Geopolitische Risiken: China ante portas …

Permanenter Krisenmodus ohne präventives Risikomanagement


Geopolitische Risiken: China ante portas … Permanenter Krisenmodus ohne präventives Risikomanagement Interview

Die geopolitische Welt befindet sich in einem massiven Erosionsprozess. Fragile Lieferketten stehen unter Dauerstress. Die Verschuldung vieler Staaten steigt in atemberaubende Höhen.  Steigende Kosten für Energierohstoffe und Lebensmittel erhöhen die Risiken für Unternehmen und die Gesellschaft. 

Es wird deutlich, dass wir vor einem größeren globalen Epochenwandel stehen. Der Kampf um die globale Hegemonie zwischen China und den Vereinigten Staaten ist hauptsächlich ein Kampf der unterschiedlichen Systeme. China versucht, insbesondere durch das Projekt der Neuen Seidenstraße, seine Macht über wirtschaftliche Abhängigkeiten zu steigern und nicht über militärische Interventionen, wie dies die USA häufig in der Vergangenheit vorgemacht hatten. Die beiden zentralen Ziele sind einerseits wirtschaftliche Dominanz, andererseits Autarkie, was technologische Importe angeht. Welche Relevanz haben die aktuellen Entwicklungen für das Risikomanagement? Und welche Rolle spielen geopolitische Szenarien bei der Risikobewertung? Mit welchen Szenarien sollten wir uns in der Zukunft beschäftigen? Welche Rolle spielt überhaupt ein präventives Risikomanagement bei politischen Entscheidungsträgern?

Wir sprachen mit Dr. Christian Glaser, der als Risikomanager und Generalbevollmächtigter der Würth Leasing GmbH & Co. KG tätig ist. Er ist Autor des Buches "China ante portas: Der Kampf um die globale Vorherrschaft in der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts".

Geopolitik und Geoökonomie sind die zentralen Elemente in den Machtstrategien der Großmächte. Wie kann ein Unternehmen fundierte Risikoanalysen, etwa im Kontext globaler Wertschöpfungsnetze, durchführen, ohne zuvor fundierte geopolitische Risikoanalysen zu berücksichtigen?

Christian Glaser: Für eine gute Risikoanalyse ist natürlich ein umfassendes Know-how und ein Gesamtüberblick notwendig. Ein Unternehmen braucht für seine individuelle Risikoanalyse zwar nicht alle geopolitischen Verschachtelungen im Detail zu kennen. Die für das eigene Haus zentralsten und kritischsten Elemente und Abhängigkeiten sind aber essenziell. Der Ausgangspunkt ist typischerweise die Frage, welche besonderen Abhängigkeiten und Konzentrationsrisiken für das eigene Unternehmen entlang der Value-Chain bestehen.

Wie sieht heute die Realität im Risikomanagement aus? Werden geopolitische Themen ausreichend berücksichtigt? Vor Jahrzehnten gab es bereits vom Institut der Deutschen Wirtschaft fundierte Risikoanalysen über die Rohstoffversorgung in kritischen Zukunftstechnologien. Dieser Rohstoffrisiko-Index listet Rohstoffe mit einem extrem hohen Versorgungsrisiko auf, so etwa Yttrium. Dieses Seltenerdmetall wird beispielsweise für den Bau von Permanentmagneten für Elektromotoren sowie für Lasergeräte benötigt, d.h. für hoch relevante Zukunftstechnologien. Und Yttrium ist praktisch nicht ersetzbar. Außerdem wird es fast ausschließlich (99 Prozent) in China abgebaut. Kennen Sie eine Strategie auf politischer Ebene, um die Versorgung der Industrie mit kritischen Rohstoffen sicherzustellen? Wie bewerten Sie in diesem Zusammenhang die strategischen Aktivitäten anderer Länder, beispielsweise Chinas?

Christian Glaser: Am Beispiel des Ukraine-Kriegs sieht man ja sehr deutlich, dass im Risikomanagement – oder zumindest bei der Entscheidungsfindung der Manager – noch allzu häufig der Wunsch Vater des Gedankens ist. Der Kölner würde dazu sagen: "Et hätt noch immer jot jejange". Man muss dabei zur Ehrenrettung aber auch sagen, dass kurzfristig nicht klar ist, ob es bei den Abhängigkeiten und kritischen Zukunftstechnologien auch zum "Worst Case" kommt. Wenn nicht, dann sind die Unternehmer, die voll auf eben auf dieses Szenario gesetzt haben, häufig die großen Gewinner. So wie die deutsche Wirtschaft, die viele Jahr von günstiger russischer Energie profitiert hat. Oder aktuell eben von chinesischen Importen. Das Beispiel Yttrium ist dabei sicherlich eines der krassesten mit quasi ausschließlicher Kontrolle Chinas. Dies zeigt, wie wichtig für China die Hoheit der Lieferketten ist. Die Volksrepublik geht dabei unglaublich strategisch vor und plant über Jahrzehnte im Voraus. Es ist kein Zufall, dass beim so wichtigen Bereich der Seltenen Erden, aber auch anderen Zukunftstechnologien ganze "Value Chains" kontrolliert werden – von der Rohstoffgewinnung bis zum fertigen Produkt.

