Risiken in der Versorgungskette werden in der Logistikwirtschaft als reale Bedrohung betrachtet. So wurden im Rahmen des Allianz Risk Barometers 2015 erst Mitte Januar "Betriebs- und Lieferkettenunterbrechungen" erneut als das wichtigste Geschäftsrisiko eingestuft [vgl. Allianz 2015, S. 1]. Handelt es sich dabei aber um mehr als nur ein griffiges Schlagwort? Zeigt nicht das Beispiel des indonesischen Vulkans Tambora aus dem Jahr 1815, dass Naturkatastrophen auch schon vor nahezu 200 Jahren globale Auswirkungen auf die (europäische) Wirtschaft hatten, und beispielsweise im damaligen Königreich Württemberg zu Hungersnöten wegen kurzfristiger Klimaveränderungen ("das Jahr ohne Sommer") führten?
Befragung von Dualer Hochschule Baden-Württemberg und AEB
Vor diesem Hintergrund führten die Duale Hochschule Baden-Württemberg Stuttgart und das Software-Unternehmen AEB im Herbst 2013 eine Befragung unter 110 Experten von Außenhandel und Supply Chain Management durch, mehrheitlich aus kleinen und mittelständischen Unternehmen im deutschsprachigen Raum [vgl. Lison/Hartel 2013]. Im Folgenden sollen einige wesentliche Erkenntnisse bzgl. Relevanz, Methoden und Risikosteuerungsstrategien dargestellt werden: Supply-Chain-Risiken sind keine theoretischen Konstrukte, die ausschließlich in Wissenschaft und Forschung behandelt werden, sondern sie sind reale Themen, die direkt im Bewusstsein der Unternehmen angekommen sind. Das zeigt auch das Ergebnis der Befragung: Lediglich acht Prozent der Teilnehmer würden der Aussage "Supply Chain Risiken spielen nur eine untergeordnete Rolle in meinem Unternehmen" voll und ganz zustimmen.
Konsequenzen aus Fukushima?
Zunächst überraschend erscheinen die Ergebnisse hinsichtlich der Frage, welche Bedeutung Fukushima für die Supply-Chain-Prozesse einnimmt, schließlich wurde das japanische Erdbeben gelegentlich als die "größte Krise der Menschheit bezeichnet". Toyota etwa verlor im Jahr 2011 den Titel als weltgrößter Autohersteller und war gut zwei Monate nicht lieferfähig. Aus Sicht der Studienteilnehmer, in erster Linie aus mittelständischen Maschinen- und Anlagenbauunternehmen kommend, waren die Auswirkungen offensichtlich weniger gravierend, was unter Umständen daran gelegen hat, dass sich der japanische Maschinen- und Anlagenbau sehr schnell von der Katastrophe erholte und auch nicht in Ostjapan seinen geografischen Schwerpunkt hat. Damit lässt sich erklären, dass mehr als die Hälfte der Befragten (55 Prozent) angaben, dass sie nach Fukushima die Lieferketten weder überprüft noch angepasst haben.
Um solche Versorgungsengpässe zu vermeiden, sind einige Unternehmen – auch in der Automobilindustrie – dazu übergegangen, manche just-in-time-Anbindungen zu überdenken und an neuralgischen Punkten gezielt Sicherheitsbestände aufzubauen. Es erscheint jedoch nachvollziehbar, dass solche – eher wirkungsbezogenen Risikosteuerungsstrategien – keine nachhaltige Problemlösung darstellen können. Daher verwundert es nicht, dass 52,7 Prozent eine Strategie des bewussten Bestandsaufbaus grundsätzlich ablehnen.
(Noch?) kein systematischer Ansatz bei Supply Chain Risiken
Mit dem Erkennen des Stellenwerts von Supply Chain Risiken ist der erste Schritt in Richtung einer systematischen Betrachtungsweise, beispielsweise in Logistikprojekten [vgl. Hartel 2015, S. 143ff.] getan. Allerdings lassen die Befragungsergebnisse erkennen, dass viele Unternehmen von einem institutionalisierten Risikomanagementsystem noch weit entfernt sind. Für die Umsetzung eines effektiven Supply Chain Risk Managements steht eine Vielzahl verschiedener Methoden und Instrumente zur Verfügung. Sie wurden eher selten ursprünglich für Risiko-Themen entwickelt, sondern entstammen entweder dem allgemeinen strategischen Management (Frühwarnsysteme, SWOT-Analysen, Szenariotechnik etc.) oder dem Qualitätsmanagement, beispielsweise FMEA und Risiko-Portfolios (vgl. Abb. 01). In beiden Fällen handelt es sich um Methoden, die konzeptionell bereits vor Ende des letzten Jahrhunderts oder früher entstanden sind. Gerade vor diesem Hintergrund erscheinen die methodischen Kompetenzdefizite auffällig.
Abb. 01: Bekanntheitsgrad von SCRM-Methoden
Über alle Methoden betrachtet, sind diese nur zwischen 42,3 Prozent (bei Szenariotechnik) und 53,8 Prozent (bei SWOT-Analyse) der Probanden bekannt. Die Defizite im methodischen Handwerkszeug führen dazu, dass knapp die Hälfte der Teilnehmer, teilweise auch mehr als die Hälfte, einzelne Methoden nicht kennt. Einerseits überrascht dieses Antwortverhalten, andererseits wurde bereits an anderer Stelle die fehlende systematische Vorgehensweise hinsichtlich des Risikomanagements angemerkt. Anscheinend wird den Supply Chain Risiken eine hohe Bedeutung beigemessen, die Problembehandlung respektive -lösung erfolgt aber eher "hands on".
