Risiken richtig einschätzen

Marktsimulation und Stresstests in der Industrie


Marktsimulation und Stresstests in der Industrie News

Ein integriertes und intelligentes Risikomanagement wird in Unternehmen immer wichtiger. Marktsimulationen, die Wirkungszusammenhänge von Markttreibern berücksichtigen, zeigen dem Management die Konsequenzen bestimmter Marktszenarien auf. Unternehmensweite Stresstests in Verbindung mit der Abbildung von Wirkungszusammenhängen unternehmensrelevanter Risikofaktoren liefern durch das Generieren von hypothetischen, jedoch real plausiblen Szenarien ökonomisch interpretierbare Ergebnisse. So können die Folgen auf die finanzielle Leistungsfähigkeit und vor allem Tragfähigkeit des Unternehmens aufgezeigt werden. Der Ansatz im Kontext dieses Artikels befasst sich insbesondere mit dem Risikomanagement industrieller Unternehmen. Für diese Unternehmen ist es von zentraler Bedeutung, treibende Risikofaktoren zu kennen und Marktsituationen zu identifizieren, die das Unternehmen in Schieflage bringen können. Börsennotierte Unternehmen sind durch das Gesetz zur Kontrolle und Transparenz im Unternehmensbereich (KonTraG) zu kontinuierlichem Risikomanagement verpflichtet. Insbesondere Unternehmen, die vom globalen Marktgeschehen abhängen, profitieren von der Durchführung sogenannter Stresstests. Aus den Ergebnissen lassen sich Handlungsmaßnahmen identifizieren und strategische Pläne entwickeln, um für bestimmte Marktszenarien präpariert zu sein und flexibel reagieren zu können.

Zusammenhänge der Risikotreiber

Für das Erreichen ihrer betriebswirtschaftlichen Ziele und das Erwirtschaften von Erträgen müssen Unternehmen Risiken eingehen. Diese Risiken liegen vor allem in der Schwankung relevanter Marktfaktoren. Dies ist beispielsweise das geplante Umsatzvolumen, das vom Produktpreis und der Menge der verkauften Güter beeinflusst wird. Ebenso spielen die Beschaffungskosten der eingesetzten Rohstoffe, die Marktzinsen, Währungskurse, sowie das Lohn- und Gehaltsniveau eine wichtige Rolle bei der Quantifizierung der Risiken. Diese und diverse andere Faktoren stehen darüber hinaus in Abhängigkeit zueinander und beeinflussen sich gegenseitig. Die simultanen Schwankungen dieser Ergebnistreiber stellen für Unternehmen einen großen Unsicherheitsfaktor bei der Planung ihrer Umsatz- und Absatzziele dar. Die geplanten Cash-Flows eines produzierenden Unternehmens hängen zum einen von den erwähnten Risikotreibern ab und werden darüber hinaus von sekundären Treibern beeinflusst. Dabei werden exogene und endogene Risikofaktoren unterschieden. Der endogene Bereich beschreibt den Ausschnitt der Realität, der in seinen Wechselbeziehungen untersucht und simuliert wird. Der exogene Bereich umfasst diejenigen Faktoren, die Einflüsse auf den endogenen Bereich ausüben, selbst aber nur schwer steuerbar sind. Exogene Treiber können beispielweise die Fiskal- und Geldpolitik oder auch Umweltkatastrophen sein. Der problemrelevante endogene Bereich wird durch die Variablen Währungskurs, Konjunktur, langfristiges Zinsniveau, Rohstoffpreis, Warenpreis sowie Absatz aufgespannt.

Die Auswirkungen der Marktbewegungen auf das Unternehmensergebnis werden im hier verfolgten Ansatz durch Monte-Carlo-Simulation ermittelt. Ziel der Simulation ist die Bestimmung der individuellen Cash-Flow-Verteilung des Unternehmens im jeweiligen Szenario.

