Marktkommentar 

Nach dem Jahrhundertsturm


Marktkommentar: Nach dem Jahrhundertsturm Kolumne

Stephen Kings "Der Sturm des Jahrhunderts" aus dem Jahr 1999 ist voller schrecklicher Ereignisse. Ähnlich der Horrortrilogie war der Jahrhundertsturm, der über die ersten drei Quartale des Jahres 2022 über die Kapitalmärkte hinwegfegte, gerade für gemischte Anlagestrategien unter Zusammenbruch üblicher Korrelationen, die eigentlich für Wetterfestigkeit sorgen sollen, folgenreich. 

Im 4. Quartal waren in vielen Anlageklassen erste Anzeichen einer Aufhellung zu erkennen. Der Auftakt in das Anlagejahr 2023 kann als geradezu fulminant beschrieben werden. Der Sturm scheint damit zunächst abgezogen, die Wolken lichten sich, Zeit zum Durchatmen. 

Abb. 01: Gesamterträge ausgewählter Segmente 2022 in EURAbb. 01: Gesamterträge ausgewählter Segmente 2022 in EUR

Die Wunden des Jahres 2022 werden indes noch länger in Erinnerung bleiben. Je nach genauer Zusammensetzung mussten Anleger eines Mischportfolios aus Aktien und Renten die schwersten Verluste seit Jahrzehnten hinnehmen. Rentenbetontere Mischstrategien verbuchten die schwächste Entwicklung seit den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Die Kursverluste zehrten den Ertrag von mehreren Jahren auf. In Multi-Asset Portfolien erzielte Ergebnisse waren Extremereignisse, welche vielfach selbst hypothetische Szenarien verschiedener Stresstestsimulationen in den Schatten stellten. Die Wirklichkeit übertraf in ihrem Ausmaß jede Fiktion. 

Der Jahreswechsel 2021/22 markierte fast auf den Punkt den abrupten Stimmungswandel von Bestbedingungen an den Märkten und deren Überschwang und Sorglosigkeit hin zu nicht gänzlich unerwartetem Gegenwind. Der Wetterumschwung lag vor einem Jahr durchaus in der Luft. Das Ausmaß der folgenden Unbilden haben aber auch wir nicht annähernd antizipiert.

Das Jahr 2022 markiert den Rückbau zuvor angestauter Übertreibungen. Als Jahr des Übergangs könnte 2023 einerseits spürbar negative Konjunkturüberraschungen mit sich bringen, andererseits aber freundlichere Marktbedingungen, die durch die Gewitterwolken hindurchblicken und verbesserte Aussichten zum Jahresende und in Richtung 2024 vorwegnehmen.

Viele Wirtschaftsindikatoren deuten auf eine globale Abkühlung bzw. Rezession. Besonders die stark invertierten Zinskurven erwiesen sich in der Vergangenheit stets als verlässliches Signal einer bevorstehenden Rezession. Der Tiefpunkt des Abschwungs wird mit einiger Wahrscheinlichkeit bereits 2023 durchschritten sein. Die kräftigen Erholungen bei ZEW und ifo-Index markieren nach jeweils dreimaligem Anstieg eine Trendwende für die Aussichten nach vorn. Die Aufhellung der Daten ist auch Ausdruck der Erleichterung darüber, dass manche – 2022 noch sehr plausible – Schreckensszenarien zunächst abgewendet scheinen. Gasmangellage, Insolvenzwellen, crashartige Verwerfungen oder nochmals weiter beschleunigte Inflationsraten sind nicht eingetreten. Gerade die europäische Wirtschaft zeigt sich aktuell resilienter, als Viele ihr in Anbetracht der sich aufbauenden Risiken zugebilligt hatten.

Ungelöstes Energiedilemma, Deglobalisierung, Exodus der Produktion – verharrt das Sturmtief über Europa? 

Die teils apokalyptischen Befürchtungen für speziell die Entwicklung in Europa, begleitet von scharfen Abverkäufen europäischer Aktien im vergangenen Jahr, speisten sich besonders aus der Erwartung, dass es nicht gelingen würde, die Verwundbarkeiten aus der Energiekrise in den Griff zu bekommen. Tatsächlich haben bislang milde Wintertemperaturen, die Reaktivierung und Verlängerung traditioneller Energieträger und verschiedene staatliche Eingriffe dazu geführt, dass zumindest der Winter 2022/23 überbrückt werden kann. Die gerade in Deutschland sehr kostspieligen und verschuldungstreibenden Preisbremsen können aber nicht zur Dauereinrichtung werden und auch nicht darüber hinwegtäuschen, dass solche Pflaster auf den Symptomen die Grunderkrankung nicht heilen. Für einen irgendwann nötigen Ausstieg aus der Gaspreisbremse gibt es bislang keinerlei realistische Planung oder konkrete Exit-Strategie. Die Probleme der teils hausgemachten, teils durch den Ukrainekrieg verstärkten Ungleichgewichte an den Energiemärkten bestehen im Grundsatz allesamt fort. Als primäres Substitut für russisches Pipelinegas ruhen die Hoffnungen für grundlastfähiges Energieangebot derzeit auf importiertem Flüssiggas (LNG). Übersehen wird dabei, dass weder Export- noch Importkapazitäten für LNG soweit ausgebaut sind, als dass die vor 2022 benötigten Mengen russischen Erdgases damit kompensiert werden könnten. 

Bestenfalls ab 2026, möglicherweise aber auch erst deutlich später ist damit zu rechnen, dass genügend LNG-Kapazitäten zur Versorgung von Industrie und Privathaushalten bereitstehen. Der Gaspreisdeckel birgt – wie grundsätzlich alle Preisobergrenzen – die Gefahr von unzureichendem Angebot und Rationierung. Diese geradezu klassische Reaktionsfunktion kennt keinen Mangel an historischen Beispielen. Auch im zurückliegenden Jahr war sichtbare Evidenz verfehlter Preisdeckel-Mechanismen zu beobachten, wie bei der Rationierung von Kartoffeln und anderen Lebensmitteln in ungarischen Supermärkten, den Arzneimittelknappheiten in Deutschland, welche den Bundesärztekammerchef zur Empfehlung nachbarschaftlicher Flohmärkte für abgelaufene Medikamente veranlassten, oder der anhaltend chronischen Wohnungsknappheit in Berlin als Funktion der Mietpreisbremse. Auch im Fall von Erdgas verkaufen Produzenten in Zukunft dahin, wo Marktpreise gezahlt werden. Die Lautlosstellung des Knappheitssignals beseitigt weder die Knappheit an sich noch incentiviert sie die konstruktive Suche nach tragfähigen Lösungen und Alternativen. 

Die benötigten Lösungen liegen bei rationaler Betrachtung auf der Hand. So hat das Münchener ifo Institut jüngst Empfehlungen formuliert, mit welchen Maßnahmen sich Standort- und Wettbewerbsbedingungen für Deutschland und Europa mit Blick auf die Energieversorgung festigen lassen. Finanzminister Christian Linder definierte im Dezember korrekt die notwendige Vorbedingung für einen tragfähigeren Kurs im Energiebereich: "Wir brauchen mehr Freude am Erfinden und Einsteigen als am Verbieten und Aussteigen".

Die unverändert ungelöste Frage, wie Verfügbarkeit und Bezahlbarkeit von Energie nicht nur kurz- sondern auch mittel- und langfristig und auch ohne neue Schuldenanhäufung gewährleistet sein können, bleibt der zentrale Unsicherheitsaspekt über europäischen Vermögenswerten, der auch weiterhin deutliche Bewertungsabschläge rechtfertigt. Die Unsicherheiten der Energieversorgung lasten zusätzlich auf den ohnehin schwachen Wachstumsaussichten des Kontinents. Der Eispanzer über dem europäischen Potentialwachstum verfestigt sich weiter, je stärker sich relative Wettbewerbsvorteile aus Energiepreisen und Energiemix weiter Richtung Asien und Nordamerika verschieben. Der zeitlose Ausspruch von Boris Johnson, wonach die Antarktis der einzige Ort auf der Welt mit noch geringerem Wirtschaftswachstum als Kontinentaleuropa sei, kommt in Erinnerung. So sollte das aktuelle Tauwetter an den Märkten nicht als Indiz für den Übergang in eine europäische Schönwetterperiode verstanden, nicht die – kurzfristig durchaus wirksamen – politischen Pflaster verfrüht als Lösungen der Energiekrise fehlinterpretiert werden. 