Signifikante Unterschiede bei Unternehmensgrößen
Auf den ersten Blick überraschen die Ergebnisse und es stellt sich die Frage, ob der Bekanntheitsgrad der Methoden mit der Unternehmensgröße der Teilnehmer, gemessen an den Mitarbeiterzahlen, korreliert. Mit Hilfe einer Kreuztabellierung konnte eine große Streuung beim Bekanntheitsgrad der Methoden nachgewiesen werden. Bei der SWOT-Analyse beträgt diese etwa zwischen 33,3 Prozent (kleine Unternehmen bis 100 Mitarbeiter), 55,3 Prozent (mittlere Unternehmen zwischen 101 und 500 Mitarbeitern) und 69,2 Prozent (Großunternehmen mit mehr als 500 Mitarbeitern). Hieraus lässt sich ableiten, dass der methodische Handlungsbedarf in erster Linie kleinere Unternehmen betrifft. Auch bei allen anderen SCRM-Methoden (mit Ausnahme der Szenariotechnik) steigt der Bekanntheitsgrad einer Methode mit zunehmender Unternehmensgröße.
Abstimmung von Supply Chain Risiken mit Dritten
Supply Chain Management erfordert Kooperation in unternehmensübergreifenden Netzwerken. Vor diesem Hintergrund treffen immerhin 63 Prozent der Teilnehmer die Aussage, dass sie sich hinsichtlich ihrer Strategien und Maßnahmen im SCRM mit Dritten abstimmen. Wichtigste Partner bei der Abstimmung sind A-Kunden und A-Lieferanten. Über 80 Prozent der Befragten gaben an, dass sie diese systematisch einbinden oder sich zumindest häufiger mit ihnen abstimmen. Bereits danach kommen Logistikdienstleister zum Tragen, die sich somit vom klassischen Spediteur zum gleichberechtigten Partner in der Supply Chain weiterentwickelt haben.
Fazit aus Sicht des deutschsprachigen Raums
Supply Chain Risiken sind im Bewusstsein der Unternehmen angekommen. Nur ein Bruchteil der Befragten ordnet diesen daher eine untergeordnete Rolle zu. Allerdings lassen die Befragungsergebnisse erkennen, dass gerade bei kleinen und mittelständischen Unternehmen die Methodenkompetenz für ein effektives Risikomanagement ausbaufähig ist. Hier herrscht vielfach noch Handlungsbedarf, denn das Erkennen von Supply Chain Risiken ist ein erster Schritt, löst diese aber noch nicht.
Autoren:
Prof. Dr. Dirk H. Hartel leitet den Studiengang BWL-DLM/Logistikmanagement an der DHBW Stuttgart und arbeitet als freiberuflicher Unternehmensberater und Trainer.
Dr. Ulrich Lison ist als Portfoliomanager und Mitglied der Geschäftsleitung der AEB GmbH tätig.
Aktuell Studie zum Supply Chain Risk Management in der Praxis
Der Studiengang BWL-Dienstleistungsmanagement/Logistikmanagement (Prof. Dr. Hartel) an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg Stuttgart (DHBW) führt aktuell eine Studie zum Thema "Supply Chain Risk Management in der Praxis – ein deutsch-indischer Vergleich" in Kooperation mit der Top 20 Business School SIMSR Mumbai (KJ Somaiya Institute Of Management Studies And Research) in Mumbai durch.
Folgende praxisrelevante Fragen sollen dabei beantwortet werden:
- Welche Bedeutung hat SCRM in unterschiedlichen Branchen?
- Gibt es branchenspezifische Unterschiede?
- Wie wird SCRM im Unternehmen gelebt?
- Gibt es branchen-, länder- oder größenabhängige Einflüsse?
- Ergibt sich ein Nutzen aus einem institutionalisierten SCRM-System? Und wenn ja, wie wird dieser erfasst?
- In welchen Bereiche gibt es Gemeinsamkeiten, wo Unterschiede zwischen dem SCRM in Indien und Deutschland?
Zielgruppe sind Mitarbeiter oder Entscheidungsträger bei Unternehmen aller Größen und Branchen.
Die Teilnahme ist bis 9. Juni 2015 möglich. Die Online-Befragung dauert rund 10 bis 15 Minuten. Die Ergebnisdarstellung erfolgt voll anonymisiert. Sollten Sie manche Fragen nicht beantworten können, lassen Sie diese einfach aus.
Sofern Sie uns ihre E-Mailadresse hinterlassen, haben Sie als Teilnehmer die Möglichkeit, nach Auswertung der Ergebnisse eine Zusammenfassung zu erhalten.
Zur Teilnahme geht es hier:
ww3.unipark.de/uc/Umfrage_SCRM/
bzw. in der englischen Version:
Quellenverzeichnis sowie weiterführende Literaturhinweise:
- Allianz (Hrsg.) (2015): Allianz Risk Barometer - Geschäftsrisiken 2015, München 2015.
- Hartel, D. (2015): Risikomanagement in Logistikprojekten, in: Hartel, D. (Hrsg.): Projektmanagement in der Logistik – Praxisleitfaden mit Beispielen aus Industrie, Handel und Dienstleistung, Heidelberg, S. 143-158.
- Lison, U./Hartel, D. (2013): Global Trade Management Agenda 2014 - Zukünftige Herausforderungen, Risiken und Lösungsansätze im globalen Supply Chain Management, Stuttgart 2013.