Es gibt dabei immer wieder Initiativen, um die Abhängigkeit des Westens von kritischen Rohstoffen, die von China kontrolliert werden, zu reduzieren. So gründete die EU Ende 2020 beispielsweise die Europäische Rohstoffallianz (ERMA), um die Versorgung mit Mineralien für die Energiewende sicherzustellen. Das Problem ist aber immer dasselbe: (Noch) sind die wenigsten Kunden bereit, für die zusätzliche Sicherheit Preisaufschläge zu bezahlen und der Aufbau eines wirklichen Gegenpols zu China ist sehr langfristig und teuer. Der Russland-Krieg dürfte dabei aber als Katalysator wirken, das sieht man auch bei der Lokalisierung vieler wichtiger Supply-Chains. Das Zeitalter der Effizienzmaximierung globaler Supply-Chains unter reinen Kostenaspekten scheint vorbei zu sein – vielmehr stehen nun endlich auch die Risiken und die Lieferfähigkeit sowie Fragilität der einzelnen Partner im Mittelpunkt der Betrachtung.

Sie haben mit dem Buch "China ante portas: Der Kampf um die globale Vorherrschaft in der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts" eine beeindruckende Faktensammlung über die Geschichte, Gegenwart und Zukunft Chinas geschrieben. Seit ich als Risikomanager tätig bin, frage ich mich, warum sich meine Kolleginnen und Kollegen, die sich mit Risikoanalysen beschäftigen, so wenig mit der Realität anderer Kulturen, deren Geschichte und auch Strategien beschäftigen. Mitunter kommen mir einige Analysen äußerst anmaßend und weltfremd vor. Haben Sie hierfür eine Erklärung?

Christian Glaser: Ich teile Ihre Auffassung, wenngleich eine Pauschalaussage hierbei sicherlich schwierig ist. Was ich von meiner Erfahrung der letzten zehn bis fünfzehn Jahren im Risikomanagement seit der Finanzmarktkrise erlebt habe, ist eine gewisse Zweiteilung der unterschiedlichen "Schulen" des Risikomanagements. Einerseits die Quants, die versuchen alles mit mathematischen Modellen zu berechnen und alles, was sich nicht berechnen lässt, wird auch nicht oder nur unzureichend in den Ergebnissen und Interpretationen berücksichtigt. Andererseits der nahezu ausschließliche qualitative Fokus, der insbesondere als (angebliche) "Lessons learned" aufgrund der Modellschwäche insbesondere infolge der Finanzmarktkrise getroffen wurde. Die Krux dabei ist, dass beide Positionen zu einem gewissen Teil berechtigt, in ihrer reinen Form aber völlig falsch, sind. Vielmehr geht es darum, die Schwächen des einen Pols mit den Stärken des anderen aufzuwiegen. 

Das war jetzt relativ abstrakt – am Beispiel von Kulturen wird dies aber deutlicher. Wenn wir China und insbesondere das Handeln Chinas anschauen, sehen wir, dass die Vorgehensweise der Volksrepublik stark mit seiner Historie und Kultur verbunden ist. Die Erfahrungen des "Jahrhunderts der Scham" sorgen dafür, dass das Land unter keinen Umständen mehr den technologischen Anschluss verlieren und (wieder) vom Westen kolonialisiert und unterdrückt werden möchte. Dies wurde jahr(zehnt)elang unterschätzt. Auch ist man lange davon ausgegangen, dass "Wandel durch Handel" dafür sorgt, dass die Volksrepublik sich zu einer Demokratie entwickelt. Ebenso wurde die neue Seidenstraße jahrelang belächelt. Kurzum: Ein besseres Verständnis der Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge – die eben maßgeblich vom Faktor Kultur getrieben sind – sorgt auch für ein besseres Verständnis. Der Faktor Kultur wiederum lässt sich aber nur schwer aus der Ferne vom Hören-Sagen verstehen. Hier ist es auf jeden Fall hilfreich, wenn man zumindest für eine gewisse Zeit vor Ort ist und das Ganze direkt aufsaugen kann. Und dies ist wohl auch einer der Hauptgründe, warum einem viele Risikoanalysen weltfremd vorkommen: Sie sind entweder aus 10.000 Kilometern Entfernung vom Schreibtisch in Deutschland aus erstellt worden oder schlichtweg in die Jahre gekommen. Speziell den schnellen Wandel – auch in der Kultur eines Landes wie China – kann man nur vor Ort oder durch einen regelmäßigen, intensiven Austausch mit Einheimischen erleben. Tageszeitungen oder Fernsehsendungen sind aus offensichtlichen Gründen wenig zielführend.

Eine weitere Beobachtung, die ich aus Workshops und Risikoanalyen mit chinesischen Unternehmen mitgenommen habe, ist die Tatsache, dass strategische Methoden dort regelmäßig in der Praxis angewendet werden. So spielen beispielsweise das Denken in langfristigen Szenarien oder auch "Business Wargames" eine große Rolle bei der Analyse strategischer Risiken. In europäischen Ländern sind viele dieser Methoden (außerhalb des Militärs) nicht einmal bekannt – geschweige denn, dass sie in der Praxis angewendet werden. Was ist Ihre Beobachtung hierzu?

Christian Glaser: Das ist ein sehr guter Punkt! Die sogenannten "Strategeme" werden schon in Grundschulen unterrichtet. Jedes Kind kommt schon in jungen Jahren mit den "Listen" in Kontakt. Der Begriff der "List" ist dabei übrigens im Unterschied zu unserem Kulturkreis nicht negativ konnotiert, sondern positiv besetzt. 