Einen bemerkenswerten Rückschlag für Exporthoffnungen der europäischen Industrie stellt die stark protektionistische Gesetzgebung des sog. "Inflation Reduction Act" in den USA dar, der nordamerikanische Produktion (nicht nur im Bereich Elektromobilität und erneuerbare Energien) mit weitreichenden Subventionen gegenüber dem globalen Wettbewerb abschirmt. Die USA selbst gewinnen beständig an Standortattraktivität, je länger die Energiesituation in Europa ungelöst bleibt. Sie locken Unternehmen zusätzlich zu verfügbarer und bezahlbarer Energie mit weniger Regulierung und Bürokratie. Die Vereinigten Staaten haben ihre Eigeninteressen auf unterschiedlichen Ebenen derzeit scheinbar stärker als Leitlinie des Handelns im Blick als viele europäische Staaten. 

Auch die politischen Risiken in China dämpfen die Aussichten, gerade für die deutsche Exportindustrie. Ergänzend zum schwelenden Taiwankonflikt bedroht der sukzessive Rückbau marktwirtschaftlicher Freiheiten in China die Aussichten auf eine Rückkehr zu den Handelsbeziehungen der Vor-Corona-Zeit. Der während des Volkskongresses 2022 personell und programmatisch eindeutig zementierte Kurs der Hardliner baut Risiken auf, die für viele Unternehmen und Anleger eine Neubewertung ihrer China-Exponierung als notwendig erscheinen lassen. Eine anhaltende Eiszeit der globalen Handelsbeziehungen bleibt ein realistisches Szenario. 

Ermutigende Nachrichten für eine größere Autonomie Europas im Ausbau regenerativer Energiequellen kommen bezeichnenderweise aus Regionen oberhalb des Polarkreises: Der spektakuläre Fund von Vorkommen seltener Erden signifikanten Ausmaßes nahe der nordschwedischen Stadt Kiruna nährt Hoffnungen auf eine Reduzierung der Abhängigkeit von chinesischen Rohstoffimporten und auf die beschleunigte Verfügbarkeit essenzieller Inputmaterialien für die Erhöhung installierter Leistung und den Netzausbau.

Der in Europa erreichbare Selbstversorgungsgrad mit Rohstoffen und Energieträgern ist auch für die mittelfristigen Inflationsaussichten von zentraler Bedeutung. Der Preisdruck aus jahrelangen Unterinvestitionen bei Rohstoffexploration und folgender Angebotsknappheit, kombiniert mit absehbarem Nachfrageüberhang in den kommenden Jahren spricht für eine strukturelle Verteuerung, gerade bei elektrifizierungsrelevanten Metallen wie Nickel oder Kupfer.

Friert mit der Konjunktur die Inflation ein?

Das künftig vorherrschende Investitionsumfeld bleibt entscheidend bestimmt vom Inflationsausblick. Aktuell verbessert sich die Optik der Inflationsdynamik. Der Hochpunkt der Teuerungsraten scheint in den USA und auch in Europa überwunden. Die Preise steigen weiter an, aber nicht mehr so rasant wie über weiter Strecken des Jahres 2022.  

Abb.02: Inflation USA & Eurozone (jährliche Veränderung in %)Abb. 02: Inflation USA & Eurozone (jährliche Veränderung in %)

Für eine weitere Abschwächung über das aktuelle Jahr hinweg spricht eine Reihe von Gründen: Allein die Berechnungslogik der Basiseffekte zwingt die Preissteigerungsraten nach unten. Der nachlassende Teuerungsdruck ist aber nicht nur technisch, sondern auch ökonomisch unterfüttert. Noch immer aus Corona-Lockdowns nachwirkende Effekte wie Preissteigerungen bei Frachtraten, Dünger, Holz, Gebrauchtwagen und verschiedenen Vorprodukten laufen nun endgültig aus. Die bevorstehende Rezession wirkt per Definition deflatorisch, zusammengesetzt aus negativen Vermögenspreiseffekten, schwächeren Arbeitsmärkten und dem allgemein zu erwartenden Nachfragerückgang. Im Dezember betrug die Jahresveränderungsrate der Inflation in den USA noch 6,5%, untertroffen wird dieser Wert von der äußerst informativen Statistik der "Truflation", die mit einem gegenüber der Verbraucherpreisinflation breiterem Warenkorb versucht, repräsentativere Ergebnisse für verbrauchshäufige Konsumgüter zu messen. Ihr Wert lag im Januar nur noch bei 5,4%, auch dieses Teuerungsmaß hat sich in den letzten Monaten deutlich zurückgebildet. 

Für die USA ist zu berücksichtigen, dass ein vergleichsweise hoher Anteil im CPI träge reagiert: Mit ca. einem Drittel Gewichtung liegt die umfragebasierte Komponente "Owners‘ Equivalent Rent" als Maßstab für die Teuerung der Immobilienpreise zeitlich hinter den Marktpreisen zurück. Die bereits einsetzenden Preisrückgänge bei Wohnimmobilien werden so erst mit erheblichem Zeitverzug in den Inflationsdaten formalen Eingang finden.

In Europa liegen die Inflationsraten noch auf höherem Niveau, kommen aber ebenfalls spürbar zurück. Die staatlichen Preisbremsen bei Strom und Gas verbessern die Optik der Teuerung. Wenngleich die 2022 wahrhaft galoppierende Inflation nun auch in vorlaufenden Preisdaten wie Import- und Erzeugerpreisen langsam abflacht, gilt es in Erinnerung zu rufen, dass der im Vorjahr erlittene Kaufkraftverlust dauerhafter Natur und als solcher "eingelockt" ist. Die Anhebung des breiten Güterpreisniveaus wirkt ökonomisch fort, auch wenn die Veränderungsraten der Inflation sich wieder verringern. Gerade in Europa erfolgte kein hinreichender Ausgleich durch Lohnanpassungen, sodass der Entzug von Kaufkraft die Nachfrage- und damit die Wirtschaftsaussichten schwächt. Auch die üblichen im Hochinflations- und Überraschungsinflationsumfeld zu Tage tretenden Verteilungseffekte sind irreversibel realisiert: Die Umverteilung von "unten nach oben", die Umverteilung vom Sparer, Gläubiger, Steuerzahler, vom Lohn- und Rentenempfänger hin zum Schuldner und hin zum Staat. 

Zunehmend wahrnehmbar sind zum Jahresbeginn Stimmen, die nun bereits den Sieg über die Inflation ausrufen. Mit diesen verfrühten Erfolgsmeldungen verbinden sich meist Hoffnungen auf ein nachlassendes Bemühen der Notenbanken, die Finanzierungsbedingungen weiter zu straffen. Die EZB selbst rechnet für 2023 noch mit einer durchschnittlichen Inflation von 6,3%. Dennoch greifen vermehrt Spekulationen um sich, die Notenbank könnte schon im März das Tempo der Zinsanhebungen verringern. Solche Überlegungen und Begehrlichkeiten sind als durchaus riskant zu sehen. Denn der am Boden liegende, vermeintlich besiegte Inflationsdrache könnte noch atmen. Auch in den 1970er Jahren wähnte man sich zu früh in Sicherheit, auch damals wurde dem Teuerungsdrachen der Kopf nicht abgeschlagen. Vielmehr stellten sich aufeinanderfolgende Inflationswellen ein, deren Spitzen die Preissteigerungsraten der ersten Welle gar noch übertrafen. Auch wenn der Höhepunkt der Inflation heute überschritten scheint, verbleiben zahlreiche Aufwärtsrisiken. Zu ihnen zählen neben westlichen Fiskalmaßnahmen und der strukturellen Verteuerung von Rohstoffen auch die Rückkehr Chinas als globaler Nachfragefaktor im Kontext der Aufgabe der Zero-Covid Politik und folgenden Öffnung, global zunehmender Protektionismus und die preistreibende Wirkung der "Onshoring"- und Reindustrialisierungsbemühungen. Latent auf der Oberseite könnten kurzfristig auch aus den USA generierte Preisrisiken für die Entwicklung des Ölpreises liegen: Konjunkturprogramm und die Notwendigkeit, die zu Wahlkampfzwecken angezapfte Strategische Öl-Reserve wiederaufzufüllen stellen zusätzliche Nachfrage dar.  

