Risiken bewältigen, Entscheidungen treffen, Führungsrollen übernehmen, im Team kooperieren, Ziele setzen, durchhalten und vielleicht auch mal der Mut zur Umkehr sind Situationen, die sich im Geschäftsleben in gleicher Weise finden wie bei der Besteigung eines Achttausenders.
In Rekordzeit steigt Benedikt Böhm auf die höchsten Gipfel der Welt, um sie dann mit maximaler Geschwindigkeit auf Skiern wieder zu verlassen. Sein Ziel dabei ist ein möglichst kurzer Aufenthalt in der Todeszone, um so das Risiko zu reduzieren. Hierbei verzichtet er auf Rückzugsmöglichkeiten, künstlichen Sauerstoff, Gewicht sowie umfangreichen Proviant. Und trotzdem ist Benedikt Böhm – nach eigenen Aussagen – kein lebensmüder Risikosportler. Denn so eine Expedition erfordert absolute Präzession und Vorbereitung bis in die Haarspitze. Damit verbunden sind ein immenses Trainingspensum und Disziplin, aber auch Kreativität, neue Techniken und Mut neu zu denken und zu handeln.
Wir sprachen mit Benedikt Böhm über die Parallelen im Umgang mit Risiken im Extremsport und im Unternehmen. Denn in seinem zweiten Leben ist Benedikt Böhm Geschäftsführer von Dynafit, dem führenden Ausrüster für den Skitourenbereich. Ausgehend von dem innovativen TLT-Bindungssystem für Tourenski bietet Dynafit heute ein Vollsortiment für Skitouren und Trail Running an. Wie das Logo des Schneeleoparden signalisiert, setzt Dynafit auf Speed.
Lieber Bene, was ist für Dich Risiko?
Benedikt Böhm: Risiko bedeutet für mich, dass sich nicht alle Komponenten eines Unternehmens hundertprozentig kontrollieren und bestimmen lassen. Das Risiko schätzen wir nach dem Umfang des Kontrollverlusts ein.
Du weist immer wieder darauf hin, dass Speed auch im heutigen Wirtschaftsleben ein Überlebensfaktor ist. Wie kann Speed das Risiko eines Unternehmens mindern?
Benedikt Böhm: Geschwindigkeit spielt auch in der Wirtschaft eine wesentliche Rolle, um sich Wettbewerbsvorteile zu erarbeiten. Wir sind in einer ständigen Todeszone von Wettbewerbsdruck. Ein Jahr geschlafen, und es kann auch hier schon der Absturz folgen. Gerade für uns als sehr innovatives Unternehmen ist Geschwindigkeit der Schlüssel, um weiterhin an der Spitze zu bleiben. Geschwindigkeit impliziert aber nicht wildes und hektisches Draufloslaufen, sondern genau das Gegenteil ist der Fall. Analog zum Bergsteigen ist 80 Prozent des Erfolgs die Vorbereitung. Gerade wenn ich ins Risiko gehe und dazu auch noch schnell sein will, spielt die Planung die entscheidende Rolle.
Die mittlere Lebenserwartung von Unternehmen liegt laut unabhängiger Studien in der nördlichen Hemisphäre deutlich unter 20 Jahren. Der Grund: Man sitzt auf einem lahmen Gaul und hatte völlig vergessen, abzusteigen und das Pferd zu wechseln. Warum verharren Unternehmen zu lange in der Gefahrenzone? Was kann man hier von einem Ski-/Speed-Bergsteiger und einem erfolgreichen Geschäftsführer lernen?
Benedikt Böhm: Ich weiß nicht, ob man von mir lernen kann. Aber ich denke, wir haben als Bergsteiger und Unternehmer die Aufgabe immer wieder unsere Ängste zu überwinden. Das sehe ich als wesentliche Aufgabe in meinem Leben – übrigens hat dies bereits in meiner Kindheit angefangen, da ich von allen sechs Geschwistern das ängstlichste Kind war. Das heißt nicht, dass man sich jeder Angst stellen muss, aber jeder von uns hat Stärken und Bereiche, in denen er gut ist.
