Als im Sommer 2003 beim Bau der neuen Metro in Shanghai ein Tunnelabschnitt einbrach und gleich noch ein darüber liegendes 30-stöckiges Gebäude einstürzte, war das nur das letzte Glied in einer ganzen Kette von Großschäden, die die Versicherungswirtschaft in den letzten Jahren das Fürchten gelehrt haben. Noch gut in Erinnerung dürfte vielen beispielsweise der Tunneleinsturz von 1994 in München sein, als ein Linienbus durch die Fahrbahndecke brach und drei Passagiere in den Tod riss. Im selben Jahr meldete auch London einen Tunnelkollaps beim Bau der neuen U-Bahn zum Flughafen. Der Schaden belief sich auf etwa 150 Millionen Euro. Im November 1999 sackte der Boden beim Bau eines unterirdischen Abwasserkanals im englischen Hull ab. Die Versicherer kostete das über 60 Millionen Euro. Die Schadenssummen erreichten in den letzten Jahren solche Ausmaße, dass die Assekuranz vor der Frage stand, inwieweit Tunnelprojekte in Zukunft überhaupt noch versicherbar sind. "Tunnelbau ist eines der risiko-reichsten Versicherungsfelder überhaupt" erklärt Ronan Gallagher, Leiter des Tiefbau-Expertenteams bei Allianz Global Risks in München. "Tritt nämlich ein Schaden ein, erreicht er nicht selten gleich katastrophale Ausmaße."
Im Herbst 2001 wandte sich der britische Versicherungsverband an die British Tunnelling Society, um gemeinsam einen Ausweg aus der Sackgasse zu finden. Zwei Jahre lang arbeitete anschließend ein internationales Team, in dem neben Allianz Global Risks (AGR) auch Gerling, Swiss Re, Zurich, SCOR, ERC Frankona, Münchner Rück und Royal & Sun Alliance vertreten waren, an einem Leitfaden zum Risikomanagement im Tunnelbau. Das Ergebnis präsentierten beide Seiten bereits im Herbst 2003 – den ‚Joint Code of Practice for Risk Management of Tunnel Works'.
"Das Problem ist, dass es kein typisches Schadensszenario gibt'" sagt Ronan Gallagher, der an der Entwicklung des Regelwerks maßgeblich mitgewirkt hat. "Die Ursachen für auftretende Probleme können so vielfältig sein, dass die Abschätzung eines Risikos extrem schwierig ist." Vieles kommt auf die Erfahrung und Sorgfalt der beteiligten Parteien an – angefangen von der Planung, über die geologischen Voruntersuchungen bis hin zur Bauausführung. Für sämtliche Projektstufen sieht der Sicherheitsleitfaden nun ein genaues Procedere der Gefahrenbewertung vor.
Um Risiken künftig auf ein vernünftiges Maß zu reduzieren, soll der Code of Practice mittelfristig fester Bestandteil von Bauleistungspolicen im internationalen Tunnelbau werden – mit der Möglichkeit für den Versicherer, eine Police bei Nichteinhaltung der Vereinbarungen zu kündigen. In der Vergangenheit, berichtet Gallagher, seien die Vertragsbestimmungen häufig zu weit gefasst gewesen und hätten gängige Sicherheitsstandards nicht ausreichend berücksichtigt.
Ob der Tunnel-Code tatsächlich eine Wende herbeiführen kann, wird sich erst noch zeigen müssen. Ein ähnlicher Sicherheitsleitfaden zum Brandschutz - der ‚Joint Fire Code' - hat sich nach Einschätzung der Versicherungswirtschaft aber als äußerst segensreich erwiesen und zu einer merklichen Reduzierung der Baustellenbrände geführt. "Natürlich wird man Schäden nie völlig ausschließen können", meint Gallagher. "Aber wir können zumindest dafür sorgen, dass wir es auch im Tunnelbau mit einem kalkulierbaren Risiko-Profil zu tun haben, und dass im Schadensfall nicht gleich unser gesamtes Portfolio gefährdet wird."