Länderrisiken und geopolitische Risiken

Nicht Vollkasko, sondern steuerndes Risikomanagement


Länderrisiken und geopolitische Risiken: Nicht Vollkasko, sondern steuerndes Risikomanagement Interview

Länderrisiken und geopolitische Risiken sind in der Finanz- und Versicherungsbranche mittlerweile ein wichtiger Bestandteil von Analysen. Wie generiert, verarbeitet und analysiert Coface diese Daten? Die Redaktion des Kompetenzportals RiskNET sprach mit Experten des Kreditversicherers Coface: Dr. Mario Jung, Regional Economist für Nordeuropa, Jochen Böhm, Regional Risk Underwriting Director Nordeuropa, und Thomas Born, Head of Financial Institutions.

Besteht bei einem Blick auf die wackelige Wirtschaftsunion in Europa nicht die Gefahr eines Bruchs des EU-Wirtschafts- und Binnenmarktes per se?

Mario Jung: Bei allen Problemen, die wir in EU seit dem Ausbruch der Wirtschaftsunion sehen, erscheint uns diese Gefahr doch sehr weit hergeholt. Denn die EU-Mitgliedsländer profitieren im Allgemeinen stark vom gemeinsamen Markt. Daran wird sich trotz populistischer Tendenzen so schnell nichts ändern.

In welchen Ländern sehen Sie aktuell die größten Gefahren im Zusammenhang mit möglichen Ausfallrisiken für Investoren und warum?

Mario Jung: Der beste Gradmesser dafür sind die Renditen an den Kapitalmärkten sowie die Prämien für Kreditausfallversicherungen beziehungsweise CDS. Da wird Griechenland nach wie vor am riskantesten erachtet. Aber mit den europäischen Stabilitätsmechanismen sind die Ausfallrisiken selbst für Griechenland nicht zu vergleichen mit beispielsweise denen von Venezuela.

Jochen Böhm: Aus unserer klassischen Sicht eines Kreditversicherers, bei der wir die Risiken von Geschäften zwischen Unternehmen betrachten, ist noch die Türkei zu nennen. Zwar schlagen hier die politischen Wirren noch nicht auf die makroökonomische Ebene durch, Probleme sind aber absehbar. Der Tourismus ist eingebrochen, die FDI [foreign direct investment, d.h. ausländische Direktinvestitionen; Anmerkung der Redaktion] gehen zurück und die Bewegungsfreiheit der Banken wird eingeschränkt. Bei Mexiko sehen wir negative Entwicklungen und müssen genau beobachten, wie sich die US-Einflüsse weiter auswirken. Auch China mit seinen strukturellen Veränderungen und Brasilien mit seinen politischen Problemen, beobachten wir durchaus genauer.

Welche Risikofaktoren beziehen Sie darüber hinaus bei Ihren Auswertungen und Analysen ein?

Mario Jung: Neben den politischen Risiken ganz klar auch die allgemeinen makroökonomischen Rahmenbedingungen. Als Kreditversicherer haben wir darüber hinaus einen spezifischen Blickwinkel: Wir betrachten in unseren Länderbewertungen die Risiken für Geschäfte mit Unternehmen für 160 Länder. Essentiell dabei sind unsere eigenen Zahlungserfahrungen, die auf Informationen von mehr als 80 Millionen Unternehmen weltweit fußen.

Im Zuge des Brexit aber auch bei der Einschätzung des Wahlausgangs in den USA lagen viele Analysten mit ihren Prognosen falsch. Das heißt, dass die Datenhoheit noch nicht in allen Bereichen des wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Lebens die Deutungshoheit besitzt?

Mario Jung: Zu einer ausgewogenen Analyse gehören nicht nur Daten, sondern auch Intuition und Erfahrung. Als Volkswirt hat man leider nicht die Weisheit gepachtet, sodass wir auch mal daneben liegen. Bei den beiden angesprochenen Ereignissen war es auch schließlich nicht so, dass alle Experten einhellig waren. Wir wägen dementsprechend in unseren Analysen und Vorhersagen verschiedene Szenarien ab. Dann behält man auch die Deutungshoheit, selbst bei anfänglich falschen Vorhersagen.

Apropos Deutungshoheit. Welche Entwicklungen müssen Analysemethoden nehmen, um zukünftig mit all den Informationen eine sinnvolle Verknüpfung und Auswertung zu erzielen?