Modellierung und Konstruktion

Die simultanen Schwankungen verschiedener Risikotreiber haben unterschiedliche Auswirkungen auf die Entwicklung der Unternehmens-Cash-Flows und beeinflussen die betriebswirtschaftlichen Ziele der Unternehmung. Um die Auswirkungen und Risiken integriert für ein Unternehmen zu messen, werden die Zusammenhänge in einem Marktmodell abgebildet. Eine abstrakte Abbildung der für das betrachtete Unternehmen relevanten Marktfaktoren bietet eine geeignete Basis, die Marktdynamik für das Unternehmen zu modellieren und die Konsequenzen von Entwicklungen darzustellen.  Die Modellierung kausaler Zusammenhänge dient der qualitativen Konstruktion eines Risikomodells auf Basis makroökonomischer Marktparameter und bildet komplexe Beziehungen wie. z. B.  die Wirtschaftsdynamik ab. Das entwickelte Simulationsmodell basiert zunächst auf theoretischen Analysen der Wirkungszusammenhänge. Empirisch ermittelte Zusammenhänge ergänzen die Analyse. Das so gewonnene Wirkungsschema stellt eine approximative Abbildung des risikorelevanten Umfeldes des Unternehmens dar.    

Zur Quantifizierung wird den Marktfaktoren eine Einflussverzögerung von einem Quartal unterstellt. Die Veränderung der Marktfaktoren wird durch diskrete Renditen ausgedrückt. Der systemexterne Umwelteinfluss auf jeden endogenen Parameter wird jeweils in einer Zufallsvariable aggregiert.  Die endogenen Faktoren hingegen werden aus den Einflüssen der einzelnen Risikotreiber mittels Regressionsinstrumenten berechnet. Die Quantifizierung der Wirkungszusammenhänge baut auf der Methodik der bivariaten linearen Regression auf. Ausgangspunkt für ein adäquates Bewertungsschema bilden die historischen Korrelationskoeffizienten nach Pearson für alle paarweisen Zusammenhänge zwischen Marktparametern innerhalb des endogenen Bereichs. Die Korrelationen werden jeweils zwischen der Rendite des betrachteten Marktparameters und der Rendite des Einflussfaktors aus der Vorperiode berechnet. Durch diesen ‚Timeshift‘ werden die kausalen Zusammenhänge modelliert. Die Einflüsse auf den Absatz ergeben sich aus den empirischen Einkommens- und Preiselastizitäten der entsprechenden Produkte.

Die anhand des beschriebenen Simulationsmodells gewonnenen Prognosen zukünftiger Marktentwicklungen müssen zur abschließenden Risikobewertung über ein sogenanntes Exposure-Mapping mathematisch in Beziehung zu den Erfolgszahlen des Unternehmens gesetzt werden. Eine solche Exposure-Map beschreibt die Reagibilität der operativen Cash-Flows der Unternehmung bezüglich einer Veränderung der betrachteten Marktparameter. Dieser Vorgang setzt die Kenntnis über die Zusammensetzung der produktbezogenen Kosten und über den operativen Gewinn voraus. Auf der Basis einer solchen Exposure-Map können nun für jede Simulation die prognostizierten Marktentwicklungen zu quartalsweisen Cash-Flows aggregiert werden.  Durch eine hinreichend hohe Simulationswiederholung ergibt sich so eine Verteilung möglicher Cash-Flows, welche über die Berechnung eines empirischen Quantils auf einem transparenten und nachvollziehbaren Weg zum Cash-Flow-at-Risk führt.

Aus dem generierten Cash-Flow-at-Risk lassen sich für bestimmte Szenarien Ableitungen über den Eigenkapitalbedarf, den Bedarf an Liquiditätsreserven sowie die Wahrscheinlichkeit der Fixkostendeckung treffen. Dadurch ist das Unternehmen frühzeitig in der Lage, die Notwendigkeit von Absicherungsmaßnahmen abzuschätzen und die entsprechenden Entscheidungen der Risikosteuerung frühzeitig einzuleiten.

