Der unterschätzte Lieferkettenkollaps

Potenzielle Systemkrise Blackout


Potenzielle Systemkrise Blackout: Der unterschätzte Lieferkettenkollaps Kolumne

Das Risiko und die schwerwiegenden Folgen eines europaweiten Strom-, Infrastruktur- und Versorgungsausfalls ("Blackout") werden weiterhin unterschätzt. Einige Betrachtungen berufen sich auf die fehlende Evidenz und vernachlässigen dabei die steigende Fragilität, die in den vergangenen Monaten weiter zugenommen hat. In der Sicherheitspolitischen Jahresvorschau 2020 und 2021 wurden mögliche Auswirkungen eines Blackouts erörtert. Die getroffenen Aussagen sind weiterhin vollinhaltlich gültig. Zusätzlich wird das Szenario Strommangellage ("Strommangelbewirtschaftung") realistischer, da die Kapazitäten für eine verlässliche Stromversorgung quer über Europa reduziert werden.

Zwei Großstörungen im Jahr 2021

Im Jahr 2021 kam es im europäischen Verbundsystem zu zwei Großstörungen, die zu weitreichenden Netzauftrennungen führten. Am 8. Januar 2021 führte eine Überlastung in einem kroatischen Umspannwerk zum Ausfall von 14 Knotenpunkten quer über den Westbalkan. 

Am 24. Juli 2021 löste ein Flächenbrand unter einer Hochspannungsleitung in Frankreich eine Kaskadenreaktion aus, die zur Abtrennung der Iberischen Halbinsel vom kontinentaleuropäischen Verbundsystem führte. In Spanien und Portugal mussten rund zwei Millionen Kundinnen und Kunden vom Stromnetz getrennt werden, um ein Blackout auf der Iberischen Halbinsel zu verhindern. In beiden Fällen konnte die Großstörung nach etwa einer Stunde behoben werden, was eine hervorragende Leistung war. Am 17. Mai 2021 kam es zu einem weiteren schwerwiegenden Zwischenfall in Polen, der ebenfalls sehr gut bewältigt werden konnte.

In den letzten Jahrzehnten gab es jedoch nur drei weitere derartige Großstörungen. Daher sollte immer wieder die Aussage der europäischen Übertragungsnetzbetreiber im Abschlussbericht zum Blackout in der Türkei im Jahr 2015 – der dritten Großstörung – ins Bewusstsein gerufen werden:

"A large electric power system is the most complex existing man-made machine. Although the common expectation of the public in the economically advanced countries is that the electric supply should never be interrupted, there is, unfortunately, no collapse-free power system."

Im Gegensatz zu vielen anderen Sektoren gibt es nach solchen Ereignissen einen umfassenden "Lessons-Learned-Prozess". Dennoch gibt es keine hundertprozentige Sicherheit, wie auch immer wieder betont wird. In letzter Konsequenz geht es bei derartigen HILP-Events (High Impact Low Probability) nicht um den tatsächlichen Eintritt, sondern um das Schadenspotenzial. Die dadurch gebotene Vorsorge darf sich jedoch nicht nur auf den Stromsektor beschränken, sondern muss gesamtgesellschaftlich erfolgen.

Steigende Strompreise

Ab Sommer 2021 kam es zu massiven Preissteigerungen auf den europäischen Strommärkten, die sich auch im Jahr 2022 und darüber hinaus fortsetzen dürften. Während sich 2020 die Preisspanne noch zwischen 20 und 50 Euro pro Megawattstunde bewegte, stieg diese ab Herbst 2021 mit einer sehr hohen Volatilität auf 100 bis 300 Euro.

Auslöser sind unter anderem deutlich gestiegene Gas-, Kohle- sowie CO₂-Preise und sinkende Produktionskapazitäten. Weitere Preissprünge sind mit der weiteren Abschaltung von deutschen Atom- und Kohlekraftwerken bis Ende 2022 zu erwarten, da die fehlende Leistung auch mit Gaskraftwerken ersetzt werden muss. Gleichzeitig waren die europäischen Gaslagerstätten bereits im Herbst 2021, insbesondere in Deutschland und Österreich, unterdurchschnittlich gefüllt.