Pläne spielen eine ganz wichtige Rolle in der Entwicklung der Volksrepublik und sind häufig über sehr lange Zeiträume ausgelegt. Allein das Megaprojekt der Neuen Seidenstraße ist ein Mehr-Generationen-Projekt, das sich auf alle Kontinente erstreckt.

Business Wargames und Ableitungen davon sind ein sehr spannendes, weil ja auch bereits in vielerlei Einsätzen erprobtes Tool, um die eigene Resilienz zu erhöhen. In einer VUCA-Welt mit Dauerkrisen und dynamisch-komplexen Umweltbedingungen ist es im Sinne von Perikles nicht wichtig "die Zukunft vorherzusagen", sondern viel wichtiger, auf sie "vorbereitet zu sein".

Gerade die strategische Planung kommt im Kontext des Risikomanagements leider immer noch zu kurz. Dies konnte ich im Übrigen auch in meiner Dissertation empirisch erforschen. Insbesondere im Mittelstand gibt es teilweise überhaupt keine strategische Planung. Hier ist man hauptsächlich operativ-taktisch unterwegs und lässt sich von den Entwicklungen mehr oder weniger treiben, da man ja "eh nichts ändern" könne. In einer Boom-Phase wie in den letzten zwölf Jahren mag dies gutgehen, in einer Krisenphase, auf die wir momentan zusteuern, ist dies brandgefährlich. Inflation, geopolitische Abhängigkeiten, Energiekrise, Corona etc. müssen zwingend strategisch geplant und gesteuert werden!

Lassen Sie uns einen Blick auf die globale Risikolandkarte werfen: Wie bewerten Sie das Damoklesschwert der massiven Verschuldung der westlichen Industrieländer? Und dies insbesondere vor dem Hintergrund, dass ein Großteil der Investoren und Gläubiger im Ausland sitzen. So kann insbesondere China durch den gezielten Verkauf von US-Staatsanleihen die US-Wirtschaft aktiv beeinflussen. 

Christian Glaser: Die Verschuldung ist ein großes Problem. Sowohl aufgrund der fehlenden Möglichkeiten, im Falle von weiteren Krisen – die Euro-Krise ist ja, wenn wir ehrlich sind, bis heute noch nicht gelöst – Gegenmaßnahmen zu ergreifen, als auch im Hinblick auf notwendige Investitionen in der Zukunft. Die Mittel sind nun einmal endlich. Dies wird sich beim Umbau der digitalen Infrastruktur und insbesondere dem extrem wichtigen Thema der künstlichen Intelligenz zeigen. Gerade in diesen Zukunftsthemen wären staatliche Investitionen sehr wichtig. Das heißt, wir "verfrühstücken" durch die hohe Verschuldung zu einem gewissen Teil unsere Zukunftsperspektiven – insbesondere, wenn das Geld lediglich für Umverteilung und Kostendeckung, nicht aber für strategische Investitionen in Innovation und Bildung eingesetzt wird.

Und andererseits kommt dann genau noch eine Komponente dazu, die Sie angesprochen haben, dass die Verschuldung eine geostrategische Komponente erhält, die zumindest theoretisch besteht. Hierbei muss man aber auch einschränkend anmerken, dass China sich dieser Macht sehr wohl bewusst ist und diese bisher – selbst auf dem Höhepunkt des Handelsstreits mit Donald Trump – nicht (öffentlich) als Waffe eingesetzt hatte. In den letzten Jahren zeigt sich außerdem eine gewisse Abkehr Chinas von der US-Wirtschaft und eine größere Fokussierung auf die Teilnehmer-Länder der neuen Seidenstraße. Allein dadurch sollte die geopolitische Komponente aus der Verschuldung etwas reduziert werden.

Gleichzeitig ergibt sich aber auch aus den fehlenden Zukunftsinvestitionen eine geopolitische Tragweite, denn es ist ja das große Alleinstellungsmerkmal des langjährigen Exportweltmeisters Deutschlands, dass wir hoch-innovative Produkte in alle Welt liefern. Wenn wir an Innovationskraft einbüßen, weil wichtige staatliche Unterstützungsmaßnahmen nicht mehr möglich sind, werden die guten Forscher und top-ausgebildete Arbeitskräfte ins Ausland abwandern und Länder wie China oder die USA stärken.

Werden Risiken nicht selten ideologisch – und nicht immer evidenzbasiert – bewertet? Sie diskutieren in ihrem Buch die Frage, inwieweit Huawei-Technik ein Sicherheitsrisiko darstellt. Sie zeigen auf, dass Huawei bei der Offenlegung seiner 5G-Steuerungssoftware deutlich entgegenkommender war als US-amerikanische Unternehmen wie Cisco oder Qualcomm. Der Einsatz von Huawei-Technik würde es mitunter westlichen Geheimdiensten erschweren, eigene "Backdoors" einzurichten und andere Staaten zu überwachen. Sollten wir hier nicht ehrlicher sein und uns eingestehen, dass wir heute viele Technologien oder gar eine Digitalisierungsstrategie ohne chinesische Technologie nicht umsetzen können?