Der aktuelle geldpolitische Kurs ist der schnellste Straffungszyklus seit den frühen 1980er Jahren. Dennoch liegen die Zinsen noch immer weit unterhalb der Inflationsraten. Nach Taylor-Regel wäre ein noch deutlich höheres Zinsniveau angemessen, ein erheblich früheres Gegensteuern erforderlich gewesen. Die Kapitalmärkte haben sich sehr lange den "Transitory"-Bären der Notenbanken aufbinden lassen, ohne zu opponieren. Erst im Verlauf des Jahres 2022 wurde der Erklärungsdruck der Zentralbanken zu groß, um noch weiter an Null- und Negativzinsen festhalten zu können. Die bislang erfolgten Zinsanhebungen waren gewissermaßen leicht und hatten kaum negative Rückkoppelungen: Die Arbeitsmärkte sind noch robust, die Straffung der geldpolitischen Bedingungen führte (mit Ausnahme des LDI-Desasters in Großbritannien) noch zu keinen "Unfällen", die realwirtschaftliche Anpassung an höhere Zinsen verläuft bislang weitgehend geräuschlos, kurz, die Kosten der Straffung sind handhabbar. Einzige Opfer sind bislang die geplatzten Spekulationsblasen.  

Nun aber, wenn die geldpolitische Straffung mit Zeitverzögerung einen höheren Tribut fordert, wenn die Kosten sichtbarer sind, werden Kosten-Nutzen Diskussionen weiterer Zinsanhebungen intensiver geführt werden. Der Druck auf die Notenbanken wird sich erhöhen, was eine fortgesetzte, konsequente Inflationsbekämpfung erschwert. Wenn im Jahresverlauf die konjunkturellen Schmerzen wahrnehmbar werden, kommt es erstmals im Zyklus zu einer echten Bewährungsprobe für die Notenbanken, ob sie die Kraft, die Widerstandsfähigkeit aufbringen, Kurs zu halten und Lockerungsbegehrlichkeiten eine Absage zu erteilen. Der Ausgang dieses Charaktertests ist ungewiss. 

Dabei steht viel auf dem Spiel. Über das fortgesetzte Adressieren des noch (vor allem aus dem 2020-21 geschaffenen Geldmengenüberhang) verbliebenen Preissteigerungsdrucks hinaus, muss es der Geldpolitik vor allem gelingen zu vermeiden, dass höhere Inflationserwartungen Tritt fassen können. Greift einmal eine "Inflationsmentalität" um sich und auf die Psyche einer Gesellschaft zu, ist die Rückverankerung der monetären Glaubwürdigkeit meist schwierig bis unmöglich. Eine Rückführung stark erhöhter Inflationsraten gelang in der Geschichte bei erhöhter Geldmengenexpansion und nach erfolgtem Vertrauensverlust in die Preisstabilität nur selten. So wird 2023 zur Stunde der Wahrheit, in der sich die Geldpolitik gegen höhere Widerstände um eine glaubhafte Rückkehr zur Geldwertstabilität bemühen und bewähren muss. 

Stabile Preise sind elementar für das Gelingen der Wirtschaftsrechnung und Voraussetzung für das Funktionieren einer Marktwirtschaft. Wenn Inflationserwartungen in der Breite erst einmal entankern, steigt das Risiko des Vertrauensverlusts. Der Währungsraum, in dem sich die Inflation in der Folge hartnäckig verfestigt, fällt, wie der Ökonom Prof. Gunther Schnabl es treffend bezeichnet, der "Argentinisierung" zum Opfer. Diese dauerhafte Beschädigung des Vertrauens der Menschen in die Fähigkeit der Geldpolitik, kaufkraftstabiles Geld auszugeben, ist in Argentinien, aber auch vielen anderen chronisch hoch- und hyperinflationären Ländern exemplarisch zu beobachten. Argentinien zählte einst zu den wohlhabendsten Staaten der Erde, doch monetäre Staatsfinanzierung und resultierende Hochinflation zerrütteten Preisstabilität und mit ihr schleichend ganze Wirtschaftsstrukturen. Armut, Mangelwirtschaft und dysfunktionale Institutionen wurden zum Dauerzustand: Die aktuell zu verzeichnenden Inflationsraten von nahe 100% sind in Argentinien nicht Ausnahme, sondern Regel. Bereits 1978 und 1986, als die "Gauchos" wie 2022 die Fußballweltmeisterschaft für sich entscheiden und den Titel nach Buenos Aires holen konnten, lag die Inflation bei jeweils über 100%. Zwischenzeitlich wurde die genaue Messung gar ausgesetzt, mal aus politischen Gründen, mal aus schier an Grenzen stoßenden Möglichkeiten der Statistikbehörden.

Die Schäden, wenn sich ein "Inflations-Mindset" erst einmal festgesetzt hat, reichen weit über rein wirtschaftliche Effekte, wie chronische Wachstumsschwäche, hinaus. Die Folgewirkungen beschädigen auch grundlegend die sozioökonomische (z.B. ungleiche Einkommens- und Vermögensverteilung, Vermögenskonzentration bei den "1%" durch den Cantillon-Effekt, Korruptionsanfälligkeit, usw.) und soziale Architektur einer Gesellschaft. Die Bereitschaft zur Tätigung und Finanzierung langfristiger Investitionen nimmt ab. Die Planung wird erschwert. Die Kurzfrist- und Konsumorientierung der Menschen steigt. Die Inflation befeuert und verstärkt die sofortige Bedürfnisbefriedigung. Generationenübergreifende Interessen finden kaum noch Berücksichtigung. Die Sparneigung nimmt ab, mit ihr verfällt die Bereitschaft zu Instandhaltung. Die Substanz des Kapitalstocks wird schleichend aufgezehrt. Die Inflationsmentalität stellt traditionelle Werte in Frage, vergiftet mit der Zeit Moral, Tugend und soziale Kohäsion. 

"Alle Werte waren verändert und nicht nur im Materiellen, die Verordnungen des Staates wurden verlacht, keine Sitte, keine Moral respektiert."

Stefan Zweig, in "Die Welt von Gestern"

Eine solche "Argentinisierung" Europas (nur ohne Messi), deren Inflation 99% der Menschen schweren Schaden zufügt, sie um die Früchte ihrer Arbeit und Ersparnisse bringt und zugleich die Basis für eine funktionierende, arbeitsteilige, freie Wirtschaft zerrüttet, kann nicht leichtfertig in Kauf genommen werden. So ist zu hoffen, dass sich die Geldpolitik ihrer hohen Verantwortung bewusst ist. Diese Verantwortung gilt es, genau 100 Jahre nach der tragischen Weimarer Hyperinflation im Jahre 1923 besonders in Erinnerung zu rufen. Der Verfall des Innen- und Außenwerts der Reichsmark beschleunigte sich 1923 in einer nicht mehr korrigierbaren Weise. Das Briefporto für Inlandspost lag im Januar 1923 bereits bei 50 Mark, im November 1923 bei 1 Mrd. Mark. Der Wechselkurs zum US-Dollar erreichte in der Spitze 4,2 Billionen Reichsmark, eine Feinunze Gold kostete bis zu 86 Billionen Mark. Die Rechnung für die Reparatur eines Abflusses in einem Einfamilienhaus wies den gleichen Betrag aus, wie der Kaufpreis der Immobilie selbst wenige Wochen zuvor. In der zweiten Jahreshälfte 1923 verlor die Mark vollständig ihre Tauschmittelfunktion, Unternehmen und Arbeiter akzeptierten die Währung nicht mehr als Gegenleistung für Güter und Arbeitskraft. Die Menschen gingen zum Naturaltausch über. Beendet werden konnte die Hyperinflation erst mit dem Währungsschnitt im November 1923 und der Einführung der Rentenmark. Die gesellschaftlichen und politischen Folgen der traumatischen Inflationserfahrung von 1923 sind bekannt. 

"Nichts hat das deutsche Volk – dies muss immer wieder ins Gedächtnis gerufen werden – so erbittert, so hasswütig, so hitlerreif gemacht wie die Inflation."

