Für die europäische Versicherungswirtschaft begann zum 1. Januar 2016 eine neue Ära: Mit Solvency II trat ein europaweit einheitliches Regelwerk in Kraft, nach dem Versicherer über so viel Kapital verfügen müssen, dass sie selbst Negativereignisse verkraften können, die, statistisch betrachtet, nur einmal in 200 Jahren auftreten. Veränderte Aufbau- und Ablauforganisationen müssen Risiko- und Wertorientierung in den Geschäftsprozessen abbilden und verlangen somit einen risikoorientierten und integrativen Steuerungsansatz in der Assekuranz. Ziel des Projekts Solvency II ist es, die Eigenmittelanforderungen an die tatsächlichen Risiken der Versicherer zu knüpfen. Außerdem sollen für die Versicherer Anreize zu einem geeigneten Risikomanagementsystem geschaffen werden.
Zum 6. Messekongress "Finanzen und Risikomanagement" der Versicherungsforen Leipzig am 22. und 23. Juni 2017 hält Dr. Jürgen Bierbaum (Stellvertretendes Mitglied des Vorstandes, ALTE LEIPZIGER Lebensversicherung a.G.) eine Keynote zum Thema "Eineinhalb Jahre Solvency II – Sind wir jetzt schlauer?".
Wie beurteilen Sie die Regelungen von Solvency II nach über einem Jahr Anwendungszeitraum?
Jürgen Bierbaum: Solvency II stellt eine Zäsur dar. Wir müssen uns an volatilere Ergebnisse als unter Solvency I gewöhnen. Auch die Interpretation von Ergebnissen ist deutlich komplexer geworden. Andererseits zeigen die Ergebnisse die tatsächlichen Risiken wesentlich klarer als unter Solvency I. Die Regelungen selbst sollten wir nach meiner Einschätzung erst einmal stabil halten und höchstens punktuell nachbessern.
Wie gut aufgestellt sehen Sie die Alte Leipziger?
Jürgen Bierbaum: Die Solvenzanforderungen übertreffen wir deutlich und zwar ohne Ansatz von Übergangsmaßnahmen oder Volatility Adjustment. Hier zeigt es sich, dass sich der konsequente Aufbau von Eigenkapital und die Investition in das ALM gelohnt haben. Auch prozessual können wir die Anforderungen aus Solvency II erfüllen. In den nächsten Jahren werden wir die internen Prozesse weiter verfeinern.
Empfinden Sie den mit Solvency II verbundenen Aufwand als zu hoch?
Jürgen Bierbaum: Die Aufwände für Solvency II sind sehr hoch. Umso wichtiger ist es, dass wir nicht allein die regulatorischen Anforderungen erfüllen, sondern dass aus den quantitativen und qualitativen Anforderungen auch ein Mehrwert für das Unternehmen resultiert.
Inwieweit erachten Sie Solvency II als nützliches Instrument für die Unternehmenssteuerung?
Jürgen Bierbaum: Bei Unternehmensentscheidungen betrachten wir die Auswirkung auf die Solvenzsituation. Die Ergebnisse aus Solvency II können somit einen wichtigen Beitrag für Entscheidungen liefern. Das heißt aber nicht, dass wir Unternehmensentscheidungen allein an Solvency II ausrichten.
Im Mai sind mit dem SFCR zum ersten Mal Informationen zu Solvency II von den Unternehmen offenzulegen. Kann Ihrer Meinung nach damit dem Ziel der Markttransparenz gut Rechnung getragen werden?
Jürgen Bierbaum: Mit der Veröffentlichung der SFCR im Mai 2017 gehen wir einen großen Schritt in Richtung Transparenz von Solvency II-Ergebnissen. Eine spannende Frage wird sein, ob die ausgewiesenen Solvency II-Werte zu dem Bild passen, dass die Unternehmen unter HGB abgeben. Diese Fragestellung möchte ich auch in meinem Vortrag auf dem Messekongress "Finanzen und Risikomanagement" beleuchten.
Welche Herausforderungen gehen für Ihr Unternehmen mit der Offenlegung einher?
Jürgen Bierbaum: Bei dem SFCR handelt es sich um einen neuen Bericht, zudem wird er im Fokus der interessierten Öffentlichkeit stehen. Wir müssen also bereit und in der Lage sein, die Angaben im SFCR unseren Kunden und Geschäftspartnern zu erklären. Angesichts der Komplexität von Solvency II ist das keine ganz einfache Aufgabe.
Die Branche sieht sich weiterhin niedrigen Zinsen gegenüber. Als Folge gibt es weniger Angebote an klassischen Lebensversicherungen. Die Alte Leipziger hat nun mit der AL_RENTE Flex ein neues Kombi-Produkt aus klassischer und Fonds-Anlage entwickelt, bei dem der Kunde monatlich neu entscheiden kann, in welche Anlage seine Beiträge investiert werden sollen. Sehen Sie die Zukunft der Lebensversicherung in dieser Art von flexiblen Produkten, da man hier kurzfristig auf Änderungen an den Kapitalmärkten reagieren kann?
Jürgen Bierbaum: In der Tat sehe ich die Zukunft der Lebensversicherung in flexiblen und transparenten Produkten. Kunden müssen über einen längeren Zeitraum als bisher ihre Altersvorsorge planen. Flexibilität bei der Kapitalanlage ist da ein "Muss". Insofern war es uns bei der Konzeption von AL_Rente Flex wichtig, ein Produkt mit hoher Flexibilität bei der Kapitalanlage und klassischen Garantien nach Bedarf der Kunden auf den Markt zu bringen.
Oder drohen auch gewisse Risiken daraus, dass der Kunde die Flexibilität zur Spekulation gegen den Versicherer nutzen könnte?
Jürgen Bierbaum: Da wir die Garantien im klassischen Teil kapitaleffizient gestaltet haben und Kapitalverschiebungen zwischen klassischem Teil und Fonds nicht beliebig vorgenommen werden können, bin ich mir sicher, dass keine Spekulation gegen das Kollektiv möglich ist.
Dr. Jürgen Bierbaum ist stellvertretendes Vorstandsmitglied bei der ALTE LEIPZIGER Lebensversicherung und trägt die Verantwortung für die Bereiche Produkte, Mathematik, Vertrag und Leistung. Nach dem Studium der Humanmedizin sowie der Mathematik arbeitete Bierbaum für die Bankgesellschaft Berlin AG. Danach war er am Institut für Wirtschaftstheorie I der Humboldt-Universität zu Berlin tätig, wo er in Volkswirtschaftslehre promovierte. Von 2003 bis 2011 war Jürgen Bierbaum in verschiedenen Funktionen für die Allianz Lebensversicherungs-AG in Stuttgart tätig. Im Jahr 2011 wechselte er zur ALTE LEIPZIGER Lebensversicherung, übernahm 2012 die Leitung des Zentralbereichs "Aktuariat und Versicherungstechnik" und wurde zum Verantwortlichen Aktuar der ALTE LEIPZIGER Lebensversicherung, ALTE LEIPZIGER Pensionskasse und des ALTE LEIPZIGER Pensionsfonds bestellt.