Christian Glaser: Ja und ja. Es wird immer noch ganz häufig in Schwarz-Weiß-Klassifizierungen und emotional aufgeladen diskutiert und gehandelt. Wer erinnert sich noch daran, dass die NSA das Handy von Angela Merkel abgehört hat? Oder, dass Donald Trump die EU öffentlich als Feind bezeichnet hat? Solche Worte sind mir aus China nicht bekannt…

Genau an diesen Diskussionen wird deutlich, warum es so wichtig ist, dass sich Europa emanzipiert und zusammen den globalen Herausforderungen stellt. Im Buch hatte ich relativ ausführlich die Möglichkeiten der "Vereinigten Staaten von Europa", oder wie man das Ganze Gebilde auch immer nennen möchte, geschildert. Dabei ist übrigens weniger mehr. Das heißt, es sollte ein klarer Fokus auf einer einheitlichen Wirtschafts- und Finanzpolitik liegen sowie einer einheitlichen Außen- und Verteidigungspolitik. Es geht nicht um die Regulierung von Strohhalmen oder die Länge und Krümmung von Bananen. Vielmehr geht es um zentrale Themen, die dafür sorgen, dass wir als Player im Konzert der Großen ernst- und wahrgenommen werden. Die Themen liegen eigentlich alle schon längst auf dem Tisch und müssten nur noch zu einem ganzheitlichen Bild zusammengefügt werden. Weg mit dem Einstimmigkeitsprinzip, das mehr lähmt als nutzt, und hin zu einem europäischen Schnellboot, das beispielsweise die französische Force de Frappe und den Sitz im UN-Sicherheitsrat "europäisiert".

Um zurück auf Ihre Frage zu kommen: Nur ein starkes Europa, das sich bewusst ist, dass auf internationalem Parkett ein Hauen und Stechen um die Vorherrschaft stattfindet, kann die anstehenden Herausforderungen meistern. Und eine einseitige, ideologisch getriebene Abhängigkeit ist immer kritisch. Nicht umsonst legen wir im Risikomanagement immer größten Wert darauf, Abhängigkeiten transparent zu machen und in Form von Stresstests kritisch zu bewerten. Wenn, wie im Falle von Huawei, alle (Sicherheits-)Vorgaben erfüllt sind, sehe ich keinen Grund, warum wir im Zweifelsfall die Abhängigkeiten von einem Partner weiter erhöhen und nicht punktuell einen zweiten ins Boot holen sollten, um eben diese zu reduzieren.

Rechenzentrumsbetreiber weisen in Risikoanalysen immer wieder auf das Dilemma hin, dass ohne US-amerikanische Software und chinesische Hardware kein Rechenzentrum mehr gebaut werden kann. Ein Dilemma für Unternehmen in Europa, oder?

Christian Glaser: Ja! Gleichzeitig ist dies aber auch ein Produkt der Globalisierung. Und Chinas Präsident hatte dies während des Handelsstreits mit den USA einmal klar geäußert: "Solange wir Handel betreiben, führen wir keine Kriege". Heißt im Umkehrschluss: Sobald der Handel zum Erliegen kommt, ist es nur eine Frage der Zeit, bis es zu einem Krieg kommt. Die Frage ist ja immer, wer hat bei einer Auseinandersetzung wie viel zu verlieren.

Zugegeben: Der Ukraine-Krieg hat auch diese Logik etwas über den Haufen geworfen, aber ich bin weiterhin überzeugt, dass die wechselseitigen Beziehungen dafür sorgen, dass Konflikte (im Normalfall) vermieden werden. Leider bestätigen Ausnahmen die Regel.

Für uns in Europa ist es wichtig, dass wir weiterhin relevant bleiben und dass nicht die USA und China – wie am Beispiel der Rechenzentren – den Markt unter sich ausmachen. Sonst werden wir zu Vasallen der anderen beiden Großmächte.
Für Unternehmen gibt es zwar die Möglichkeit, lokal zu sourcen, dies ist aber in den wenigsten Fällen wirklich marktgängig, da die Software-Marktführer aus den USA und die günstigste Hardware aus China kommt. Bei einer lokalen Lösung erhält man also schnell mal eine teurere und weniger leistungsfähige Lösung. Da muss der Wunsch nach Autarkie schon sehr groß sein, damit dies betriebswirtschaftlich zielführend ist.

In Ihrem Buch zitieren Sie den Daimler-Nutzfahrzeuge-Chef Martin Daum mit der Aussage: "Qualität geht vor Schnelligkeit […]. Nicht die Schnellsten setzen sich durch, sondern die Besten." Eine äußerst überhebliche Aussage, wenn man die Realität der technologischen Entwicklung in China im Detail analysiert, etwa im Bereich Elektromobilität, Artificial Intelligence, großer Infrastrukturprojekte oder im Bereich der Hochgeschwindigkeitszüge. Wie lässt sich diese anmaßende Arroganz und Blindheit für die Realität erklären?

Christian Glaser: Erfolg korrumpiert und maximaler Erfolg korrumpiert maximal. In der Politik ist es meistens die Macht, in der Wirtschaft der jahrelange wirtschaftliche Erfolg. Es ist zu einem gewissen Grad auch menschlich, dass man mit der Zeit bequemer wird und immer weniger bereit, die berühmte Extrameile zu gehen. Nicht ohne Grund versuchen hocherfolgreiche Unternehmer wie Reinhold Würth oder auch Jeff Bezos ihre Unternehmen jung und unter Spannung zu halten. Das Manta von Würth ist es, die Unternehmen stets im Stadium des "Werdens" (in Anlehnung an das Alpen-Triptychon von Giovanni Segantini mit den Phasen Werden-Sein-Vergehen) zu halten und Amazon hat das Motto ausgegeben "It’s always day one".