Stefan Zweig, in "Die Welt von Gestern"

Nach EZB-Umfrage vom Dezember 2022 erwarten die Bürger im Mittel über die kommenden drei Jahre eine Verbraucherpreisinflation von 4,9%. Die Inflation in der Eurozone liegt zu Beginn des Jahres 2023 mit 10,1% höher als etwa in Mexiko (7,8%), Südafrika (7,4%) oder Brasilien (5,9%). Schon 2022 mehrten sich Klagen aus Italien und Frankreich über die "restriktive" EZB-Politik. Es braucht wenig Fantasie, um eine Vorstellung zu entwickeln, wie der Druck auf die EZB 2023 zunehmen dürfte, wenn die Auswirkungen der Rezession sichtbar werden. Die Staaten werden sehr wahrscheinlich weiter versucht sein, alle Negativsymptome der Abschwächung mit schuldenfinanzierten Fiskal- und Hilfspakten zu adressieren. Die Finanzierung der Neuverschuldung wird mit spürbar höheren Zinsen am Kapitalmarkt aber teurer. Den Begehrlichkeiten der Staaten zu begegnen, nicht den Rückfall in die Versuchung neuerlicher, verfrühter Lockerungen zu riskieren, nicht in den Verdacht zu geraten, bloßer Erfüllungsgehilfe staatlicher Interessen zu sein, diese Bewährungsprobe muss die EZB 2023 bestehen, um zu gewährleisten, dass in der Eurozone keine Inflationspsychologie zu wuchern beginnen kann. 

Die Markterwartung für den Zinspfad der EZB ist im Januar recht klar umrissen: Die Marktteilnehmer gehen davon aus, dass der Einlagenzins von 2,00% bis auf 3,25% angehoben wird. Danach wird der Zins eine Zeitlang konstant auf diesem Niveau gesehen. Der festere EUR-Wechselkurs leistet der EZB etwas Schützenhilfe, die Währungsaufwertung bremst die Beiträge der Importpreise auf die Inflation etwas aus. Ob der prognostizierte Zinsanhebungskurs ausreicht, die Inflation wieder unter Kontrolle zu bringen, hängt von einer Vielzahl von Variablen und eben auch von der Entschlossenheit der EZB selbst ab, die Erwartungen nicht entgleiten zu lassen.

In den USA gehen die Märkte von weiteren Leitzinsanhebungen bis auf 5% oder 5,25% aus. Für die zweite Jahreshälfte 2023 werden indes bereits Zinssenkungen erwartet! Ausgehend vom Zinshoch preisen die Märkte bis Jahresende einen Zinsrückgang um 0,50% ein. Diese Erwartungen sind vollständig inkonsistent mit dem von der Fed skizzierten Fahrplan. Sprecher der Notenbank haben mehrfach betont, dass 2023 keine Zinssenkungen in Aussicht stehen. Ihr Vorsitzender Jay Powell gab bereits im Sommer 2022 die instruktive, aber weithin ignorierte Weisung aus, dass ein Hauptziel der mittelfristigen Zinspolitik sei, die vollständige Zinskurve der US-Staatsanleihen oberhalb der PCE-Kerninflationsrate zu installieren.

Abb. 03: Aktuelle Inflationsrate USA vs. Zinskurve Abb. 03: Aktuelle Inflationsrate USA vs. Zinskurve 

Gegenüber dieser Zielformulierung klafft bei aktuellen Marktpreisen und mehr noch bei Markterwartungen eine klar erkennbare Lücke. Es stellt sich die Frage: Wer hat Recht? Die Zielbeschreibung der Fed oder der Markt? Dass die Märkte die Glaubwürdigkeit der Absichtsbekundungen der Notenbank zunehmend in Zweifel ziehen, ist nach den schwerwiegenden Vorhersage- und Policy-Fehlern der vergangenen Jahre durchaus begründet und nachvollziehbar. Naheliegend ist aber ebenfalls die Erkenntnis, dass die Inflationsbekämpfungsbemühungen der Fed, so hehre Absichten sie verfolgen mag, schlicht an die Grenzen der fiskalischen Realität stoßen. Vielfach wird derzeit der Vergleich von Jay Powell mit Paul Volcker bemüht, der mit seinem unbeirrten, nahezu heroischen Zinsanhebungskurs Anfang der 1980er Jahre schlussendlich den Inflationsdrachen erfolgreich besiegt und ihn für in der Folge mehrere Jahrzehnte außer Gefecht gesetzt hatte. Nötig waren dafür aber Zinsanhebungen bis auf 20% und deutlich positive Realzinsen, die über einen längeren Zeitraum erstickend auf jegliche Inflationsmentalität wirken konnten. 

Ein vergleichbares Vorgehen scheint heute wenig realistisch. Es mangelt am damals vorhanden politischen Willen, einen solchen Kurs ohne Rücksicht auf Verluste mitzutragen. Vor allem aber erlaubte die öffentliche Verschuldung der 1970er und 1980er Jahre eine ganz andere Handlungsfreiheit zu höheren Zinsen als heute. Betrug die Staatsverschuldung in den USA zu Volckers Amtszeit um die 30%, erreicht sie heute über 125% der Wirtschaftsleistung. Höhere Zinsen werden unmittelbar budgetwirksam. Die hohen Schuldenstände in den USA, wie auch in Europa, verunmöglichen Zinssätze, wie sie in der Volcker-Ära Anwendung fanden. Mehr noch, besteht heute ein politisches Interesse an fortgesetzt negativen Realzinsen, die der realen Entschuldung dienen. 

Abb. 04: Zinsaufwand USA in Mrd. USD (1951-2022)Abb. 04: Zinsaufwand USA in Mrd. USD (1951-2022)

Um verbliebene Glutnester der Inflation verlässlich auszutreten, wäre eine länger andauernde Bewässerung der Brandflächen mit Zinsen oberhalb der Inflationsraten nötig. Die rückläufigen Inflationsraten werden aber womöglich als dankbares Argument herangezogen werden, um 2023 eine Lockerung zu begründen. Die zu erwartenden Steuermindereinnahmen in der Rezession (in den USA verstärkt durch den "Inflation Reduction Act") verschärfen die Lasten und Schmerzen eines restriktiveren Zinskurses. Die Bereitschaft, eine mit der Rezession einhergehende, an sich notwendige Bereinigung zuvor aufgebauter Ungleichgewichte, Fehlallokationen von Kapital, Zombie-Strukturen und damit schöpferische Zerstörung zuzulassen, dürfte gering ausgeprägt sein. Die Rücksichtnahme auf die Staatsfinanzen legt nahe, dass die Versuchung groß sein wird, die Zinsnormalisierung vorzeitig abzubrechen und eine Fortsetzung der Inflationspolitik und Finanzrepression zu tolerieren. Damit könnte die Saat weiterer Inflationswellen gelegt werden. 

War Gold im Inflationssturm so wetterfest wie erwartet?

Eine mögliche Fehlkalkulation der Notenbanken in der Inflationsreduzierung wirft die Frage nach Möglichkeiten der Versicherung gegenüber Risikoszenarien auf, in denen tatsächlich das Vertrauen erodieren und eine Inflationsmentalität um sich greifen sollte. In einem solchen Versicherungsfall hat sich historisch zuallererst Gold bewähren können. Andere Sachwerte leisteten in früheren Hochinflationsphasen zwar wertvolle Beiträge, sind aber in der Rückschau vielfach als doch nachrangiger Schutz gegenüber Edelmetallen zu bewerten. Besitzer von Immobilien sahen sich als "Inflationsgewinner" oft staatlichen Zugriffen (Hauszinssteuer, Lastenausgleich, usw.) ausgesetzt. Aktien zeigen in der Untersuchung verschiedener Hochinflationsphasen je nach Betrachtungszeitraum, Branche und jeweiligen Kostendynamiken der Einkaufs- und Endkundenpreise eine sehr unterschiedliche Eignung in ihrer Fähigkeit, Kapital real zu erhalten. 