Ich beobachte, dass viele Menschen träge werden, sobald sie ein bestimmtes Niveau im Rahmen ihrer Stärken erreicht haben. Anstatt Gefahrenzone könnte man auch sagen, dass Unternehmen zu lange in der Komfortzone verharren. Als Unternehmer sind wir dazu verpflichtet, die Fähigkeit zu haben, uns selbst zu stimulieren und neu zu erfinden. Die Fähigkeit zu haben, von einem weißen Blatt Papier zu denken und uns immer wieder aus der Komfortzone zu pushen, um auch im Unternehmen kein Fett anzusetzen. Und in dem Moment, wo wir uns aus der Komfortzone bewegen, müssen wir eben auch Ängste überwinden, da wir mit Unbekannten (Risiken) konfrontiert werden. Dies eröffnet aber ganz neue Möglichkeiten. Ich habe nur ganz selten Menschen getroffen die rückblickend bereut hatten, die Komfortzone zu verlassen – egal ob sportlich oder beruflich.
Wie muss man sich das Risiko- und Chancenmanagement bei Dynafit beziehungsweise Salewa vorstellen? Inwieweit spielt neben Intuition auch ein analytisches und strukturiertes Vorgehen eine Rolle?
Benedikt Böhm: Intuition ist wichtig und ich habe den großen Vorteil mit Menschen zusammenarbeiten zu dürfen, die "ihre" Marke und Produkte nicht nur lieben, sondern diese auch jede freie Sekunde leidenschaftlich nutzen. Das heißt, hier sind Menschen, die sich ständig Gedanken machen, wie man den Sport noch schneller, leichter und besser machen kann. In der Anfangszeit haben wir tatsächlich einfach losgelegt. Die Investitionen waren geringer, und es gab selten einen Businessplan. Man hatte aus dem Sport heraus eine Idee und setzte diese einfach um. Ich stellte früh einen Freund ein, der mit mir einige Jahre in der Skitourennationalmannschaft war und sämtliches Material sehr gewitzt und gekonnt akribisch frisierte. Heute ist er Product Director und überblickt alle Produktbereiche. Allerdings sind die Tage der superschnellen Innovationen vorbei. Skitourengehen steckte vor 13 Jahren in den Kinderschuhen, und wir konnten revolutionäre Ideen aus dem Rennlauf relativ einfach für den kommerziellen Gebrauch umsetzen, und die Menschen waren geschockt, aber vor allem begeistert. So stellt Dynafit heute beispielsweise den leichtesten Skischuh der Welt mit nur 400 Gramm her. Heute ist es aufwendiger geworden, Gewicht zu sparen und so wird inzwischen sehr genau geplant und analysiert. Schnell sind wir aber trotzdem noch, wenn wir von der Idee überzeugt sind.
Risiko wird von vielen Unternehmen als Synonym für Fehler angesehen. Dabei wird übersehen, dass man aus Fehlern lernen kann. Kannst Du uns Beispiele aus Deinem beruflichen und sportlichen Leben nennen, wo Du darauf verzichtet hast, den Gipfel zu erreichen?
Benedikt Böhm: Wenn man neue Wege geht und die Komfortzone verlässt, muss man Fehler einkalkulieren. Alles andere wäre naiv. Ich habe sehr viele Fehler gemacht und mache immer noch viele. Es geht darum, ob man gewillt und fähig ist, sich kritisch mit sich und seinen Fehlern auseinanderzusetzen, um aus den Fehlern die richtigen Schlüsse zu ziehen. Meine ersten Höhenerfahrungen außerhalb der Alpen – in Peru – waren eine einzige Katastrophe. Wir machten alles falsch, was man falsch machen kann und litten fürchterlich. Ich schwor mir, so etwas nie wieder zu machen. Ein Jahr später stand ich im Rahmen meiner ersten Höhen-Speed-Begehung innerhalb von nur neun Stunden auf meinem ersten 7.000er. Noch ein Jahr später in 12,5 Stunden auf meinem ersten 8.000er. Ich hätte das niemals in den Jahren danach erfolgreich umsetzen können, wenn ich nicht die negativen Erfahrungen in Peru gemacht und daraus gelernt hätte. Und so gibt es auch geschäftlich viele Beispiele, wo wir kläglich gescheitert sind, um es später richtig zu machen oder uns aus dem Bereich zurückzuziehen.
Was glaubst Du, warum von Unternehmen die "zweite Chance" vergessen wird, nämlich das Lernen aus der Krise?