Bei den hungrigen Startups an Tag eins im Stadium des "Werdens" ist Schnelligkeit das Wichtigste. Es geht darum, den Kunden zu bedienen. Nicht irgendwann in der Zukunft, sondern jetzt. Es geht nicht darum, sich auf den eigenen Namen und das Image zu verlassen, sondern dem Kunden seine Wünsche zu erfüllen – selbst, wenn noch gar nicht klar ist, wie die genaue Lösung aussieht. So entsteht nicht nur Zufriedenheit, sondern Begeisterung! Dies gilt für alle Bereiche und Produkte. Im Bereich der künstlichen Intelligenz, etwa dem autonomen Fahren, haben wir nun die Situation, dass der "First Mover" viel schneller eine große Menge an Datensätzen generiert und sehr schnell einen immensen Wettbewerbsvorteil erreicht, wenn er skaliert. Genau vor diesem Hintergrund zeigt sich, wie vergänglich der Ruhm vergangener Tage ist. Viele Unternehmen werden noch ihre disruptiven Uber- oder Amazon-Momente erleben, wenn sie sich lediglich auf ihrer Vergangenheit ausruhen und dabei die Kunden allzu lange dem Wettbewerb überlassen.

Denken wir doch nur an Tesla: Tesla hat sicherlich nicht das qualitativ hochwertigste Auto gebaut. Trotzdem hat das Unternehmen einen immensen Vorsprung im Bereich der E-Mobilität vor den alteingesessenen Unternehmen, was sich auch an der Marktkapitalisierung ablesen lässt. Dabei verkauft das Unternehmen viel weniger Autos als VW, Daimler oder BMW und ist auch noch von einem exzentrischen Inhaber abhängig. Das Unternehmen hat aber konsequent die Bedeutung von Schnelligkeit erkannt und geht auch sehr früh mit Lösungen an den Markt. Beim Bau in Grünheide wurde lange Zeit ohne Baugenehmigung gebaut – letztendlich kam diese. Dies war selbstverständlich ein hohes Risiko, allerdings wird eben dieses bewusst einkalkuliert.

Unternehmen, die eine Risikovermeidung anstreben mit möglichst Null Fehlern, denn nichts Anderes ist "Qualität geht vor Schnelligkeit", werden es in einem dynamischen Marktumfeld schwer haben. Wohlgemerkt: Ein gewisses Mindestmaß an Qualität ist die Voraussetzung, um erfolgreich zu sein. Vielfach wird die völlige Fehlerfreiheit zu hoch gehängt und die schnelle und flexible Reaktion auf Fehler dabei vergessen.

Wenn wir Diskussionen rund um Digitalisierung, KI und Robotik verfolgen, betrachten wir in den westlichen Gesellschaften häufig zunächst die Risiken. Demgegenüber sehen Chinesen darin neue Chancen. Wie erklären Sie sich diese ausgeprägte Angst vor der Zukunft und vor technologischen Entwicklungen?

Christian Glaser: Dies lässt sich psychologisch erklären mit einerseits einer aufstrebenden Nation, die nach ihrem Selbstverständnis wieder ihren legitimen Platz einnehmen möchte, und andererseits uns im Westen, die wir diesen Platz über Jahre hinweg hatten. Von der Spitze aus geht es nur noch nach unten. Deshalb geht es bei uns vielfach darum, sich abzusichern, zu schauen, dass keine Fehler gemacht werden, die dafür sorgen, dass wir unsere Position verlieren. Wir verwalten. Umgekehrt haben viele Chinesen nichts oder nicht allzu viel zu verlieren. Da ist es auch leicht zu erklären, dass man alles auf eine Karte setzt. Dies ist übrigens nicht nur ein kulturelles Phänomen, sondern auch in den unterschiedlichen Altersgruppen zu vernehmen. Ältere Personen sind eher risikoavers, während jüngere Menschen risikoaffin sind.

Die große Herausforderung besteht für uns darin, dass wir es schaffen, dass gerade die jungen Leute sich für die neuen Themen der Digitalisierung, KI und Robotik begeistern und eigene Unternehmen gründen. Berlin ist dabei als Startup-Hochburg auf einem guten Weg, allerdings sollte sich die Politik diesem Bereich noch viel stärker annehmen und die Rahmenbedingungen verbessern. Im Vergleich zu China haben wir hier noch deutlichen Nachholbedarf. Auch was den Bereich der Industriepolitik betrifft, in dem es zwar zarte Pflänzchen gibt, die aber noch lange nicht ausreichen, um zukünftig in diesen Bereichen erfolgreich zu sein.

Wie bewerten Sie das Risiko, dass der Westen wichtiges Know-how und Technologieführer an China verliert, da das Kartellrecht Unternehmenszusammenschlüsse erschwert oder behindert? Müsste statt dem Ziel einer Vermeidung möglicher marktbeherrschender Stellungen nicht auch das Ziel eines Schutzes vor ausländischen Wettbewerbern im Fokus stehen? 

Christian Glaser: Selbstverständlich ist das Kartellrecht an einigen Stellen reformbedürftig. Der gestoppte Zusammenschluss von Alstom und Siemens im Bereich der Hochgeschwindigkeitszüge zeigte dies sehr deutlich. Beide Unternehmen sind allein nicht mehr wettbewerbsfähig. Allerdings wird dabei auch vergessen, dass dies nur die Wirkung ist. Die Ursache liegt nicht am Kartellrecht.