Die Eignung von Gold, als wirksames Instrument zum Inflationsschutz Kaufkraft zu erhalten, wurde in den letzten Monaten mit erhöhten Inflationsraten gelegentlich hinterfragt. Die Goldpreisentwicklung, so die Argumentation, hielt 2022 nicht Schritt mit den verzeichneten Anstiegen der Verbraucherpreise in Europa oder Nordamerika. In seiner Handelswährung, dem US-Dollar, war der Goldpreis 2022 nahezu unverändert. In Euro gerechnet, konnte das Edelmetall hingegen mit einer Wertentwicklung von +5,9% aufwarten. Beide Werte liegen tatsächlich unterhalb der durchschnittlichen, im Jahresverlauf beobachteten Inflationsraten. Wichtig in der Interpretation ist die Erkenntnis, dass der starke Anstieg der Verbraucherpreise lediglich ein zeitverzögertes Symptom der zuvor präsenten monetären Ursache, nämlich der extremen Geldmengenausweitung der Jahre 2020 und 2021 ist. Gold reagiert in Echtzeit auf die monetäre Inflation, die 2020-21 vorhanden, 2022 hingegen nicht mehr dominant war. Im Jahr 2022 war das Geldmengenwachstum rückläufig, sodass eine schwächere Entwicklung des Goldpreises vollständig erklärt und begründet erscheint. Zum Zeitpunkt der Entstehung der monetären Inflation, des Geldmengenüberhangs, performte Gold erwartungsgemäß, etwa mit einer Jahreswertentwicklung von 14,9% im Jahr 2020. Das Überangebot an Geld arbeitete sich dann in der Folge in die Verbraucherpreise durch, besonders befeuert durch staatliche Fiskalpakete, durch die das neu ausgegebene Geld stark nachfragewirksam wurde. Doch tritt der Anstieg der Verbraucherpreise eben mit Zeitverzug gegenüber der Geldmengeninflation auf, sodass die Reaktionsfunktion des Goldpreises einen engeren Zusammenhang mit der monetären Ursache als mit der statistischen Dokumentation der Konsequenz, der Verbraucherpreisinflation, aufweist. Die aktuelle monetäre Disinflation, das Schrumpfen der Geldmenge, geht mit gleicher Logik mit eher schwächeren Goldpreisen einher.

Dennoch hat Gold im Jahr 2022 seinen Nutzen als Portfoliobaustein gut untermauern können. Selbst in USD war eine Nullperformance den deutlichen Wertverlusten bei Aktien und Renten überlegen und damit vorzuziehen. Gegenüber traditionellen Portfolioinstrumenten hatte eine Goldbeimischung auch im Vorjahr eine klare Berechtigung. Die Fähigkeit von Gold, Anlagekapital über einen langen Haltezeitraum hinweg zuverlässig real zu erhalten, ist gut dokumentiert.  

Darüber hinaus verfügt Gold wie kaum ein anderes Instrument über eine Vielzahl inliegender Optionen, die bei Eintritt unterschiedlichster, für das Gesamtportfolio adverser Tail-Risiken "ins Geld" kommen. In Ergänzung zu denkbaren Hochinflationsszenarien treten in der aktuellen, auf Eskalationskurs befindlichen geopolitischen Lage vor allem Risiken in den Vordergrund, die kaum anderweitig versicherbar sind. Eine weitere offensichtliche Option, die mit hoher Wahrscheinlichkeit künftig nicht dauerhaft aus dem Geld liegen wird, ist die Möglichkeit einer einmaligen Höherverankerung des globalen Goldpreises, sollte ein multinationales, goldgedecktes Währungsprojekt Gestalt annehmen. Als frühe Indikationen auf Vorbereitungen einer entsprechenden Alternative zum dollarzentrierten "Nach-Bretton-Woods-Systems" dienen die beträchtlichen Goldankäufe bestimmter Notenbanken zum Jahresende 2022, die politische Annäherung von China und Saudi-Arabien beim Nicht-US-Dollar Settlement von Energietransaktionen, gleichermaßen wie entsprechende Absichtserklärungen der erweiterten BRICS-Staatengemeinschaft. Auch erkennen viele asiatische Länder mit Überschussposition (positive Leistungsbilanzen, positives Auslandsguthaben) die schlichte Notwendigkeit, ihre bislang in Dollar und Euro gehaltenen Auslandsreserven zu diversifizieren. Die Enteignung russischer Fremdwährungsreserven haben eine Präzedenz geschaffen, die aus Sicht anderer asiatischer Gläubiger westlicher Staatsanleihen den dringlichen Bedarf schaffen, das eigene Anlagebuch unabhängiger von US-zentrierten Sanktions- und Enteignungsrisiken zu gestalten.

Gold bedarf nicht des Eintritts von "Versicherungsereignissen", um die Rolle im Portfolio zu rechtfertigen. Die Hauptaufgabe begründet sich aus günstigen Portfolioeigenschaften, speziell der geringen Korrelation gegenüber traditionellen Portfoliobausteinen sowie der Ausgleichsmöglichkeit der monetären Inflation zum ökonomischen Erhalt der Kaufkraft. Spätestens seit der Entkoppelung des Geldes von seiner Basis im Jahr 1971 ist das Metall überlegenes Wertaufbewahrungsmittel für nicht kurzfristig benötigte Liquidität. Diese sichere Liquidität unterliegt im Zeitablauf keiner Beschädigung und kann zum Einsatz gelangen, wenn Opportunitäten zum Erwerb von Vermögenswerten in anderen Anlageklassen entstehen. Der darüber hinaus gegebene Zusatznutzen als antifragiler Vermögenswert schlechthin stellt einen attraktiven Mehrwert da, für den obendrein keine nennenswerte, zusätzliche Versicherungsprämie entrichtet werden muss. Die wilden, von spekulativen Übertreibungen gekennzeichneten Jahre 2020-21 und das darauffolgende Platzen vieler Illusionen hat zudem dokumentiert, dass vermeintliche Substitute den einzigartigen Eigenschaften von Gold so schnell nicht den Rang ablaufen werden. Gold überdauert seit mehr als 2.000 Jahren unter unterschiedlichen Bedingungen, während die Werthaltigkeit sogenannter Krypto-"Währungen" in der ersten Bewährungsprobe ihrer noch kurzen Lebensdauer nicht überzeugt hat.

Die Illusionswirtschaft des billigen Geldes: Der Jahrhundertfehler ermöglichte erst den Jahrhundertsturm

Immer dann, wenn in mehr als 2.000 Jahren Finanz- und Wirtschaftsgeschichte zu viel Geld im Umlauf war und zu lockerere Finanzierungsbedingungen vorherrschten, folgten absehbar manische Spekulations-Bonanzas, die zunächst eine Wohlstandsillusion errichteten, schlussendlich aber allesamt in Tränen endeten. So die verknappte Erkenntnis aus Edward Chancellors Buch "The Price of Time", in dem er darlegt, wie sich das immer gleiche Muster wiederholt, wenn der Zins zu niedrig ist. Die Tulpenzwiebel-Manie, die Südseeblase, John Laws spektakuläres Mississippi-Schema (als frühes Quantitative Easing in Kombination mit gehebelten Aktienrückkäufen), bis hin zur Internetblase der Jahrtausendwende sind Belege von Spekulationsblasen, die zu ihrer Zeit, zur Gegenwart ihres Entstehens mit unterschiedlichsten Begründungen stets als rational erklärt wurden ("This time is different"). Die faktische Irrationalität und das ganze Ausmaß der objektiv absurden Stilblüten, die eine jede dieser Manien mit sich brachte, offenbarte sich in der Nachbetrachtung und der Schadensbilanz, wenn die jeweiligen Blasen platzten. 

Trotz der sehr gut dokumentierten Finanzgeschichte resultiert kaum Erkenntnisgewinn oder adaptives Lernen. Die Auslöser von Spekulationsblasen und folgenden Verhaltensmustern sind historische Konstanten, doch wiederholen sie sich immer wieder aufs Neue. So geht auch die Kapitalmarktphase von März 2020 bis Dezember 2021 als weiteres Beispiel für eine der größten Blasen der Menschheitsgeschichte in die Bücher ein. Je größer der zeitliche Abstand zur "Alles-Blase" nach der Coronakrise wird, desto klarer wird die ganze Dimension der Überhitzung. 

(Zu) Niedrige Zinsen an sich waren nach Edward Chancellors Forschungen bereits häufig die hinreichende Bedingung für die Fehlallokation von Kapital. Die Überinvestitionen in Eisenbahnen zur Pionierzeit in den USA und Großbritannien sind dafür ebenso Beleg wie das regelmäßige Auftreten eines - wohlwollend klassifiziert - "grauen Kapitalmarkts", dessen Übergänge zu betrügerischen Schemata oft fließend waren und sind. 

