Mit dem neuen EU-Regelwerk Solvency II rückt Kapital als knappe Ressource in den Mittelpunkt der strategischen Überlegungen aller europäischen Versicherer. Doch viele Unternehmen sind noch unzureichend auf Solvency II vorbereitet, so dass selbst eine Verschiebung der Einführung auf 2014 für viele Unternehmen keine Entwarnung bedeutet. Daher steht bei den Unternehmen in den nächsten Jahren nicht nur die operative Vorbereitung auf der Agenda, sondern auch die Optimierung und gegebenenfalls Neuausrichtung ihres Geschäftsmodells.
Die Solvenzquoten insbesondere der deutschen und britischen Lebensversicherer sind unter Solvency II kritisch: für 25 Prozent der deutschen und 21 Prozent der britischen Unternehmen führt eine aktuell durchgeführte Simulation zu einer Solvenzquote gemäß QIS5 von weniger als 100 Prozent. Die wesentliche Ursache für dieses im europäischen Vergleich schwache Ergebnis ist der hohe Anteil von Rentenversicherungen mit langen Laufzeiten in Deutschland und Großbritannien. Jede vierte deutsche Lebensversicherung ist heute als Rentenversicherung ausgestaltet, mit deutlich steigender Tendenz; in Frankreich und Italien sind es weniger als zehn Prozent. Diese langlaufenden, traditionellen Lebensversicherungen mit einer garantierten Verzinsung erfordern unter Solvency II eine hohe Kapitaldeckung. Erschwerend kommt hinzu: Verglichen mit anderen europäischen Ländern ist in Deutschland die Diskrepanz zwischen den Laufzeiten der Versicherungsverträge und des angelegten Vermögens besonders hoch; manches Haus fährt mit Blick auf die deutsche Rechnungslegung nach HGB nach wie vor kurze Durationen. Zum Vergleich: In Frankreich, Italien und Großbritannien ist der Duration Mismatch in der Regel kein Thema, weil die Verbindlichkeiten deutlich kurzfristiger sind oder bei Sofortrenten durch entsprechende Langläufer gedeckt werden.
Ein anderes Bild ergibt sich bei den Schaden- und Unfallversicherern; hier stehen die deutschen und britischen Häuser vergleichsweise gut da. Lediglich acht Prozent der Versicherer in Großbritannien und kein einziger deutscher Versicherer hat Solvenzquoten gemäß QIS5 von unter 100 Prozent, obwohl europaweit in dieser Sparte das benötigte Kapital im Vergleich zu Solvency I um mehr als 200 Prozent steigen wird. Ganz anders die Lage in Italien: Die Hälfte der italienischen Sachversicherer weist in der Simulation eine Solvenzquote von weniger als 100 Prozent aus. Der Grund ist der ungünstige Produktmix: In Italien ist der Anteil der Kfz-Versicherungen in dieser Sparte mit rund 50 Prozent erheblich größer als in den anderen europäischen Märkten. Und die Gesamtkostenquote liegt in diesem hart umkämpften Versicherungszweig in Italien bei nahezu 110 Prozent der Prämien – das belastet die Eigenmittel und damit die Solvenz.
Die zweite entscheidende Kennzahl unter Solvency II ist die erwirtschaftete Rendite auf das eingesetzte Kapital. Hier fällt die Differenz zwischen den einzelnen Versicherungssparten auf. So gibt es in der Lebensversicherung erhebliche Unterschiede zwischen traditionellen und fondsgebundenen Produkten. Während die traditionellen Produkte im europäischen Durchschnitt eine leicht negative risikoadjustierte Rentabilität von minus einem Prozent ausweisen, glänzen die fondsgebundenen mit zum Teil zweistelligen Renditen. Noch attraktiver ist aus Ertragssicht die Risikolebensversicherung, wo sich Renditen von 17 Prozent ergeben. Wollten sich Lebensversicherer in Zukunft auf diese beiden Produktgattungen beschränken, würden sie jedoch deutlich zu kurz denken.
Vielmehr sind neue, kapitalschonende aber dennoch von Banken und Fondsgesellschaften klar abgrenzbare Garantiekonzepte gefragt. Bei den Sachversicherern bewahrheitet sich eine landläufige Meinung: Mit Kfz-Haftpflicht ist kein Geld zu verdienen. Die risikoadjustierte Rentabilität liegt im europäischen Durchschnitt bei minus drei Prozent; mit Ausnahme von Großbritannien liegt sie auch bei der Versicherung von Eigentum und Gebäuden im negativen Bereich. Mit anderen Versicherungsprodukten wie der Haftpflicht lassen sich dagegen zumindest in einigen europäischen Märkten durchaus attraktive Renditen erwirtschaften.
Bevor das neue EU-Regelwerk eingeführt wird, müssen sich die Unternehmen intensiv mit ihrer Kapital- und Risikooptimierung beschäftigen. Doch diese Maßnahmen zur Entlastung des Solvenzkapitals sind nur ein Teil der Hausaufgaben: Die Versicherer müssen ihre Unternehmensstrategie an die neuen Rahmenbedingungen anpassen, ebenso Organisation und Kultur. Die neuen Regeln erfordern ein Umdenken im gesamten Unternehmen und zum Teil völlig neue Prozesse. Im Reporting wird eine weitgehende Industrialisierung unumgänglich sein. Das ist eine Herkulesaufgabe! Zugleich eröffnet dieser Umbruch aber insbesondere für kapital- und ertragsstarke Häuser neue Chancen: Der gesamte Versicherungsmarkt kommt in Bewegung. Das ist die ideale Gelegenheit für Branchenführer, ihre Marktposition weiter auszubauen.
Autor:
Dr. Gunther Schwarz ist Partner bei Bain & Company und Leiter der Versicherungs-Praxisgruppe für Europa.
[Der Beitrag geht auf eine gemeinsame Analyse von Bain & Company und Towers Watson zurück, die die Auswirkungen von Solvency II auf die wichtigsten Versicherer in den vier großen EU-Märkten Deutschland, Frankreich, Italien und Großbritannien für das Leben-, Kranken- und Schaden-/Unfallgeschäft untersucht hat.]
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