem Brexit sicherlich gravierende Auswirkungen auf die Europäische Union gehabt und eventuell weitere Austrittsanstrengungen unterstützt. Mit der Wahl von Emmanuel Macron in Frankreich und der Niederlage von Geert Wilders in den Niederlanden, zeichnet sich zumindest für die nahe Zukunft etwas Entspannung ab.
In welchen Ländern sehen sie aktuell die größten Gefahren im Zusammenhang mit möglichen Ausfallrisiken für Investoren und warum?
Guido Vos: Euler Hermes überwacht die weltweite ökonomische Entwicklung kontinuierlich. Die entsprechenden Entwicklungen können Sie in der Euler Hermes Economic Research APP abrufen. Weltweit rechnen wir für 2017 mit einem Ende der rückläufigen Insolvenzzahlen. Die Entwicklungen sind allerdings regional unterschiedlich. Für Europa erwarten wir weiter ein freundliches Umfeld mit sinkenden Insolvenzzahlen, wogegen wir für Lateinamerika und Asien-Pazifik sowie für Nordamerika steigenden Insolvenzzahlen ausgehen. Von der Länderseite sehen wir aktuell problematische Entwicklungen, insbesondere in Latein- und Südamerika sowie in einigen sogenannten Emerging Markets.
Welche Risikofaktoren beziehen Sie darüber hinaus bei Ihren Auswertungen und Analysen ein?
Guido Vos: Im Risikomanagement unterscheiden wir zwischen zyklischen und azyklische Branchen. Volkswirtschaftliche Entwicklungen beeinflussen azyklischen Branchen, wie beispielsweise die Nahrungsmittelindustrie, meistens nur sehr kurzfristig. In zyklischen Branchen, wie im Maschinenbau, dagegen füllen oder leeren sich die Auftragsbücher mit entsprechendem Zeitverzug. Je nach Branchen und Regionen können unterschiedliche Faktoren mit unterschiedlichen Gewichtungen die Risiken maßgeblich beeinflussen. Dazu zählen beispielsweise die Energiepreise oder auch politische Entscheidungen wie Umweltauflagen, Zölle oder Steueränderungen. Soziale Veränderungen, was Lebensstil oder neue Prioritäten betrifft, sollte man auch nicht unterschätzen. Denken Sie beispielsweise an Stichworte wie Carsharing oder den Trend zur veganen Ernährung.
Im Zuge des Brexit, aber auch bei der Einschätzung des Wahlausgangs in den USA lagen viele Analysten mit ihren Prognosen falsch. Heißt das, dass die Datenhoheit noch nicht in allen Bereichen des wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Lebens die Deutungshoheit besitzt?
Guido Vos: Die Prognosegenauigkeit hängt auch immer von der Datenqualität ab. Das ist seit langem ein zentrales Thema im Geschäftsmodell der Euler-Hermes-Gruppe. Vor etwa 20 Jahren standen Finanzdienstleister vor der Herausforderung, überhaupt bonitätsrelevante Daten wie Bilanzen oder Bankauskünfte zu bekommen. Heute müssen sie wichtige Informationen gezielt aus einer immensen Datenflut selektieren, die einen Mehrwert bei der Risikoeinschätzung haben.
Apropos Deutungshoheit. Welche Entwicklungen müssen Analysemethoden nehmen, um zukünftig mit all den Informationen eine sinnvolle Verknüpfung und Auswertung zu erzielen?
Guido Vos: Die permanente Überwachung der Informationen in unseren elektronischen Systemen und das spezielle Expertenwissen sind nach unserer Auffassung entscheidend, um sinnvolle Verknüpfungen von Daten im Rahmen der wirtschaftlichen und politischen Gegebenheiten herzustellen.
Kommen wir auf Euler Hermes zurück. Welche Methoden setzen Sie bei Euler Hermes im Rahmen Ihres Risikomanagements ein?
Guido Vos: Stellen Sie sich vor, dass wir allein in Deutschland etwa 400.000 aktive Risiken in allen Euler-Hermes-Einheiten versichern. Diese Komplexität erfordert besonderes Expertenwissen. Wir haben darauf reagiert, indem wir spezialisierte Industrieteams gebildet haben. Diese Teams leiten auf der internen Datenbasis im Umfeld der jeweiligen wirtschaftlichen Entwicklungen entsprechende Ergebnisse für ihre Branchen ab. In diesem Kontext sind die Kreditrisiken eine wichtige Komponente des Risikomanagements.