Als historische Beispiele nennt Chancellor die Kapitalsammlung für die "Trockenlegung des Roten Meers", die "Belebung des Toten Meers", den Bau eines Kanals nach Kamtschatka oder - unvergleichlich - die "interessante Investitionsmöglichkeit für ein Vorhaben, welches zu gegebener Zeit enthüllt wird". Zinsen unterhalb von 2% waren historisch dabei häufig der Übergang, unterhalb dessen sich spekulative Marktentwicklungen begannen selbst zu verstärken. Selbst John Maynard Keynes hielt zu Lebzeiten Zinsen von unter 3% für keine gute Idee und erkannte, dass sie zu Ungleichgewichten führten.

Im Fall der 2020-21 ausgebildeten "Alles Blase" waren die Voraussetzungen aus Niedrigzinsen und ultralockerer Geldpolitik in den großen Währungsräumen bereits bis 2019 angelegt. Schon vor der Coronakrise schienen die Bewertungen an den Märkten stark strapaziert, hatten sich viele Preise weit von den Fundamentaldaten entfernt, etwa bei Aktien und Immobilien. Die massive monetäre und fiskalische Überstimulierung nach Corona, bis lange nachdem eine Stimulierung überhaupt nötig war, potenzierte dann ab Sommer 2020 die Bereitschaft der Kaufherden, beinahe jeden beliebigen Marktpreis für jedes verfügbare Anlageinstrument zu zahlen.

Die weit geöffneten Geldschleusen befeuerten Kursrallyes bei Technologieaktien, führten Bewertungen von Unternehmen niedriger Qualität und niedriger Profitabilität in absurde, nie zuvor erreichte Sphären, bescherten Tesla eine Marktkapitalisierung, die den kombinierten Wert der fünf größten Wettbewerber übertraf und produzierten ein Heer von neuen Marktteilnehmern ("Robin Hood Traders"), die per Smartphone im Lockdown ihre Wetten platzierten und atemberaubende Kursausschläge in den unwahrscheinlichsten Zielinvestments auslösten.  

Abb. 05: Als Folge des Entzugs der Notenbankliquidität platzt die Alles-BlaseAbb. 05: Als Folge des Entzugs der Notenbankliquidität platzt die Alles-BlaseAbb. 05: Als Folge des Entzugs der Notenbankliquidität platzt die Alles-Blase

Eine verlässliche Konstante in Phasen des "easy money" ist, dass sich mit Jagd nach Rendite und "FOMO" ("Fear of missing out") die Risikobereitschaft der Anleger erhöht, bzw. Anleger zum Erreichen ihrer Renditeerfordernisse in Risiken gezwungen werden, die sie unter normalen Bedingungen nicht bereit wären, einzugehen. Eine genauso verlässliche Konstante ist das Auftauchen überoptimistischer, illusionärer bis zwielichtiger und betrügerisch-krimineller Anlageschemen. Erstere können bei näherer Betrachtung meist selbst unter der Annahme dauerhafter Bestbedingungen niemals eine rentierliche Investition darstellen und sind damit definitionsgemäß Spekulation und Hoffnungswert. Letztere finden ihre historische Entsprechung in den von John Law, Charles Ponzi oder Bernie Madoff organisierten Betrügereien, im Platzen der aktuellen Kryptoblase ist das von Sam Bankman-Fried gesteuerte FTX-Schema ein erster (weitere folgen vermutlich) sichtbar gewordener Kollaps eines auf Basis krimineller Energie betriebenen Luftschlosses. Die prominente Anleger- und Gefolgschaft Bankman-Frieds ist dabei genauso analog und ebenso wenig überraschend zu historischen Vorbildern, wie die Tatsache, dass er als einer der größten Spender der Demokratischen Partei in den USA salonfähig war und als Teil der Elite wahrgenommen wurde. Diese Zugehörigkeit und das daraus geschöpfte Grundvertrauen erlaubten ihm lange genug, sich den nötigen Due Diligence Prozessen seiner Geldgeber zu entziehen. 

Lockere Finanzierungsbedingungen begünstigen zudem immer Übertreibungen in fremdkapitalfinanzierten Investitionen. Im Private Equity Bereich gezahlte Multiples, Immobilienpreisblasen und die geradezu unfassbaren Volumina schuldenfinanzierter Aktienrückkäufe der Jahre 2020 und 2021 sind entsprechende Beispiele. Die in den beiden Jahren verzeichneten Preissteigerungen kamen 2022 aber zu einem abrupten Ende. In den beiden Blasenjahren markierte Zugewinne bei zahlreichen Technologieaktien haben sich inzwischen oft vollständig zurückgebildet. Die Immobilienpreise tatsächlich gehandelter Transaktionen fangen erst langsam an, nachzugeben, doch lässt die desaströse Kursentwicklung vieler Immobilienaktien erahnen, wie viel weiteres Abwärtspotential in diesen Märkten besteht. Kursverluste von teils 80% oder mehr bei REITs in den Bereichen Wohnen oder Gewerbe nehmen eine scharfe Vollbremsung der Immobilienmärkte vorweg und sind Funktion der teurer gewordenen Refinanzierung. 

Viele der 2020-21 mit hohen Erwartungen getätigten Anlagen sind zurück auf dem Boden der Tatsachen. Der kollektive Wahnzustand in glückspielähnlichen Marktsegmenten mutet in der Rückschau genauso bizarr an, wie die darauffolgenden Kursverluste als folgerichtig erscheinen. Doch gingen Anleger in ihrer subjektiven Wahrnehmung durchaus davon aus, rationale Entscheidungen zu treffen, wenn sie gehypte aber allgemeinhin als "vielversprechend" empfundene Aktien erwarben. Man mag in der Rückschau die gezahlten Preise in Vermögenswerten und auch "Dingen" (wie Pokémon- oder Baseballsammelkarten) ohne jeglichen oder zumindest mit fragwürdigem intrinsischem Wert, etwa Kryptowährungen und zeitgenössischer ("digitaler") Kunst belächeln. Jedoch sind die Käufermotive und deren Rationalisierungen letztlich nicht vollkommen unähnlich jener Anleger, die Anleihen zu nominal negativen Zinsen erworben haben oder die Aktien großer Technologiekonzerne zum Hundertfachen der durchschnittlich erwartbaren Gewinne ins Portfolio nahmen.

Wir erinnern uns gut, dass in den beiden Blasen- und Casinojahren auch unser Ansatz, bei einer bewährten, bewertungsbasierten Anlagedisziplin zu bleiben, hinterfragt wurde. Der Verzicht auf die blinde Teilnahme an Momentumstrategien, das Bestehen auf einer Sicherheitsmarge, der Anspruch auf den Erwerb positiver Realrenditen wurde von Einigen als "aus der Mode" gekommen belächelt. Unser Verzicht auf überbewertete FANG-MAN Aktien im Portfolio stand unter Rechtfertigungsdruck, ob man es sich noch erlauben könne, ohne die "Geschäftsmodelle von morgen" auszukommen. Unser Einwand, ein gutes Unternehmen, ein vielversprechendes Geschäftsmodell sei nicht automatisch gleichbedeutend mit einer wohlüberlegten, begründeten und aussichtsreichen Aktieninvestition wurde nicht immer nachvollzogen. 

"Wir fühlten uns nicht verpflichtet, eine Absurdität mitzumachen, weil sich die Welt absurd benahm."

Stefan Zweig, in "Die Welt von Gestern"

In der Rückschau liegt ein Learning aus dieser Zeit klar auf der Hand. Statt unsere eigene Strategie selbst zu stark zu hinterfragen, wäre es der richtigere Impuls gewesen, das Umfeld und die Variationen der verschiedenen "This time is different" Botschaften als Bestätigung für die Angemessenheit des Festhaltens an einer Value-basierten Fundamentaldisziplin zu sehen. Immer dann, wenn Anleger meinen, mit Abkürzungen, mit "get rich quick" Strategien den überlegenen Weg zum Anlageerfolg gefunden zu haben, generiert sich ein sicheres Signal für das Vorhandensein einer spekulativen Blase, auf die immer ein Marktumfeld folgt, in dem Investoren, die gehofft hatten, schnell reich zu werden, viel Geld verlieren. 

"Hastig errafftes Gut zerrinnt; wer aber ruhig sammelt, bekommt immer mehr."