China schafft Rahmenbedingungen – durch einen Mix aus staatlicher Unterstützung im Bereich der Steuergesetzgebung, Subventionen, Abschirmung von (ausländischen) Wettbewerbern sowie durch das Zusammenspiel mit anderen einheimischen Unternehmen und nicht zu vergessen durch den riesigen Absatzmarkt, der durch die Länder der neuen Seidenstraße noch viel größer wird – die nicht nur nationale, sondern globale Champions fördern.

Natürlich trifft Ihr Punkt ins Schwarze, dass nicht einseitig marktbeherrschende Stellungen betrachtet werden sollten und der Schutz vor ausländischen Wettbewerbern im Fokus stehen soll. Denn die marktbeherrschenden Stellungen sind sehr volatil.

Gleichzeitig ist der größte Hebel auch hier wieder die Innovationskraft der hiesigen Unternehmen. Anstatt mit Ge- und Verboten zu arbeiten, sollten wir Innovationen fördern. Der Auftrag an die Politik ist dabei klar: Bessere Rahmenbedingungen für mehr Innovation, was in besonderem Maße auch den Abbau von Bürokratie umfasst. Wenn die westlichen Unternehmen dann in einem Wettbewerb "gestählt" werden, müssen sie automatisch immer die besten Kundenlösungen erarbeiten und es werden sich immer die kundenorientiertesten und innovativsten Produkte durchsetzen. Dann sollte es auch kein Problem sein, sich gegen andere Wettbewerber durchzusetzen, solange die grundsätzlichen globalen (Markt-)Spielregeln eingehalten werden. Sollte China wiederum unrentable Subventionen aufrechterhalten, berauben sie sich selbst ihrer Zukunftschancen, da sie diese Mittel zielführender wiederum in Innovationsförderung hätten investieren können.

Welche Rolle spielen (internationale) Normen und Standards als geopolitisches Instrument?

Christian Glaser: Dies ist ein ganz wichtiges Feld, das auf den ersten Blick eher unsexy ist. Jahrelang war dies ein deutsches Metier, das bereits Werner von Siemens erkannte, als er feststelle: "Wem der Standard gehört, dem gehört der Markt." China ist aktuell drauf und dran, uns auf diesem Gebiet harte Konkurrenz zu machen, insbesondere entlang den Infrastrukturprojekten der neuen Seidenstraße. Spurbreiten der Eisenbahnschienen, Energieversorgung etc.: Überall spielen Normen und Standards eine wichtige Rolle, auch im Bereich des IT- und Kommunikationsumfelds.

Wir sollten diesen Bereich schleunigst wieder als wichtiges strategisches Feld erkennen und nachziehen – sowohl bei der Besetzung der internationalen Organisationen für Standardisierung und Normierung als auch bei der Aus- und Weiterbildung zukünftiger Normierungs-Experten. 

Wie bewerten Sie das Risiko einer Thukydides- und Kindleberger-Falle für die USA und China?

Christian Glaser: Puhhh… das ist ganz schwer, denn ich kann nicht in die Zukunft blicken. Die Thukydides-Falle geht auf Graham Allison, einen Harvard-Professor, zurück, der am Beispiel von Sparta und Athen den Konflikt eines Hegemonen und einer aufstrebenden Großmacht analysiert und zum Ergebnis kam, dass ein Krieg unvermeidlich ist. Er nennt dabei zahlreiche weitere historische Beispiele.

Die Kindleberger-Falle geht auf Charles Kindleberger, eine der zentralen Figuren des Marshall-Plans, zurück und hegt die Befürchtung, dass China im Gegensatz zu den USA mit steigender Macht nicht dazu beitragen wird, die internationale Ordnung zu stabilisieren, sondern sich primär autark verhält.

Es gibt für beide Theorien sehr gut Argumente. Gleichzeitig muss ich gestehen, dass ich hier – mit einer gewissen rosaroten Brille – auf das Beste hoffe: Bisher hat China zwar im Südchinesischen Meer immer wieder einzelne Militärmanöver durchgeführt, sich ansonsten aber eher auf wirtschaftlichem als auf militärischem Wege als Weltmacht etabliert. China hätte im Falle eines Kriegs auch sehr viel zu verlieren und ist sich dessen bewusst. Die Volksrepublik handelt – so zumindest meine Einschätzung und gleichzeitig auch meine Hoffnung für die Zukunft – sehr berechnend und rational. Ein Krieg, bei dem das wirtschaftliche Risikopotenzial sehr hoch ist, passt da nicht ins Bild. Denn wir dürfen nicht vergessen, dass die Legitimierung der kommunistischen Partei maßgeblich vom wirtschaftlichen Erfolg bzw. Wachstum getrieben ist. Das wirtschaftliche Wohlstandsversprechen könnte durch eine kriegerische Auseinandersetzung mit den Vereinigten Staaten erheblich leiden.

China ist außerdem mittlerweile der zweitgrößte Geldgeber der UN-Friedenstruppen und auch beim Klimawandel in einer Vorreiterrolle und unterstützt weitere UN-Projekte. Trotz aller Alternativ-Formate und -Institutionen bringt sich China immer mehr auf dem weltpolitischen Parkett ein. Dies ist auch notwendig, da sich die Vereinigten Staaten immer mehr zurückziehen. Unter Donald Trump mit großem Buhei, unter Barack Obama und Joe Biden mit der diplomatischen Etikette, die man aus der Vergangenheit kannte. 