Benedikt Böhm: Ist das so? Ich denke Krisen gehören zu jeder anständigen Unternehmensgeschichte. Warum ist die Krise gut? Weil sie uns aus der Komfortzone zwingt. Jede Krise zwingt uns, den Status quo zu überprüfen und jeden Stein umzudrehen, um wieder aus der Krise zu kommen. Besser ist es selbstverständlich, wenn man die Krise kommen sieht und sich entsprechend vorbereiten kann. Wir hatten die letzten drei Jahre eine Krise: Den ersten Schnee erst spät nach Weihnachten, und diese kurzen Winter haben dann nur fünf Wochen gedauert. Letztlich haben uns auch die unberechenbaren Winter dazu getrieben, uns zu verändern und umzudenken. Nämlich Dynafit 365 Tage im Jahr zu etablieren, anstatt unser Geschäftsmodell nur von der weißen Pracht abhängig zu machen und zu jammern, dass kein Schnee da ist. Dies hat uns ganz neue Möglichkeiten eröffnet. Und das Dynafit-Alpine Running-Programm ist heute der Wachstumsmotor.
Welche Rolle spielen Angst und Überlebenswille als Teil eines Risikomanagements?
Benedikt Böhm: Angst ist wichtig, da ich ohne Angst als Bergsteiger tot und als Unternehmer schnell pleite wäre. Aber ich spreche von den Ängsten, die wir eigentlich überwinden sollten, um unserer Verantwortung uns selbst gegenüber gerecht zu werden. Ich denke beispielsweise daran, wie jemand einen Karrieresprung nicht wagt, obwohl er/sie es vielleicht besser könnte als jemand anders. Es geht um die Überwindung der Ängste, darum unsere Potenziale auszuschöpfen. Wenn ich auf einen 8.000er gehe, mache ich dies auch, weil ich weiß, dass ich es theoretisch und praktisch kann und ich mich meinen Potenzialen (für die ich hart gearbeitet habe) stellen will oder eben auch nicht. Risiko, Angst, Mut und Vertrauen stehen im permanenten Austausch, um letztlich Ängste zu überwinden oder eben nicht.
Bei Deinem Vortrag auf dem RiskNET Summit hast Du darauf hingewiesen, dass die "Kunst des Weglassens", Komplexitätsreduktion und Leichtigkeit wesentliche Erfolgsfaktoren sind. Was kannst Du uns hier als Unternehmen und als Sportler mit auf den Weg geben?
Benedikt Böhm: Schnell sein, heißt leicht und effizient sein. Und das ist die größte Herausforderung eines jeden Bergsteigers und Unternehmers. Das Weglassen ist viel schwieriger als draufpacken. Ich muss mich auch als Unternehmer täglich entscheiden, was ich mache – aber noch wichtiger, was ich nicht mache, um konzentrierter (und schneller) bei dem zu sein, was ich mache. Wir starten mit 12kg Gesamtgewicht zu unseren 8.000er Speed-Besteigungen. Eine unglaublich reduzierte Zahl und jedes Gramm ist optimiert.
Dynafit konnte seinen Umsatz über die Jahre kontinuierlich stark steigern. Mit 15 Niederlassungen weltweit wurde die Marke zum Marktführer für den Skitourensport ausgebaut. Als Du 2003 zu Dynafit gestoßen bist, war das Unternehmen insolvent. Was war dein Erfolgsrezept?
Benedikt Böhm: Ein sehr gutes Team und Vertrauen vom Südtiroler Inhaber Heiner Oberrauch in uns und das Zulassen einer positiven Fehlerkultur. Zudem die Komponenten, die sich durch das Interview gezogen haben. Rückblickend haben wir den Mut gehabt, den einst etwas verstaubten und konservativen Skitourensport völlig neu zu interpretieren und voranzugehen. Sexy, jung und schnell. Dazu kamen tolle Innovationen, polarisierende Designs und damit verbunden die Durchsetzung wesentlich höherer – ja fast unvorstellbarer Preispunkte. Auf einmal wurde Skitourengehen attraktiv und cool. Wir haben eine Kernkompetenz nach der anderen ausgebaut. Erst Skitourenbindungen, dann Skier, dann Skitourenschuhe und dann Bekleidung und Zubehör, wie beispielsweise Rucksäcke. Immer mit dem Anspruch, Anwenderprobleme zu lösen, beziehungsweise einen deutlichen Mehrwert zu schaffen, um schneller und leichter zu werden.
