Im Zuge der industriellen Vernetzung (Industrie 4.0) hält die vorausschauende Instandhaltung (predictive maintenance) in vielen Fabriken und Industrieanlagen Einzug. Im Optimalfall lassen sich dadurch Störungen vorhersagen und Instandhaltungs-/Reparaturarbeiten einleiten, bevor es zu Ausfällen kommt. "Die vorausschauende Instandhaltung wird helfen, die vielen kleineren Sachschäden an Maschinen zu vermindern, doch sie ist kein Garant gegen Großschäden und schafft ihre eigenen Risiken", erklärte Hartmut Mai, Vorstand der Allianz Global Corporate & Specialty (AGCS) auf den AGCS Expert Days, einer Ingenieurstagung des Industrieversicherers in München.
Predictive Maintenance zählt zu den großen neuen Technologien der Industrie 4.0 – vorausschauende Datenanalysen und Automatisierung sind laut dem AGCS Trend Compass eine der wichtigsten Zukunftstechnologien über alle Industriebranchen hinweg. Maschinen und Anlagen werden dabei mit Hilfe von Sensoren proaktiv gewartet, um Ausfallzeiten niedrig zu halten. Der Hauptunterschied zur "Condition-based Maintenance", bei der die Instandhaltung auf Basis des Komponentenzustands durchgeführt wird, ist die Fähigkeit, die Lebensdauer von Maschinenteilen mit Hilfe von regelbasierten Modellen, Simulationen und künstlichen neuronalen Netzen vorherzusagen. Es werden dazu über Sensoren große Mengen an Daten erfasst, gespeichert und analysiert. Das Predictive-Maintenance-System soll Anomalien in den Maschinendaten automatisch erkennen und interpretieren. Im Optimalfall lassen sich dadurch Störungen vorhersagen, bevor es zu negativen Auswirkungen oder gar Ausfällen kommt.
In einer Analyse hat sich das Allianz Zentrum für Technik (AZT) der AGCS fundiert mit der vorrausschauenden Instandhaltung beschäftigt – und erste konkrete Auswirkungen hinsichtlich Chancen und Risiken eruiert: So können Predictive Maintenance-Systeme dazu beitragen, technische Risiken zu verändern und Schadensfälle zu verhindern. "Konkret kann etwa durch die korrekte Interpretation von Schwingungsmerkmalen ein allmählich wachsender Riss in einer Welle erkannt werden und durch rechtzeitige Abstellung ein gefährlicher Wellenbruch mit umfangreichen Folgeschäden vermieden werden", nennt AZT-Ingenieur Thomas Gellermann als Beispiel.
Auch das Risiko und Ausmaß von Betriebsunterbrechungen, laut Allianz Risk Barometer das größte Unternehmensrisiko für Unternehmen weltweit, könne durch Predictive Maintenance reduziert werden, wenn bestimmte Fehlerarten rechtzeitig erkannt und frühzeitig ein Austausch ohne Beeinträchtigung der Anlagenverfügbarkeit geplant würden. "Vor allem bei Maschinen und Anlagen, für die der Hersteller keine planmäßigen Überholungen bzw. Revisionen vorgesehen hat und bei denen die Ausfallursachen und Wirkmechanismen weitestgehend bekannt sind, kann die vorausschauende Instandhaltung Störungszeiten minimieren und folglich Kosten sparen. Windturbinen sind ein gutes Beispiel dafür", erklärt Gellermann.
Die Untersuchung des AZT zeigt aber auch, dass beim Einsatz von Predictive Maintenance einige Risiken unverändert bleiben – und sogar neue Risiken entstehen können. Vor allem mögliche Spontanereignisse sind trotz der neuen Technologie nicht verhinderbar, wenn keine messbaren Effekte im Vorfeld erkennbar sind: Das Bersten der Niederdruckturbinenwelle im Kraftwerk Irsching am Silvestertag 1987, bis heute einer der größten metallischen Brüche weltweit, wäre auch mit Predictive Maintenance nicht verhinderbar gewesen, da das auslösende Teil nicht überwacht wurde. "Auch Maximalschaden-Ereignisse können aufgrund der modernen Instandhaltungsmethode nicht ausgeschlossen werden", erklärt Gellermann. Darüber hinaus könnten – wenn sich durch die neue Instandhaltungsform Revisionszyklen verlängern – Verschleiß und Störungen an unüberwachten Maschinenteilen nicht frühzeitig erkannt werden.
Ein weiteres Risiko der Predictive Maintenance-Systeme besteht in der Qualität der ermittelten Daten. Sie sind gleichermaßen anfällig für Ausfälle oder Funktionsstörungen oder könnten durch Cyberangriffe oder Sabotageakte manipuliert werden. Dadurch könnten Daten missinterpretiert oder möglicherweise schädliche Steuerungsbefehle initiiert werden.
"Als einer der weltweit führenden Industrieversicherer wollen wir bei der Etablierung von Predictive Maintenance Methoden mitspielen. Wir sind überzeugt, dass diese neue technologiebasierte Form der Instandhaltung über kurz oder lang mehr Verbreitung in Unternehmen finden wird. Aufgrund der Komplexität von Maschinenanlagen und der Fehlermechanismen wird aber auch in Zukunft die Instandhaltung nicht ausschließlich nach dem vorrausschauenden Modell erfolgen können, sondern es werden auch weiterhin Instandhaltungsmaßnahmen in festen Zeitintervallen notwendig sein.
Zugleich will die AGCS für die neuen Risiken sensibilisieren. "Die Industrie und Versicherer müssen sich mit den Chancen und Risiken der Instandhaltungstechnologien intensiv auseinandersetzen – und eng mit technischen Anbietern kooperieren", sagt Thomas Meschede, Head of Allianz Risk Consulting in Central- und Osteuropa. Die Bewertung des Risikos darf auch unter Berücksichtigung von Predictive Maintenance nicht pauschal getroffen werden, sondern bedarf je nach Anwendungsfall, Optimierungsziel und Ausführung der fachkundigen Begutachtung eines Experten. Wichtig ist dabei, kritische und bewährte Prinzipien, die dem Schutz der Anklage dienen, nicht über Bord zu werfen, wie zum Beispiel die Trennung der Predictive Maintenance Systeme von den bekannten Schutzfunktionen der Anlage.