Flüchtlingszustrom

Konjunkturprogramm für Deutschland


Flüchtlingszustrom: Konjunkturprogramm für Deutschland Kolumne

Was bei allen Schwierigkeiten über die Unterbringung und Integration der Flüchtlinge oft vergessen wird: Wenn in diesem Jahr so viele Menschen nach Europa kommen, dann schafft das rein wirtschaftlich gesehen Wachstum, Arbeitsplätze und Mehreinnahmen für die Sozialversicherungen. Es wirkt wie ein riesiges Konjunkturprogramm und gibt auch mittelfristig Hoffnung auf neue wirtschaftliche Dynamik. Die Prognosen für die weitere Entwicklung Europas in 2015/2016 können trotz des schlechteren weltwirtschaftlichen Umfelds nach oben revidiert werden.

Das klingt angesichts der vielen Klagen über den Flüchtlingszustrom auf den ersten Blick überraschend. Es ist jedoch eine uralte Erkenntnis der Wissenschaft, dass die Bevölkerung eine der entscheidenden Determinanten der wirtschaftlichen Entwicklung ist. Bevölkerungsreiche Länder haben unter sonst gleichen Umständen ein größeres Sozialprodukt (siehe China oder Indien). Länder mit hohem Bevölkerungswachstum haben normalerweise auch eine höhere wirtschaftliche Dynamik. Die Grafik zeigt die Entwicklung in Deutschland in den letzten 35 Jahren. Der Zusammenhang ist klarer erkennbar, als ich gedacht hatte.

Bevölkerung und Wirtschaftswachstum: Zunahme der Bevölkerung und des BIP in % ggü. Vorjahr, gleitende Durchschnitte [Quelle: Bundesbank]

Bevölkerung und Wirtschaftswachstum: Zunahme der Bevölkerung und des BIP in % ggü. Vorjahr, gleitende Durchschnitte [Quelle: Bundesbank]

Angewandt auf den derzeitigen Flüchtlingszustrom heißt das: Erstens steigt die Nachfrage. Es handelt sich hier um Konsumgüter zur Versorgung der Menschen, wenn sie hier ankommen und leben. In vielen Städten sind die Läden voll von Flüchtlingen (die ja nicht alle unvermögend sind). Dazu kommen die Bereitstellung von Wohnungen, Möbel, Transport, aber auch Sprach- und Integrationskurse. Weitere Nachfrage entsteht durch notwendige Neueinstellungen in der Verwaltung.

All das wird in der öffentlichen Diskussion immer nur unter "Kosten" subsumiert. Für die Volkswirtschaft ist es aber Nachfrage. Über die Höhe gibt es bisher keine verlässlichen Zahlen. Häufig wird für Deutschland eine Größenordnung von zehn Mrd. Euro genannt. Ich halte das eher für die Untergrenze. Das wären 0,3 Prozent bis 0,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Die Wirtschaftsleistung würde in Deutschland 2016 also nicht um 1,7 Prozent wachsen, sondern um mehr als zwei Prozent. Ähnlich für andere Länder in Europa.

Zweitens: Das Arbeitsangebot nimmt zu. Das wird sich allerdings erst längerfristig auswirken. Es betrifft auch nur die Flüchtlinge, die bleiben und arbeiten dürfen. Kurzfristig wird es an den Arbeitsmärkten also wegen der Mehrnachfrage auf den Gütermärkten enger. Erst dann steigt die Zahl der Erwerbstätigen. Es ist aber nicht zu erwarten, dass am Ende die Arbeitslosigkeit zunehmen wird. Dafür gibt es zu viele unbesetzte Stellen in den Unternehmen.

Drittens: In den öffentlichen Haushalten nehmen zuerst die Ausgaben zu. Darüber klagen jetzt die Finanzminister. Wenn die Flüchtlinge aber arbeiten können, zahlen sie auch Steuern und entlasten die Budgets. Besonders die Sozialversicherungen werden Mehreinnahmen haben und Überschüsse erwirtschaften. Denn die Flüchtlinge sind vor allem jüngere Leute, die erst in vielen Jahren in Rente gehen. Insgesamt dürfte die von der Regierung angestrebte "schwarze Null" in den öffentlichen Haushalten durch die Mehrausgaben für die Flüchtlinge nicht gefährdet sein.

Viertens: Das Wirtschaftswachstum wird in Zukunft weniger exportlastig sein und mehr konsumgetrieben. Das ist kein Fehler. Deutschland wird für seine Leistungsbilanzüberschüsse international häufig kritisiert. Es könnte auch sein, dass die Investitionen steigen, wenn es mehr Nachfrage auf den Märkten gibt.

Fünftens und ganz wichtig: Durch den Flüchtlingszustrom könnte auch die Reformbereitschaft zunehmen. Bundeskanzlerin Merkel sprach von einer "nationalen Herausforderung". Sie rief dazu auf, die Kultur der Gründlichkeit zu ergänzen durch eine Kultur der Flexibilität. Vielleicht war das nur so dahingesprochen und ist bald wieder vergessen. Es könnte aber auch sein, dass da mehr dahinter steckt. Ähnlich wie die Kanzlerin nach dem Atomunglück im japanischen Fukushima die Energiewende in Deutschland einleitete, könnte es auch sein, dass sie mit diesen Worten jetzt wieder etwas in Gang setzt. Manche Unternehmen denken schon in dieser Richtung. Das würde die Wirtschaft dynamischer machen.

Sechstens: Bevölkerungswanderungen haben immer zwei Effekte. Wer Menschen abgibt, verliert Potenzial, wer Menschen aufnimmt, gewinnt Potenzial. Auf Dauer liegt es daher nicht im Interesse der Länder in Afrika oder im Nahen Osten, dass so viele Menschen weggehen. Auch innerhalb Europas ergibt sich eine Umverteilung. Länder, die weniger Menschen aufnehmen, machen es sich heute leichter, verzichten langfristig aber auf Wachstumschancen (zum Beispiel Frankreich oder Großbritannien).

Autor: 

Dr. Martin W. Hüfner, Chief Economist, Assenagon Asset Management S.A.

[ Bildquelle Titelbild: © thomasschwerdt - Fotolia.com ]
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