Wie sollte man sich in Ausnahme- und Krisensituationen – als Extremsportler beziehungsweise als Unternehmen/Unternehmer – verhalten?
Benedikt Böhm: Ich weiß nicht, ob ich da Patentrezepte geben kann, aber ich denke oft an Ausnahmesituationen zurück, die ich erlebt habe. Es hilft nicht, in Panik oder Hektik zu verfallen. Ein kühler Kopf ist in solchen Situationen für die Betroffenen selbst der beste Weg. Das ist allerdings leichter gesagt als getan, aber man kann auch für Krisensituationen Mechanismen und Automatismen entwickeln, um diese besser zu überstehen.
In welcher Form hat sich Dein Risikoappetit geändert, als Du im Jahr 2014 zwei wichtige Bergpartner und Freunde, Sebastian Haag und Andrea Zambaldi, während eines Lawinenunglücks verloren hast?
Benedikt Böhm: Appetit auf Risiko hatte ich bereits nach meiner ersten Expedition im Jahr 2004 nach Peru nicht mehr. Ich habe nie den Adrenalinkick oder die Todesangst gesucht. Mir ging es immer um sportliche Herausforderungen in der wilden Natur am Berg, und da ist ein mehr oder weniger großes Risiko mit dabei. Dennoch hat mich dieses Unglück verändert, da auch ein Teil in mir gestorben ist. Andrea war ein guter Kollege und Basti ein langjähriger Freund, Inspirationsquelle, Vertrauter, Seil- und Sparringspartner und vieles mehr. Ohne ihn wäre ich niemals 2006 auf meinem ersten 8.000er gestanden, und die gemeinsamen Erlebnisse sind einzigartig. Seit 2014 hat es mich an keinen 8.000er mehr gezogen, und ich kann noch nicht sagen ob das wieder kommt. Die Begeisterung für den Sport und die Berge ist zum Glück auch nach dem Unfall ungebrochen geblieben.
Mit steigendem Alter und Familiengründung sinkt die unreflektierte Risikobereitschaft rapide. Wie lässt sich das Leben eines Familienvaters und Ehemanns mit dem eines "Extrem"-Sportlers vereinbaren?
Benedikt Böhm: Ich denke es ist ähnlich wie Partner von einem Polizisten, Soldaten, Stuntman oder Rennfahrer zu sein. Wie gesagt, gibt es ein mehr oder weniger großes Risiko. Bei dem Großteil meiner Touren bewege ich mich ohne jegliches Risiko. Ansonsten geht es hier auch um Vertrauen. Meine Frau vertraut mir, dass ich weiß, was ich mache und was ich nicht mache, da ich mir des Risikos, aber auch meiner Verantwortung der Familie gegenüber bewusst bin. Ich bin davon überzeugt, dass sie niemals Angst um mich hatte. Und das ist ein wesentlicher Faktor, warum es funktioniert.
Die Fragen stellte Frank Romeike, geschäftsführender Gesellschafter RiskNET, verantwortlicher Chefredakteur RISIKO MANAGER sowie Mitglied des Vorstands der "Association for Risk Management and Regulation".
Benedikt Böhm ist internationaler Geschäftsführer von Dynafit sowie Extremskibergsteiger und -skifahrer. Im Jahr 2006 gelang ihm der Geschwindigkeitsrekord am Gasherbrum II mit vollständiger Skiabfahrt. Fast sein ganzes Leben lang dreht sich bei Benedikt Böhm, Jahrgang 1977, alles um Geschwindigkeit, begann er seine Winter-Leistungssportkarriere doch bereits im Alter von elf Jahren. Der Münchner wurde als fünftes von sechs Kindern geboren. Nach seinem Wehrdienst bei den Gebirgsjägern in Mittenwald studierte er International Management an der Oxford Brookes University (UK) und Massachusetts (USA). In den Jahren 2003 bis 2006 war Benedikt Böhm Teil der Deutschen Nationalmannschaft Skibergsteigen. In der Disziplin geht es darum, Berge in Rekordzeit mit Skiern zu besteigen und wieder abzufahren. Seit seinem Eintritt bei Dynafit im Jahr 2003 hat sich das Unternehmen zum Weltmarktführer im Bereich Skitourenausrüstungen mit 15 weltweiten Niederlassungen mit rund 300 Mitarbeitern entwickelt.