Krisenpotenzial Gasversorgung

Mögliche Gasversorgungsprobleme könnten im Frühjahr 2022 zu erheblichen Versorgungsproblemen führen, da Gas vor allem in der Lebensmittelproduktion eine wichtige Rolle spielt. Zudem wird in Österreich im Winter sehr viele Strom aus Gaskraftwerken produziert.

Dieses Problem könnte durch eine Eskalation der politischen Krise in Belarus oder der Ukraine zusätzlich verschärft werden. Die hohen und steigenden Energiepreise werden sich zudem auf die gesamte Wirtschaft und damit mittelfristig auch auf die Versorgung der Bevölkerung negativ auswirken. Auch die Inflation wird damit weiter angeheizt.

Unterschätzte Lieferkettenprobleme

2021 kam es durch unterschiedliche Ereignisse zu zahlreichen Lieferkettenproblemen. So mussten etwa durch eine Strommangellage in Texas im Februar 2021 mehrere Chipproduktionsanlagen den Betrieb einstellen. Der Wiederanlauf dauerte zum Teil mehrere Monate. In Asien kam es durch Wasserknappheit, die COVID-Pandemie oder durch Strommangellagen zu weitreichenden Lieferkettenunterbrechungen. Auch die Blockade des Suezkanals durch das Frachtschiff "Ever Given" im März 2021 und der LKW-Fahrermangel in immer mehr Ländern führten zu Problemen in den Logistikketten.

Während die aktuellen Verwerfungen in den globalen Lieferketten durch Einzelereignisse ausgelöst wurden, würde es bei einem Blackout zu einem weitreichenden und chaotischen Ausfall der europäischen Produktionsanlagen und Lieferketten mit globalen Auswirkungen kommen.

Ableitungen

Aus heutiger Sicht ist nicht absehbar, wie lange der Wiederanlauf und die Resynchronisierung der Logistik nach einem Blackout dauern wird. Die Auswirkungen eines Blackouts auf die Grundversorgung der Bevölkerung mit lebenswichtigen Gütern und Dienstleistungen wären jedoch katastrophal, und dessen längerfristige Folgen werden weitgehend unterschätzt.

Viele Blackout-Vorbereitungsmaßnahmen konzentrieren sich nach wie vor nur auf den Stromausfall (Stichwort: Notstromversorgung). Es wäre jedoch zwingend eine koordinierte Vorgangsweise zur Abfederung der erwartbaren und länger andauernden Versorgungsunterbrechungen erforderlich. Diese beginnt bei der Eigenbevorratung der Bevölkerung sowie bei der vorbereiteten und geordneten Abgabe von verderblichen Waren und dem Schutz der Verkaufseinrichtungen vor Zerstörungen und geht bis zu einer vorbereiteten Rationierung und Notversorgung.

Kernaussagen

1. Das Risiko und die schwerwiegenden Folgen eines europaweiten Strom-, Infrastruktur- und Versorgungsausfalls ("Blackout") werden weiterhin unterschätzt und auf die leichte Schulter genommen.

2. Dabei geht es weniger um eine konkrete Vorhersage, die bei einem HILP-Event (High Impact Low Probability) nicht evidenzbasiert möglich ist, als um die schwerwiegenden Folgen, die eine gesamtgesellschaftliche Vorsorge gebieten.

3. Ein Blackout hätte einen weitreichenden und chaotischen Ausfall der europäischen Produktionsanlagen und Lieferketten mit globalen Auswirkungen zur Folge.

4. Eine koordinierte gesamtstaatliche Vorgangsweise zur Abfederung der zu erwartenden und länger andauernden Versorgungsunterbrechungen ist zwingend geboten.

Autor

Herbert Saurugg ist internationaler Blackout- und Krisenvorsorgeexperte und Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Krisenvorsorge (GfKV). Er beschäftigt sich seit 10 Jahren als ehemaliger Berufsoffizier mit der steigenden Komplexität und Fragilität lebenswichtiger Infrastrukturen und betreibt dazu einen umfangreichen Fachblog

 

[ Bildquelle Titelbild: Adobe Stock.com / Jacqueline Weber ]
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