Funktionsstörungen am Arbeitsmarkt

Paradoxon Löhne und Arbeitslosigkeit


Funktionsstörungen am Arbeitsmarkt: Paradoxon Löhne und Arbeitslosigkeit Kolumne

Es gibt ein Paradox, das mich bei der Betrachtung des wirtschaftlichen Umfeldes immer wieder umtreibt. Wie kann es sein, dass die Arbeitslosigkeit permanent zurückgeht und die Unternehmen händeringend Personal suchen, die Löhne aber nach wie vor nur sehr maßvoll steigen? Im April ist die Arbeitslosigkeit in Deutschland auf den niedrigsten Stand seit der Wiedervereinigung gefallen. Die Nominallöhne erhöhen sich aber laut den Zahlen der Bundesbank lediglich um 2,5 Prozent. Das ist real fast gar nichts.

Diese Situation widerspricht allen Erkenntnissen der traditionellen volkswirtschaftlichen Theorie. Danach verbessert sich bei günstigerer Konjunktur und sinkender Arbeitslosigkeit die Verhandlungsposition der Gewerkschaften. Sie fordern höhere Löhne. Die Unternehmen sind bereit sie zu zahlen, weil sie mehr Personal brauchen und durch höhere Produktion mehr verdienen können. Die sogenannte Phillipskurve beschreibt diesen Zusammenhang. Sie ist unter Ökonomen weitgehend unbestritten.

Wenn man sich die Entwicklung in den letzten 20 Jahren anschaut, dann sieht die Welt aber ganz anders aus. Zwischen der Entwicklung von Löhnen und Arbeitslosigkeit scheint auf den ersten Blick fast gar kein Zusammenhang zu bestehen. Die Korrelation beträgt gerade mal -0,3.

Löhne und Arbeitslosigkeit [Zunahme der Tarifverdienste in % yoy (ls), Arbeitslosenquote in % (rs), Deutschland, Quelle: Bundesbank]

Löhne und Arbeitslosigkeit [Zunahme der Tarifverdienste in % yoy (ls), Arbeitslosenquote in % (rs), Deutschland, Quelle: Bundesbank]

Allerdings lohnt es sich, etwas genauer hinzuschauen. Man kann hier nämlich zwei Phasen unterscheiden. Bis zur Finanzkrise 2007/8 haben die Löhne durchaus modellgerecht auf die Arbeitslosigkeit reagiert. Wenn die Arbeitslosigkeit zurückging, stiegen die Löhne schneller. Das neue Muster trat erst danach ein. Seitdem verringerte sich die Arbeitslosigkeit anhaltend und deutlich. Die Lohnsteigerungen bewegten sich jedoch nach wie vor in einer Größenordnung von zwei Prozent bis drei Prozent, so als ob nichts gewesen wäre. Es sieht so aus, als gäbe es den Zusammenhang der Phillipskurve nicht mehr.

Das bedeutet: Die Finanzkrise hat nicht nur die Finanzmärkte in Unordnung gebracht. Sie hatte auch nachhaltigen Einfluss auf den Arbeitsmarkt. Die üblichen Marktkräfte wirken nicht mehr. Die Löhne haben sich von der Beschäftigung emanzipiert. Das ist nicht nur ein deutsches Phänomen. Auch in anderen Ländern ist es zu beobachten. In den USA beispielsweise steigen die Löhne und Gehälter trotz Vollbeschäftigung und niedriger Arbeitslosigkeit derzeit nur um 2,5 Prozent.

Wie ist das zu erklären? Als erstes denkt man natürlich an die abnehmende Zahl der Gewerkschaftsmitglieder. Sie verringert die Verhandlungsmacht der Arbeitnehmer. Das ist aber nicht überzeugend. Denn auch schon vor der Finanzkrise waren immer weniger Menschen bereit, sich in Gewerkschaften zu organisieren. Auch die Flüchtlingskrise kann hier keine Rolle spielen. Denn erst seit 2015 gibt es so viele Immigranten.

Die Ursache muss woanders liegen. Aus meiner Sicht entscheidend ist hier der grundlegende Wandel in der Gesellschaft, den wir etwa seit Ende des letzten Jahrzehnts beobachten. Globalisierung, Digitalisierung, langsameres Wachstum und Finanzkrisen haben bei den Menschen zu einer zunehmenden Angst vor Arbeitsplatzverlust geführt. Sie fürchten, dass die Unternehmen Jobs in Billiglohnländer verlagern könnten. Sie stellen sich vor, dass Roboter ihre Arbeit übernehmen könnten. Sie vertrauen nicht mehr darauf, dass durch Wachstum neue Arbeitsplätze entstehen. Sie fürchten Finanzkrisen. Als Konsequenz schreibt sich die Politik Arbeitsplatzsicherung als oberstes Ziel auf die Fahnen. In einem solchen Umfeld können die Gewerkschaften natürlich nicht mehr so aggressiv agieren wie früher. Nur noch bei kleinen Berufsgruppen wie Piloten, Kindergärtnerinnen oder Lockführer gibt es größere Streiks.

Für die Gesamtwirtschaft haben diese Veränderungen erhebliche Konsequenzen. Der Link zwischen den Gütermärkten und den Arbeitsmärkten ist gestört. Das bringt eine Menge Schieflagen mit sich. Der Konjunkturmotor läuft nicht mehr rund. Der kumulative Prozess "mehr Nachfrage ⇒ höhere Löhne ⇒ mehr Einkommen ⇒ mehr Nachfrage" funktioniert nicht mehr. Entsprechend ist das gesamtwirtschaftliche Wachstum geringer. Der Konsum steigt nicht mehr so stark mit der Folge höherer Leistungsbilanzüberschüsse. Im monetären Bereich gibt es keine Lohn-Preis-Spirale mehr. Das verringert die Stabilitätsgefahren. Die Zentralbanken müssen bei der Verfolgung des Stabilitätsziels nicht mehr so rigoros sein. Die Lohnquote ist niedriger. Arbeitnehmer profitieren nicht mehr vom Wirtschaftswachstum. Das verschärft das Gerechtigkeitsproblem in der Gesellschaft. Es ist all das, was die Unzufriedenheit in den letzten Jahren noch befördert hat.

Man sollte das Thema also nicht zu klein schreiben. Es hat erhebliche Auswirkungen auf das gesellschaftliche Klima, auch den sich überall ausbreitenden Populismus. Die Wirtschaftspolitik sollte etwas genauer hinsehen. Was nottut ist mehr Lohnflexibilität entsprechend der Lage am Arbeitsmarkt, in der gegenwärtigen Situation also höhere Lohnsteigerungen.

Für den Anleger ist die neue Konstellation dagegen positiv. Wenn die Löhne nicht mehr so stark steigen, dann verdienen die Unternehmen besser. Die Aktien gehen nach oben. Wir haben das in den letzten Jahren gesehen. Die Zinsen sind niedriger. Sie erhöhen sich auch nicht so schnell. Das dämpft mögliche Kursverluste für Investoren in Festverzinslichen. Immobilien sind als Anlageobjekt attraktiv (allerdings auch mit der Gefahr der Überhitzung).

Autor: 

Dr. Martin W. Hüfner, Chief Economist, Assenagon Asset Management S.A.

Dr. Martin W. Hüfner, Chief Economist, Assenagon Asset Management S.A.

[ Bildquelle Titelbild: © agsandrew - Fotolia.com ]
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