Ob beziehungsweise inwiefern sich das Risiko der Thukydides- und Kindleberger-Falle realisiert, liegt auch zu einem gewissen Maße an uns. Wir müssen es schaffen, die Volksrepublik nicht auszugrenzen und stattdessen zu integrieren. Dies wird übrigens perspektivisch auch die große Herausforderung in Eurasien sein im Zusammenspiel mit einem Russland nach Putin. Ansonsten können einige Länder gar nicht anders als im "Club der Unerwünschten" mit China, Russland, dem Iran, der Türkei etc. sich zu verbünden. Dieses Risiko hätte auch eine immense Tragweite, wenn wir uns vor Augen führen, welche Länder entlang der neuen Seidenstraße zusätzlich eine große Nähe zu China haben. Es ist deshalb auch wichtig, dass wir eine Antwort auf die Seidenstraßen-Initiative finden. Was spricht denn dagegen, dass wir ernsthaft prüfen und Vorschläge machen, ob/wie wir uns ebenfalls in dieses Projekt einbringen können – wohlgemerkt als gesamtes Europa und dann auf Augenhöhe mit China und nicht als einzelne Nationalstaaten?!

Sie weisen in Ihrem Buch darauf hin, dass es für Europa "fünf vor Zwölf" sei. Seit Jahren sind wir in einem Krisenstakkato unterwegs (Finanzmarktkrise, Eurokrise, Migrationskrise, Brexitkrise, Coronakrise, Ukraine-/Russlandkrise, Supply-Chain-Krise, Energiekrise etc.). Und am Ende des Tages werden diese ganzen Krisen mit Geld zugeschüttet, was man nicht hat, aber "billig" über die EZB drucken kann. Wo finde ich hier eine klare politische Strategie? Wo sehe ich ein präventives Risikomanagement auf der politischen und gesellschaftlichen Ebene? Befinden wir uns nicht gerade im permanenten Krisenmodus, weil präventives Risikomanagement nicht existent war?

Christian Glaser: 100 Prozent Zustimmung. Es sind herausfordernde Zeiten, gar keine Frage und wir können auch nicht jede Krise vorhersagen. Aber darum geht es gar nicht. Vielmehr ist es inhärente Aufgabe einer vorausschauenden Politik oder allgemein eines vorausschauenden Handelns, mich mit meinen strategischen Abhängigkeiten und einem präventiven Risikomanagement zu beschäftigen.

Wenn wir mal die wichtigsten Krisen, die Sie genannt haben, anschauen, können wir konstatieren, dass wir während der Krisen meistens relativ gut davongekommen sind. Dies ist aber darauf zurückzuführen, dass wir die Wirkung mit unglaublich viel Geld eliminiert hatten. Die Ursachen wurden aber nicht behoben. Bis heute sind die Staatsschulden und die Gefahren eines Too-Big-to-Fail im Bankenumfeld nicht gelöst, es gibt immer noch keine Regelung für einen Exit eines EU-Mitglieds, es wird auch in Jahr drei der Corona-Pandemie über Basics gestritten und auch in den Themen Migration, Russland, Supply-Chain und Energieversorgung ist kein stringenter Plan erkennbar. Dies mag mit den schwierigen Mehrheitssituationen im Parlament zusammenhängen und der Situation, dass gefühlt alle paar Monate irgendwo eine wichtige Wahl ist.

Die große Schwierigkeit von präventivem Risikomanagement ist auch seine Legitimierung: Sind wird deshalb so gut durch die Krise gekommen, weil wir ein gutes Risikomanagement hatten bzw. ist das Risiko deshalb gar nicht erst aufgetreten? Im ersten Schritt lässt sich viel leichter ein gewisser Mehraufwand oder erhöhter Kostenfaktor messen, der mit präventivem Risikomanagement vielfach zusammenhängt. Da schrecken die Entscheidungsträger schnell zusammen und verschließen die Augen in der Hoffnung, dass doch wieder alles gut geht.

Die Politik ist auch abhängig vom Volkeswillen. Wenn über die genannten Krisen nicht mehr gesprochen wird, ist es auch nicht so sehr en vogue, diese zu bekämpfen. Denken wir an die Agenda 2010, als letztmalig ein großes strategisches Projekt mit erheblicher Tragweite umgesetzt wurde, um das Problem der Wettbewerbsfähigkeit/Arbeitsmarktflexibilität zu lösen: Anschließend wurde die SPD jahrelang abgestraft und Gerhard Schröder verlor seine Kanzlerschaft. Dies ist vielleicht auch ein Grund, aus Risikovermeidung (also persönlicher Risikovermeidung der handelnden Personen) eher am Status-quo festzuhalten als weitreichende Reformen und Umstrukturierungen vorzunehmen.

Wie müsste aus Ihrer Sicht eine europäische Strategie aussehen, um im Konzert der Weltmächte USA und China ernstgenommen zu werden?

Christian Glaser: Wir müssten in erster Linie die behäbigen Entscheidungsprozesse beschleunigen, weg vom Einstimmigkeitsprinzip. Dann, wie bereits vorhin ausgeführt: weniger ist mehr mit einem klaren Fokus auf die zentralen Bereiche der Finanz- und Wirtschaftspolitik und der Außen- und Verteidigungspolitik. Die Themen Nachhaltigkeit und auch Digitalisierung sind Querschnittsthemen, die unter anderem im Wirtschaftsbereich eine wichtige Rolle spielen.