Mario Jung: Wichtig ist es, aus den fast schon riesigen Informationsmengen und Daten die relevanten herauszufiltern. Dabei sollten Zusammenhänge statistisch bedeutsam sein.

Jochen Böhm: Bei der Bewertung von Unternehmen spielt die Verfügbarkeit und immer mehr die Verlässlichkeit von Informationen eine entscheidende Rolle. Es wird immer schwieriger, aus der Flut der Informationen die richtigen herauszufiltern.

Kommen wir auf Coface zurück. Welche Methoden setzen Sie bei Coface im Rahmen Ihres Risikomanagements ein?

Jochen Böhm: Wir haben ein zentrales Datenbanksystem, in das alle Informationen aus unserem weltweiten Informationsnetz eingespeist und verarbeitet werden. Je nach Verwendung greifen wir auf die speziell aufbereiteten Daten zu. Zur Kreditprüfung wenden wir unter anderem Bilanzanalyse- und Expected-Loss-Verfahren an. Ganz wichtig ist die Erfahrung der Risk Underwriter. Dabei setzen wir auf eine Branchenstruktur, das heißt, dass unserer Kreditprüfer sich auf bestimmte Branchen besonders spezialisiert haben.

Beziehen Sie die Chancensicht in Ihre Analysen mit ein?

Mario Jung: Ganz klar, weil dies für unsere Versicherungsnehmer essentiell ist: Welche Märkte bieten gute Perspektiven, welche bieten Stabilität und Sicherheit? Nicht ohne Grund können sich unsere Einstufungen zu Ländern und Sektoren nach unten, aber freilich auch nach oben bewegen.

Können Sie diesen Punkt etwas konkretisieren?

Jochen Böhm: Chancen und Risiken gehören zusammen, denn letztlich geht es um möglichst sichere Geschäfte. Das fängt schon bei der Identifikation von Geschäftspartnern an und hört – im Störungsfall – mit dem Forderungseinzug auf. In den verschiedenen Phasen des Forderungsmanagements kommt es auf Professionalität an. Wir versuchen einerseits, die verschiedenen Informationsebenen, also makro- und mikroökonomische Aspekte, Länder, Branchen und Unternehmen, in ihren Wechselwirkungen zu betrachten. Andererseits wollen wir den jeweiligen Ist-Zustand in seiner Zeitschiene sehen. Das ist wichtig, um unsere Funktion als Risikomanager erfüllen zu können. Für uns ist die Aussage "Kreditversicherung ist mehr als versichern" kein reiner Werbespruch. Es geht eben nicht nur um Risiken, sondern auch um die Chancen.

In der Praxis verfügen Ihre Kunden über wertvolle Frühwarn- und Risikoinformationen, die für Ihre Ratingsysteme einen wertvollen Input darstellen könnten. Wie tauschen Sie Risikoinformationen zwischen Versicherungsnehmern und ihren Risikoanalysten aus? Gibt es hierfür einen strukturierten Prozess oder erfolgt das eher informell?

Jochen Böhm: Kommunikation ist in der Kreditversicherung sehr wichtig. Von daher gibt es einen strukturierten Prozess. So müssen die Versicherungsnehmer im Rahmen der Obliegenheiten vor allem Kreditzielüberschreitungen, aber auch risikoerhöhende Umstände melden. Umgekehrt erhalten die Kunden von uns im Rahmen des Risikomonitorings sofort Informationen, wenn sich bei ihren Geschäftspartnern, Abnehmern oder Lieferanten, die Bonität ändert. Das läuft strukturiert und weitgehend über Online-Tools ab. Daneben gibt es natürlich viele individuelle Kreditgespräche.

Stichwort Digitalisierung. Das Bankenumfeld treibt die Digitalisierung massiv voran. So unter anderem die Commerzbank mit ihrer Strategie Richtung 4.0. Wie beurteilen Sie diese Entwicklungen, gerade vor dem Hintergrund bereits etablierter Onlinebanken sowie der Entwicklungen im Firmenkundengeschäft?