Anwendungsbeispiel

Das betrachtete industrielle Beispielunternehmen stellt drei verschiedene Produkte für Endkonsumenten aus den Materialien Aluminium, Nickel, Kupfer und Zink her. Da die Rohstoffe in USD/Tonne gehandelt werden, ist das Unternehmen bei der Beschaffung neben dem Rohstoffpreisrisiko auch einem Wechselkursrisiko ausgesetzt. Die Produkte werden auf dem deutschen Markt in EUR angeboten und nicht exportiert. Der Umsatz des Unternehmens ergibt sich als Produkt des Absatzes und dem erzielten Preis, welche über die Preiselastizität im direkten Zusammenhang stehen. Zusätzlich wird der Absatz durch die Konjunktursituation im Inland beeinflusst. Es wird die Annahme getroffen, dass sich die erzielten Preise analog zum Verbraucherpreisindex entwickeln. Darüber hinaus wird davon ausgegangen, dass der Absatz zufälligen Schwankungen unterliegt. Diese Schwankungen werden durch die Konjunktur- und Einkommenssituation hervorgerufen, die im Modell durch das BIP repräsentiert wird. Die benötigten Rohstoffmengen für die Erzeugung der diversen Produkte sind aus Tabelle 1 zu entnehmen.

Tabelle 1: Rohstoffverbrauch in t je Produkt

Tabelle 1: Rohstoffverbrauch in t je Produkt

Ausgangspunkt ist das zu erwartende Standardszenario. In dieses Szenario fließen plausible Annahmen der Unternehmensführung über die zukünftige erwartete Entwicklung ein. Ergänzt wird dieses Szenario durch die Parametrisierung mit empirisch gemessenen Marktpreisschwankungen der übrigen Faktoren. Es wird unterstellt, dass im Mittel die erwarteten Absätze bei einer Standardabweichung der relativen Absatzveränderung von 5% erreicht werden. Jährlich fallen zur Finanzierung von Personal und sonstigen Fixkosten insgesamt 9 Mio. EUR an. Diese Parametrisierung dient als Standardszenario und wird verglichen mit einem sogenannten Stressszenario. Ein Stressszenario simuliert besondere Marktgegebenheiten und deren Auswirkungen auf das Unternehmen. Dabei werden hypothetische, jedoch plausible Parametrisierungen des Modells vorgenommen. Exemplarisch werden im Stressszenario ein rückläufiger Absatz von durchschnittlich 20% p.a. je Produkt und zusätzlich eine Rohstoffpreissteigerung von durchschnittlich 20% p.a. je Rohstoff betrachtet.

Die quartalsweise erhobenen Zeitreihen vom 1.Quartal 2004 – 4. Quartal 2010 der Faktoren Bruttoinlandsprodukt (BIP), Verbraucherpreisindex (VPI), Wechselkurs (EUR/USD), Zinssatz (12-Monats-EURIBOR), Aluminium-, Kupfer-, Nickel- und Zinkpreis bilden die Schätzgrundlage  für die Parametrisierung des Modells und der Simulation. Als Risikomaß wird der Cash-Flow-at-Risk zum Konfidenzniveau von 95% als aggregiertes Ergebnis nach 4 Quartalen verwendet. Je Szenario wurden jeweils vier aufeinanderfolgende Quartale bei einer Simulationszahl von jeweils 50.000 Wiederholungen simuliert. Tabelle 2 beschreibt die Parametrisierung.

Tabelle 2: Parametrisierung

Tabelle 2: Parametrisierung

Zwei relative Häufigkeitsverteilungen der überschüssigen Cash-Flows nach Abzug der zur Fixkostendeckung benötigten Cash-Flows in Höhe von 9 Mio. EUR resultieren aus der Simulation, welche in Abbildung 3 für das Standard- und Stressszenario visualisiert werden.

Abbildung 1: relative Häufigkeitsverteilung der Cash-Flows
Abbildung 1: relative Häufigkeitsverteilung der Cash-Flows


Das Ergebnis bestätigt die Erwartung, dass die Kombination aus steigenden Rohstoffpreisen und sinkendem Absatz zu einer Verschlechterung der Cash-Flow-Situation des Unternehmens führt und quantifiziert die konkreten Auswirkungen. Gegenüber dem Standardszenario sinkt der erwartete Cash-Flow-Überschuss im Stressszenario von 2.32 Mio. EUR auf 0.14 Mio. EUR, was einer Reduktion von 94% entspricht. Ein Rückgang des Absatzes von 20% p.a. sowie eine Rohstoffpreissteigerung von 20% p.a. verursachen aufgrund der übergreifenden Vernetzung der diversen Faktoren einen überproportionalen Rückgang des erwarteten Cash-Flow-Überschusses. Die Ergebnisse der zwei Szenarios sind in Tabelle 3 dargestellt.