Sprüche 13,11

Immer dann, wenn Notenbanken im Konfettimodus sind und eine Casinomentalität an den Kapitalmärkten um sich greift, ist es ein sicheres Zeichen, dass es nicht an der Zeit ist, dem möglicherweise nächsten Allzeithoch nachzujagen, sondern den Fokus auf das Risikomanagement zu lenken. Immer dann, wenn man sich erklären muss, warum man nicht in den exotischsten, schillerndsten und überteuersten Marktsegmenten (etwa "Wasserstoff", "Kryptowährungen", "chinesische Technologieinnovationen", "Essenszulieferer", "Ladesäulen", "das was Cathie Wood macht") investiert, ist es ein sicheres Zeichen, dass spekulative Übertreibungen bestehen. Immer dann, wenn eine begründete, in Fundamentalanalyse geankerte Investmentdisziplin als unzeitgemäß belächelt wird, im fiebrigen Taumel neuer Indexrekordstände argumentiert wird, man müsse die Hausaufgaben nicht mehr machen und könne bedenkenlos in jeder gerade gut laufenden Überhitzung zukaufen, dann liegen recht sichere Indizien für einen künstlichen "Boom", eine massive Fehlallokation von Kapital vor, auf die früher oder später doch stets der "Bust" folgt, in dem sich reine Hoffnungswerte dann in Schall und Rauch auflösen. 

Unsere Nichtteilnahme an den casinoartigen Enthemmungen der Jahre 2020-21 hat Renditepartizipation auf der Oberseite gekostet. Doch erfordert die bewusste Teilnahme an solchen Marktphasen die Fähigkeit, den rechtzeitigen Ausstieg zu finden. Die letzten Monate zeigen, dass das Timing des Absprungs nur Wenigen gelang. Der Jahrhundertsturm mit all seinen Verwüstungen der Performancelandschaft ist die direkte Folge des Jahrhundert-Policy-Fehlers der Null- und Negativzinsen und extremen Geldmengenexpansion. So wie ein in der Karibik oder Florida auf Land treffender Hurrikan als nötige Vorbedingung des Entstehens die vorherige Erwärmung der Wassertemperaturen im Atlantik auf ein bestimmtes Niveau hat, so bedürfen Kapitalmarktblasen der vorherigen Befeuerung durch zu lockere Finanzierungsbedingungen.

Die Schadensbilanz sowohl der Jahre, in denen die Blase angewachsen ist, als auch des Platzens im Jahr 2022 ist erheblich: In den Jahren des Entstehens litten Anleger unter ausgefallenen Zinseinkommen. Die entgangenen Zinseinnahmen zwangen viele Investoren gleichzeitig zur Jagd nach Rendite in risikoreicheren Anlagesegmenten, wodurch die Vermögenspreisinflation möglich wurde. 

Ausgefallene Zinsen und Renditen standen in den Jahren der Nullzinsen nicht für sinnvolle, volkswirtschaftlich produktive Investitionen zur Verfügung. Die Umverteilungsfunktion negativer Realrenditen bereicherte Schuldner und Staaten. Die resultierenden (geplanten) "Zufallsgewinne" der Staaten leiteten Regierungen zusätzliche Ressourcen zu, die meist keiner effizienten Verwendung unterlagen, sondern konsumiert wurden. Jahre der "unkonventionellen Geldpolitik" ließen Zombieunternehmen entstehen, deren bloße Existenz den Wettbewerb verzerrt und der Volkswirtschaft Ressourcen entzieht. Die Niedrigzinsphase erlaubte den weiteren Aufbau generationenungerechter Verschuldung. 

Altersvorsorgeeinrichtungen, Lebensversicherungen und Pensionskassen wurden außer Stande gesetzt, ihnen anvertraute Gelder im Interesse ihrer Versicherten profitabel und kaufkraftwahrend anzulegen. Viele gemeinnützige Einrichtungen, Stiftungen und Privatpersonen waren gezwungen, Negativzinsen zu entrichten – mit direkter negativer Wirkung (Stichwort: negativer "Impact") auf deren Möglichkeiten der Zweckverwirklichung und Förderung des Gemeinwohls. 

Das Entstehen der spekulativen Blase wurde von den Notenbanken billigend in Kauf genommen, bzw. gar noch als wünschenswert ("Wealth effect") angeheizt. Der nun umgekehrte Vermögenseffekt zerstört nicht nur zuvor aufgebaute Ungleichgewichte, sondern hat via Deflation der Vermögenspreise – etwa in den Immobilienmärkten – auch realwirtschaftliche Folgewirkungen, welche rezessive Tendenzen verstärken werden. 

Der auf den Rausch des billigen Geldes notwendigerweise folgende Kater ist für die Gesundung und Wiederherstellung von Normalbedingungen zwar unvermeidlich. Für Vermögensinhaber und deren Vermögensverwalter wären aber stabilere Bedingungen, die von einem weniger volatilen und krisenanfälligen Anlageumfeld geprägt sind, grundsätzlich wünschenswerter. Die ständige Abfolge extremer Boom-und-Bust Zyklen erschwert den risikoarmen Kapitalerhalt und den verantwortungsvollen Vermögensaufbau. Der Beitrag der Geldpolitik zu dieser Instabilität ist gesellschaftlich nicht einmal im Ansatz ausdiskutiert. Bislang ist es den Notenbanken erfolgreich gelungen, die eigenen Verantwortungsanteile für z.B. die Blasen der Jahre 2000 und 2006 als Folge ultraexpansiver Geldpolitik zu verschleiern. Der damalige Fed-Chef Ben Bernanke lenkte nach der großen Finanzkrise die Aufmerksamkeit auf eine vermeintlich unzureichende Finanzmarktregulierung. Der Beitrag der Geldpolitik wurde damit erfolgreich vernebelt, eine kritische Auseinandersetzung fand nie statt. Die mangelnde Lernbereitschaft und Erkenntnisfähigkeit hat aber hohe gesamtwirtschaftliche Folgekosten: Zum einen wurde die Hauptursache immer wieder auftretender Finanzmarktkrisen nie abgestellt, zum anderen hat die völlig aus dem Ruder gelaufene Finanzmarktregulierung nach 2009 hohe Kosten. Um eine Wiederholung der schmerzhaften Erfahrungen der Jahre 2001-2003, 2008 und 2022 nach Möglichkeit zu vermeiden, wäre es an der Zeit, eine ehrlichere Debatte über Grenzen und Aufgaben der Geldpolitik einzufordern.

Mindestens wäre zu hoffen, dass sich die leidvolle Erfahrung der Negativzinsen nie wieder wiederholen wird. Das Experiment der Negativzinsen steht einer jeden Logik, Vernunft und Lebensrealität entgegen. Der Negativzins verunmöglicht die Wirtschaftsrechnung und ignoriert die natürliche, urmenschliche Zeitpräferenz. Negative Zinsen sind nur für denjenigen logisch, der einen Spatz auf dem Dach höher schätzt als eine Taube in der Hand. Weiterhin ist die moderne Ökonomie geprägt von einer nicht wirklich schlüssig begründeten Deflationsphobie. Ein zentrales Anliegen der Geldpolitik der letzten Jahrzehnte war die unbedingte Vermeidung auch nur marginaler Deflationsraten um scheinbar jeden Preis. Das Zulassen einer gesunden, nämlich durch steigende Produktivität verursachten, Deflation kann aber durchaus positive gesamtwirtschaftliche Impulse erzeugen, wie beispielhaft lange Zeitperioden der Prosperität bei gleichzeitiger Deflation in vielen Währungsräumen vor dem 1. Weltkrieg zeigen. Schädliche Deflation ist jene crashartige Zerstörung von Vermögen im "Bust", der auf künstlich gefütterte Boomphasen mit zu viel Geld- und Kreditangebot folgt. Kreditausfälle, sinkende Vermögenspreise, realwirtschaftliche Schrumpfung, Schockstarre – die aus der Großen Depression der 1930er Jahre kennzeichnenden Assoziationen, die heute das Bild von Deflation prägen, sind aber eine zu singuläre Erfahrung, als dass sie die bis heute vorherrschende zwanghafte, quasireligiöse Deflationsvermeidung erklären könnte. Die "schlechte" Deflation des Crashs wird umso wahrscheinlicher, je weniger Bereitschaft besteht, die "gute" Deflation zuzulassen. Die dauerhaften Eingriffe in den Wirtschaftskreislauf, um von Inflationsraten von 0,5% oder 1,5% aus zwanghaft 2% zu erreichen, bauen mit nicht nachhaltiger Geldmengen- und Kreditexpansion erst jene Ungleichgewichte auf, die am Ende den deflationären Crash unvermeidbar machen. 