Wir müssten uns gleichzeitig auch emanzipieren. Dies heißt: Nicht mehr blinde Gefolgschaft der USA und gleichzeitig pauschale Ablehnung Chinas, sondern inhaltliche Auseinandersetzung der Punkte und auch konstruktive Gegenvorschläge. Wir sollten uns auch stärker auf Eurasien konzentrieren. Der langjährige Sicherheitsberater von Jimmy Carter, Zbigniew Brzezinski, sprach nicht umsonst davon, dass derjenige, der Eurasien beherrsche, die globale Vorherrschaft einnehme.

Außerdem sollten wir unsere Entwicklungspolitik kritisch hinterfragen und gerade auch im Wettstreit mit Chinas alternativem Ansatz der neuen Seidenstraße vergleichen. Wir sollten auch bereit sein, langjährig etablierte Prozesse und Entwicklungen zu prüfen und anzupassen, wenn wir sehen, dass dies nicht zielführend ist.

Und zu einer europäischen Strategie gehört natürlich insbesondere auch ein wirtschaftlicher Master-Plan: Was sind im Jahr 2030, 2040 und 2050 unsere gewünschten Fokusbereiche? Welche Branchen sollten gezielt unterstützt werden? Welche kritischen Partner und Produkte gibt es entlang der Supply Chain, die wir auf jeden Fall sichern müssen? – Hier können wir noch sehr viel von der Volksrepublik lernen!

Die geopolitische Welt befindet sich in einem massiven Erosionsprozess. Welche Szenarien sehen Sie hier für die Zukunft? 

Christian Glaser: Wir müssen uns darauf einstellen, dass es unruhiger wird. Aufstrebende Nationen sind nicht länger bereit, immer kleinbeizugeben und treten selbstbewusster auf. Denken Sie nur an den philippinischen Präsidenten Duterte, der Barack Obama einen "Hurensohn" nannte oder die chinesischen Wolfskrieger-Diplomaten. Auch der scheidende ukrainische Botschafter Melnyk, der Kanzler Scholz eine "beleidigte Leberwurst" nannte, sorgte für Aufsehen und bekam eine große mediale Aufmerksamkeit. Wichtig ist, dass wir hierbei besonnen bleiben und es nicht "trumpesk" zu einem verbalen Wettbieten kommt – exemplarisch als sich dieser mit "Little Rocketman" Kim Jong-un einen heftigen Schlagabtausch lieferte. Die Gefahr solcher Scharmützel ist immer, dass sie den Weg zur notwendigen Diplomatie und konstruktiven Zusammenarbeit verschließen. Gerade im Umgang mit China ist dies sehr wichtig.

Um zurück zur Frage zu kommen: Wir sehen, dass sich die Vereinigten Staaten immer stärker aus den internationalen Bündnissen und Strukturen zurückziehen. Der Truppenabzug aus Afghanistan im letzten Jahr ist nur eines von vielen Beispielen. Die Welt ist im Umbruch und wird dadurch anders – ob sie unsicherer wird, wird sich zeigen und liegt an den einzelnen Ländern. Es ist aber auch eine Chance, dass die jeweiligen Länder emanzipierter werden und die Vereinigten Staaten nicht mehr die alleinige Last tragen.

Es werden sich dadurch neue Bündnisse und Allianzen ergeben. Vermutlich auch fragilere und weniger formale Zusammenschlüsse. Es dürfte auch vielmehr auf inhaltlicher Ebene Kooperationen geben. Denkbar ist etwa, dass wir im Klimaschutz stärker mit China und weniger mit den USA zusammenarbeiten und umgekehrt im Bereich des Freihandels stärker mit den USA als mit China. Auch wird spannend zu beobachten sein, wie sich die Bande entlang der Seidenstraße entwickeln. China befindet sich dabei auch in einer komplizierten Situation, denn es hat nicht automatisch die Freundschaft der Teilnehmer durch die wirtschaftliche Abhängigkeit "gekauft". Aktuell wird mit Argusaugen darauf geblickt, wie der Staatsbankrott von Sri Lanka die Beziehungen zu China verändert bzw. ob China als wohlwollender Gläubiger auftritt oder harte Kante zeigt. Die Volksrepublik hat bisher auch seine Allianzen hauptsächlich auf wirtschaftlicher Abhängigkeit begründet und weniger als die USA und der Westen auf Basis gemeinsamer Interessen – vielfach unabhängig der wirtschaftlichen Faktoren. 

Ich bin davon überzeugt, dass hier noch einige spannende Entwicklungen und neue Szenarien dazukommen werden. Was sicher sein dürfte ist, dass die weltpolitische Bühne schneller, dynamischer und auch unberechenbarer werden wird. Und genau deshalb ist es für jeden guten Risikomanager umso wichtiger, dass wir uns mit diesen zentralen Einflussfaktoren für unser aller Alltag – egal ob politisch oder wirtschaftlich – beschäftigen und unsere Risikoeinschätzung regelmäßig anpassen.

[Die Fragen stellte Frank Romeike, geschäftsführender Gesellschafter RiskNET GmbH]

 

Dr. Christian Glaser ist promovierter Risikomanager und als Generalbevollmächtigter der Würth Leasing GmbH & Co. KG tätig. Er ist außerdem Dozent an mehreren Hochschulen und Buchautor mehrerer Fachbücher sowie zahlreicher Fachveröffentlichungen in den Bereichen Finanzdienstleistungen, Unternehmensführung und Management, Controlling sowie Risikomanagement.

Christian Glaser (links) im Dialog mit Frank RomeikeChristian Glaser (links) im Dialog mit Frank Romeike

[ Bildquelle Titelbild: Adobe Stock.com / Feydzhet Shabanov ]
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