Thomas Born: Wie so häufig entstehen bei Neuerungen Chancen und Risiken gleichzeitig. Im Fahrwasser der Digitalisierung wird es durchaus dazu kommen, dass ein Teil der Expertise eines Kreditversicherers in den Hintergrund gedrängt wird. Denn beim Sammeln von Informationen zur Einschätzung der Bonität oder auch dem Zahlungsverhalten von Kunden können Banken und andere Marktteilnehmer inzwischen häufig selbständig auf Daten zugreifen und dieses zielgerichtet auswerten. Andererseits wollen die Banken auch eigene Entscheidungsprozesse verschlanken oder auslagern. Thema: Automatisierung von Kreditentscheidungen auch im Firmenkundengeschäft. Dies bietet wiederum Chancen für den Kreditversicherer, die ganz speziellen Kenntnisse und weltweiten Analysekapazitäten ergänzend einzubringen. Wichtig hierbei ist, dass wir im Austausch mit unseren Partnern frühzeitig erkennen, wo dauerhaft der Mehrwert des Kreditversicherers liegt und wie er effizient zur Verfügung gestellt werden kann.

Viele Unternahmen transferieren zum Schutz vor Forderungsausfällen durch eine Zahlungsunfähigkeit des Auftraggebers ihre Risiken auf einen Kreditversicherer. Häufig kommt dann die Kritik seitens der Versicherungsnehmer, dass der Versicherer seine Limite immer dann reduziert, wenn es ernst wird und die Risiken ansteigen. Wie gehen Sie mit dieser Kritik um?

Jochen Böhm: Die kennen wir schon lange, eigentlich schon immer. Sie verkennt aber zweierlei. Zum einen ist es nicht Aufgabe eines Kreditversicherers, Unternehmen zu gefährlichen Geschäften zu ermuntern. Unser gemeinsames Interesse muss es sein, Schäden zu verhindern. Das erreichen wir nicht durch Vollkasko, sondern durch steuerndes Risikomanagement. Zum anderen zeigen die Deckungssummen, dass wir uns keineswegs aus dem Risiko verabschieden. Coface deckt derzeit weltweit Risiken in Höhe von 500 Milliarden Euro, das ist mehr als vor der Krise 2008/2009. Und das bei sinkenden Prämien. Wir tragen also ein höheres Risiko für unsere Kunden, obwohl diese weniger dafür bezahlen.

Jochen Böhm ist Regional Risk Underwriting Director Nordeuropa und Mitglied im Management Board Nordeuropa und Deutschland bei Coface.

Jochen Böhm ist Regional Risk Underwriting Director Nordeuropa und Mitglied im Management Board Nordeuropa und Deutschland bei Coface. Er blickt auf mehr als 25 Jahre Erfahrung in der Kreditprüfung und Bewertung von Unternehmen rund um die Welt zurück. Nach seinem Studium der Wirtschaftswissenschaften, Englisch und Geschichte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz startete Jochen Böhm im Jahr 1990 seine Karriere bei Coface als Kreditprüfer. Vier Jahre später übernahm er die Leitung des gesamten Kreditprüfungsbereichs und wurde 2010 ins Management Board berufen.

Thomas Born ist bei der Coface, Niederlassung in Deutschland, Head of Financial Institutions für die Region Nordeuropa.

Thomas Born ist bei der Coface, Niederlassung in Deutschland, Head of Financial Institutions für die  Region Nordeuropa. Er besitzt langjährige Erfahrung im internationalen Handels- und Finanzierungsgeschäft. Als Global Head of Relationship Management Trade & Export Finance war er zuvor bei der Landesbank Baden-Württemberg unter anderem für die Betreuung internationaler Banken und Structured Finance-Transaktionen zuständig. Auch in seinen früheren Positionen bei der Commerzbank und bei der Dresdner Bank war der Betriebswirt mit Bankausbildung in der Kundenbetreuung von Banken und der Exportfinanzierung tätig.

Dr. Mario Jung ist Senior Regional Economist der Region Nordeuropa bei Coface, Niederlassung in Deutschland.

Dr. Mario Jung ist Senior Regional Economist der Region Nordeuropa bei  Coface, Niederlassung in Deutschland. Er hat langjährige Erfahrungen im Bereich Makroökonomie und volkswirtschaftliche Analysen. Nach Studium und Promotion der Volkswirtschaftslehre in Trier, Maastricht und Greifswald war er bei verschiedenen Banken, unter anderem der  Deka- und BHF-Bank, im Bereich Economic Research tätig. Zuletzt arbeitete er als Senior Economist und stellvertretender Abteilungsdirektor für die DZ Bank.

[ Bildquelle Titelbild: © ilkercelik - Fotolia.com ]
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