Ein zu niedriges Zinsniveau und billiges Geld führen in die illusionäre Schuldenwirtschaft und früher oder später zu eintretenden Unwetterkatastrophen an den Kapitalmärkten, weil illusionäre Vermögenswerte nur so lange werthaltig sind, wie Zinsen niedrig gehalten werden können. Warren Buffet verglich einst treffend den Zins mit der Schwerkraft: Wie die Erdanziehungskraft auf Masse wirkt, so wirkt der Zins auf Bewertungen. Entfernt man den Zins, steigen die Bewertungen über die Diskontierungsfunktion in die Stratosphäre. Ein angemessenes Zinsniveau, das zu weniger krisenanfälligen Finanzmärkten führt, erfordert positive Realzinsen. 

Die hohen Bewertungsniveaus der Aktienmärkte mahnen zur Vorsicht
Abb. 06: Hohe Bewertungsniveaus an den AktienmärktenAbb. 06: Hohe Bewertungsniveaus an den Aktienmärkten

Erneut scheinen die Aktienmärkte ihre Hoffnungen primär auf ein "Fed Pivot", die Kehrtwende in der Zinspolitik zu setzen. Wie in der Vergangenheit schon erläutert, sind diese seltsamen Erwartungen aber weder durch die Historie gedeckt, noch scheint das Narrativ in sich logisch begründet und nachvollziehbar. Als kurze Zusammenfassungen unserer Erläuterungen im vergangenen Marktkommentar: Der schlimmste Teil des Bärenmarkts trat historisch nach dem Fed-Pivot ein. Erst wenn die konjunkturellen Bremsspuren sichtbar werden, senkt die Notenbank die Zinsen. Zu dieser Zeit werden aber auch die Unternehmensgewinne überproportional in Mitleidenschaft gezogen, was stark aktiennegativ wirkt. 

Abb. 07: Fed PivotAbb. 07: Fed Pivot

Welches der beiden in sich widersprüchlichen Szenarien wahrscheinlicher eintritt, können wir nicht beurteilen und platzieren auch keine Wetten darauf. In jedem Fall scheint es aus der aufgezeigten Inkonsistenz aber ratsam, lange Rentenlaufzeiten noch zu meiden (was mit überschaubaren Opportunitätskosten einhergeht, da kurze und mittlere Laufzeitbänder sehr gut bezahlt sind und längere Laufzeiten kaum oder keinen Roll-Return bieten) und gleichzeitig noch Zurückhaltung im Aktienbereich zu üben. 

Abb. 08: Renditeentwicklung zehnjähriger US-Staatsanleihen (in %) Abb. 08: Renditeentwicklung zehnjähriger US-Staatsanleihen (in %)

Werden die verbliebenen Inflationsgefahren, wie diskutiert, nicht entschlossen adressiert, besteht für das lange Ende der Zinskurven zusätzliches, aktuell nicht hinreichend bezahltes, Risiko. Weitet man den Blick für langfristige Entwicklungen, fällt auf, dass Zinsen sehr langen, stabilen Trends folgen. Der 40 Jahre andauernde Abwärtstrend scheint gebrochen. Die Zinswende des Jahres 2022 könnte den Beginn eines neuen, wiederum langen Aufwärtstrends markieren, innerhalb dessen Zinssteigerungen für ein laufzeitoffensives Anleiheportfolio eher zum Kursrisiko und Belastungsfaktor werden.

Auch bei Kreditrisiken gilt: Die inzwischen doch wieder engeren Risikoaufschläge bei Hochzins- und Unternehmensanleihen am unteren Ende des Investment Grade Spektrums kompensieren nicht hinreichend für ein Szenario, in dem sich in einer tieferen Rezession höhere Ausfälle und Kreditverschlechterungen einstellen. Grundsätzlich trüben sich im Umfeld strukturell höherer Zinsen die Refinanzierungsbedingungen für schwächere Schuldner ein. Beim Aufbau niedrigerer Kreditqualitäten noch Geduld zu üben, scheint aktuell ratsam. 

Auch einige Konjunktur- und Preisdaten senden aktuell widersprüchliche Signale. So will ein stärkerer Kupferpreis als frühzyklischer Indikator nicht so recht zur gerade erst beginnenden Eintrübung bei vielen Aktivitäts- oder Arbeitsmarktdaten passen. Die stark invertierten Zinskurven als verlässliches Rezessionssignal stehen im Gegensatz zur Aufhellung einiger Frühindikatoren. 

So sind weitgehend risikoarme, neutrale, aber mit hohem Carry versehene Anlagestrategien aktuell eine gute Wahl. Im Aktienbereich können Value-Strategien typischerweise im inflationären Umfeld outperformen. Im Rentenmarkt sprechen gewichtige Argumente auch wieder für eine höhere Berücksichtigung von Emerging Markets-Anleihen. Deren vergleichsweise robuste Performance im Jahr 2022 unter denkbar widrigen Bedingungen und insbesondere im Gegenwind des sehr starken US-Dollars zeigt, dass viele Emittenten in den Schwellenländern inzwischen deutlich widerstandsfähiger aufgestellt sind als zu Zeiten der großen Emerging Markets-Krisen. Sie verfügen inzwischen über deutlich verbesserte Außenpositionen und geringere Verschuldung. Damit haben sie 2022 mehrheitlich einen echten Stresstest erfolgreich bestanden. Nach vorne betrachtet besteht gerade bei EM-Anleihen mit einem schwächeren Dollar ein insgesamt konstruktiveres Anlageumfeld. Zusätzlich dürften Rohstoffexporteure, die wegfallendes russisches Angebot substituieren können, weiter profitieren. In den meisten Fällen weisen Schwellenländeranleihen unverändert üppige Risikoaufschläge aus, die sehr viel höher liegen als bei Unternehmensanleihen vergleichbarer Qualität in Europa oder den USA.  

Gold bleibt im sehr wahrscheinlich anhaltenden Umfeld der Finanzrepression auch 2023 unverzichtbarer Portfoliobaustein. Dazu gewährt das Edelmetall Schutz vor unerwünschten Überraschungsrisiken, beispielhaft aus der fragil erscheinenden Situation an den japanischen Anleihemärkten, wo mögliche Instabilität oder Tumult von nachfolgend globaler Bedeutung sein dürften oder eben der potenziellen Gefahr, dass Fehlkalkulationen oder leichtfertiges Schlafwandeln in weitere Eskalationsstufen hinein den Krieg in der Ukraine gänzlich außer Kontrolle geraten lassen. Zu vergessen ist auch nicht, dass der laufende Bärenmarkt noch keine echte, finale Kapitulation erfahren hat, die in der Vergangenheit häufig notwendig war, um einen belastbaren Boden auszubilden.

Trotz der verbleibenden Risiken dürfte es in diesem Jahr deutlich leichter fallen, eine wieder angemessenere Risikokompensation in einem Mischportfolio zu erreichen als in den Vorjahren, in denen oftmals kaum noch gute Optionen für Neuanlagen verfügbar waren. Häufig gilt als Faustregel: Wie der Januar, so das Jahr. Der fulminante Jahresstart (bester Auftakt für High Yield-Bonds seit 2009, bester Start bei vielen US-Aktienindizes seit 1987, bester jemals gemessener Wert für den Dax, der bereits um mehr als 30% von seinem Septembertief zulegen konnte) ist dabei vielversprechend. Grundsätzlich öffnet sich aus dem leichteren US-Dollar-Kurs ein entspannteres Anlageumfeld für viele risikonahe Anlagen. 

Ihr trotz der schwierigen Bedingungen fortgesetztes Vertrauen wissen wir sehr zu schätzen und bedanken uns dafür. Etwas später als üblich, dennoch genauso herzlich, sollen Sie unsere guten Wünsche für das Jahr 2023 begleiten. Möge es nicht nur aus Anlagesicht, sondern auch darüber hinaus ein gutes Jahr werden, mit Erfolg, Gesundheit und Gottes reichem Segen.

Autor:
Bernhard Matthes, CFA
Bernhard Matthes, CFA

Bereichsleiter BKC Asset Management
Bank für Kirche und Caritas eG

 

[ Bildquelle Titelbild: Adobe Stock.com / Zacarias da Mata ]
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