Tabelle 3: Ergebnisse in Mio. EUR

Tabelle 3: Ergebnisse in Mio. EUR

Im Standardszenario erwirtschaftet das Unternehmen im Mittel 2.32 Mio. EUR. Mit einer Wahrscheinlichkeit von 95% beträgt der minimale Cash-Flow-Überschuss -0.1 Mio. EUR (Defizit). Im Stressszenario kann das Unternehmen nur noch einen Cash-Flow-Überschuss von 0.14 Mio. EUR erwarten. Mit einer Wahrscheinlichkeit von 95% fällt ein minimales Cash-Flow-Defizit von 2.13 Mio. EUR an. Um beim Eintreten eines solchen Stressfalls überleben zu können, müsste sich das Unternehmen Liquidität in Höhe von 2.13 Mio. EUR beschaffen. Cash-Flows dürfen dabei nicht mit dem operativen Ergebnis gleichgesetzt werden. Diese Kennzahlen sind für die Einschätzung der finanziellen Stärke des Unternehmens von hoher Bedeutung. Durch Simulationen lassen sich Erkenntnisse gewinnen, um Unternehmen auf bestimmte Marktsituationen vorzubereiten. Die Unternehmensführung ist sich somit den Auswirkungen von zukünftigen Marktschwankungen und Krisen bewusst. Liquiditätsreserven können rechtzeitig bereitgehalten oder Krisenpläne ausgearbeitet werden. Eine Analyse auf Quartalsebene zeigt zudem weitere Erkenntnisse auf. Beispielsweise kann das Unternehmen feststellen, wie lange es im Stressfall überlebensfähig wäre und ab welchem Quartal Cash-Flow-Defizite nicht mehr getragen werden könnten.

Fazit

Die Konstruktion eines individuellen Marktmodells zeigt die Auswirkungen verschiedener Szenarien auf das betrachtete Unternehmen. Das Modell integriert endogene und exogene Faktoren und bildet Zusammenhänge ab. Die Berücksichtigung empirisch gemessener Wirkungszusammenhänge in Verbindung mit von der Geschäftsleitung prognostizierten Erwartungen trägt zu einem zielführenden Modell im integrierten Risikomanagement bei. Das vorgeschlagene Simulationsmodell reduziert die hohen Verflechtungen und die Komplexität der Märkte auf ein transparentes, schlankes und gleichzeitig repräsentatives Steuerungswerkzeug. Die Methode liefert bedeutende Erkenntnisse für die Unternehmenssteuerung, indem sich das Unternehmen frühzeitig auf bestimmte Marktsituationen vorbereiten und somit gegen Risiken absichern kann.


Autor:

Andreas Vogel, Management Consulting, msgGillardon AG


[Bildquelle oben: iStockPhoto]

Kommentare zu diesem Beitrag

CorpRM /05.07.2011 07:42
Sehr gute Einführung in ein hochaktuelles Thema in der Industrie. Leider sind viele Unternehmen immer noch in einer klassischen KonTraG Risikosammelwelt unterwegs und haben den Mehrwert von quantitativen Methoden noch nicht verstanden.
Pleitegeier /05.07.2011 09:11
@CorpRM: Schließe mich an. Die Kunst ist aber nicht das mathematische Simulationsmodell oder die Software, sondern der Transport der Idee zum Top-Management und eine praxisgerechte "hands-on"-Lösung ;-)
Ralph /05.07.2011 23:04
@Pleitegeier: Leider können diese integrierte Steuerungsperspektive (beispielsweise Verknüpfung Planung + Risikomanagement) nur wenige in der Praxis umsetzen, da die Methoden über die Grundrechenarten hinausgehen und eine gewisse Methodenkompetenz erfordert, die a) bei vielen CFOs nicht vorhanden ist und b) auch nur bei wenigen Beratern vorhanden ist. Fazit: Die Wegstrecke ist noch relativ lang!
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