Beziehen Sie die Chancensicht in Ihre Analysen mit ein?
Guido Vos: Natürlich. Im Schatten der Risiken gibt es ja auch Chancen. Nehmen Sie beispielsweise einen Fall der Nahrungsmittel-Industrie: ein Gammelfleisch-Skandal vor wenigen Wochen hat den Ruf Brasiliens als global größten Fleischexporteur massiv belastet. Aufgrund der Export-Restriktionen mussten einige Betriebe Insolvenz anmelden beziehungsweise konnten die vereinbarten Mengen nicht mehr liefern. Das ändert aber die internationale Fleisch-Nachfrage nicht. Insofern entwickeln sich aus dieser Situation Chancen für Fleischerbetriebe in anderen Ländern.
In der Praxis verfügen ihre Kunden über wertvolle Frühwarn- und Risikoinformationen, die für ihre Ratingsysteme einen wertvollen Input darstellen könnten. Wie tauschen Sie Risikoinformationen zwischen Versicherungsnehmern und ihren Risikoanalysten aus? Gibt es hierfür einen strukturierten Prozess oder erfolgt das eher informell?
Guido Vos: Sowohl als auch – und beiderseitig: Versicherungsnehmer sind verpflichtet, Risikoveränderungen wie beispielsweise Zahlungsverzögerungen von Abnehmern an uns zu melden. Darüber hinaus stehen unsere Kunden im regelmäßigen Dialog mit ihren Partnern oder unseren Mitarbeitern. Sollten negative Tendenzen auftreten, erfolgt ein direkter Austausch.
Stichwort: Digitalisierung. Das Bankenumfeld treibt die Digitalisierung massiv voran. So unter anderem die Commerzbank mit ihrer Strategie Richtung Banking 4.0. Wie beurteilen Sie diese Entwicklungen, gerade vor dem Hintergrund bereits etablierter Onlinebanken sowie des Privat- und Firmenkundengeschäfts?
Guido Vos: Digitalisierung ist auch in der Versicherungsbranche ein hochaktuelles Thema. Bei Euler Hermes gibt es schon länger Projekte, in denen die Vorteile der Digitalisierung zum Vorteil der Kunden hinsichtlich einer verbesserten Effizienz von internen Abläufen analysiert und umgesetzt werden. Dieser Trend ist aus unserer Sicht auch extern unumkehrbar: Auch wenn wir überzeugt sind, dass ein Großteil der Kunden gerade in Absicherungsfragen nicht auf eine qualifizierte Beratung verzichten möchte, werden gleichwohl immer mehr, vor allem jüngere Kunden, digitale Lösungskonzepte bevorzugen.
Viele Unternehmen transferieren zum Schutz vor Forderungsausfällen durch eine Zahlungsunfähigkeit des Auftraggebers ihre Risiken auf einen Kreditversicherer. Häufig kommt dann die Kritik seitens der Versicherungsnehmer, dass der Versicherer seine Limite immer dann reduziert, wenn es ernst wird und die Risiken ansteigen. Wie gehen Sie mit dieser Kritik um?
Guido Vos: Wir nehmen diese Kritik immer sehr ernst, auch wenn wir sie nicht bestätigen können. Wir möchten einen adäquaten Risikotransfer zu einem vernünftigen Preis gewährleisten. Gerade die neuen Euler-Hermes-Produkte in Deutschland, die unser Standardgeschäft der Warenkreditversicherung ergänzen, garantieren dem Kunden einen erweiterten Risikotransfer. Dazu zählt beispielweise die sogenannte Nachlaufdeckung. Damit können sich Kunden darauf verlassen, dass existierende Aufträge auch nach Ablauf des Versicherungsschutzes bis zur Auslieferung gedeckt sind. Die Nachlaufdauer wird vertraglich festgelegt und kann von in der Regel zehn Tagen bis zu einem Monat betragen. Weiterhin profitieren unsere Kunden auch von EH Deutschland CAP-Produkten. Bei CAP-Produkten gewähren wir Versicherungsschutz auf kritische Risiken, die eine hohe Ausfallwahrscheinlichkeit haben. Der Risikotransfer erfolgt nach dem Risk-Based-Pricing-Modell.
Guido Vos ist seit 1. Oktober 2016 Executive Head of Risk Underwriting bei Euler Hermes Deutschland. Vor seinem Wechsel zu Euler Hermes Deutschland war er als Bereichsleiter und Industry Head im Risikomanagement für Firmenkunden bei der Commerzbank AG tätig.