Vorbeugen ist besser als Heilen - diese universelle Wahrheit hat ihre Gültigkeit in nahezu allen Lebensbereichen. Die Kosten eines eingetretenen Schadenfalls übersteigen fast immer die Kosten der Prävention. Ob Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Unfälle, Terroranschläge oder Finanzkrisen – allen ist gemein, dass aktives Bemühen sinnvoll ist, um den Eintritt des Schadenfalls zu verhindern.
Aktuell führt uns die Corona-Pandemie mit ihren immensen Folgekosten und dem zugleich meist unbeholfenen, oft konfusen und wenig wirksamen Krisenmanagement vor Augen, wie wichtig ein besseres Vorbereitsein gewesen wäre. Die Kosten wirksamer Vorbeugung rechnen sich.
Klar ist: Hinterher ist man immer schlauer und nachträgliche Ratschläge wirken fast immer auch wohlfeil. In den USA spricht man vom "Monday Morning Quarterback", der am Morgen nach dem Football Spiel ganz genau weiß, wie der Spielzug hätte besser ausgeführt werden müssen.
Andererseits darf man als Steuerzahler in einem Land mit sehr hoher Steuer- und Abgabenlast durchaus erwarten, dass die üppigen Einnahmen deutscher und europäischer Steuerkassen auch für ein Mindestmaß an öffentlicher Krisenvorsorge genutzt werden. Corona hat uns dabei in vielfacher Hinsicht eines Besseren belehrt.
Vorbereitung statt Prognose
Befremdlich wirkt in der Rückschau, dass jenen, die frühzeitig vor der Pandemie warnten und Präventivmaßnahmen einforderten, Alarmismus unterstellt wurde. Schnell wurden Mahner als Panikmacher oder gar Verschwörungstheoretiker klassifiziert. Die Nutzung von Masken wurde als unnütz verworfen, das Fiebermessen an Flughäfen als ausreichende Schutzmaßnahme angesehen.
Gerade diejenigen, die in verantwortlicher Position waren und zu deren Aufgabenspektrum es gehört hätte, Vorsorge zu treffen für das Eintreten eines Pandemieereignisses, verweisen mit Blick auf Corona nun gern auf einen "Schwarzen Schwan", quasi ein Naturereignis von höherer Gewalt, welchem man hilflos ausgeliefert war. Damit machen sie es sich zu leicht, in der Hoffnung, von eigener Verantwortung abzulenken.
Den Begriff "Schwarzer Schwan" prägte Nassim Taleb im Jahr 2007 mit seinem gleichnamigen Bestseller. Er referenziert auf ein Ereignis, dessen Eintritt nicht nur selten und höchst unwahrscheinlich, sondern auch unvorhersehbar ist und gravierende Folgewirkungen hat. Mit dieser Definition wird klar, dass eine Pandemie nicht als "Schwarzer Schwan" gelten kann. Taleb selbst argumentierte, eine Pandemie sei im Gegenteil ein bekanntes Risiko, welches irgendwann mit Gewissheit eintreten würde, ein "weißer Schwan" also. Auf einen "weißen Schwan" nicht vorbereitet zu sein, sei aber nicht entschuldbar.
Generell ist es nach Taleb entschuldbar, ein Risikoereignis nicht korrekt vorherzusagen, nicht aber, Systeme zu konstruieren, die gegenüber dem Eintreten des Ereignisses fragil sind. Viel zu sehr wird in westlichen Gesellschaften versucht zu prognostizieren – auch außerhalb des Prognostizierbaren. Viel wirkungsvoller wäre es indes, vorbereitet zu sein. Mit entsprechender Prävention träte Resilienz an die Stelle von Fragilität.
Unzureichende Planung
Ein Blick in die Geschichte hätte eine bessere Vorbereitung / auf die Corona-Pandemie ermöglicht. Die letzte große Pandemie von 1918, die Spanische Grippe, bietet reiche Informationen zu wirksamen Eindämmungsmaßnahmen und Behandlungsansätzen. In einer zunehmend globalisierten Welt mit steigender Eintrittswahrscheinlichkeit sogenannter Zoonosen (Übergänge von Infektionskrankheiten von Tieren auf Menschen) wäre es grundsätzlich sinnvoll, Notfallpläne vorrätig zu halten, die ein rasches Eindämmen neuartiger Krankheitserreger ermöglichen. Das konfuse Agieren zu Beginn der Corona-Pandemie zeigt deutlich, dass solche Pläne nicht vorlagen. Zudem wurde fahrlässig lange Karneval gefeiert und Einreisen aus Infektionshotspots wie China oder dem Iran zugelassen.
Effektive Notfallpläne würden auch sicherstellen, dass Intensivbetten, Geräte und Personal in Krankenhäusern nicht zum Engpass werden. Die drohende Überlastung intensivmedizinischer Kapazitäten wäre dann nicht der Grund, die gesamte Gesellschaft herunterfahren zu müssen – mit all den Folgekosten. Dass Backup-Kapazitäten im Gesundheitswesen für Corona, aber auch für andere denkbare Katastrophen nicht verfügbar sind, zeugt von grober Fahrlässigkeit und schwerwiegenden Versäumnissen in der Risikoprävention.
Effektive Notfallpläne wären enger verzahnt mit Erkenntnissen aus Forschung und Innovation. Ein Jahr nach Beginn der Pandemie ist erstaunlich wenig bekannt über das Virus an sich, dessen Verbreitungswege und Methoden, die seine Verbreitung effektiv hindern. Daher wird mit Holzhammermethoden wie Lockdowns oder Schulschließungen operiert. Lange wurde dogmatisch auf Abstandregeln gepocht. In geschlossenen Räumen, so die spätere Erkenntnis, nützen Abstände wenig, wenn sich doch Aerosole als Virenträger über Stunden in der Luft halten und jeden Abstand überwinden. Weit wirksamer als Masken, Abstand und schlussendlich doch Komplettschließungen von Schulen wäre möglicherweise der rasche, flächendeckende Einsatz von Luftfiltertechnik gewesen, der einen normalen Weiterbetrieb der Schulen außerhalb von "Hot Spots" möglichgemacht hätte.
Erstaunlich auch die Erkenntnis aus Januar 2021, dass nach Auftreten der Coronavirus-Mutationen in Südafrika und Großbritannien praktisch keinerlei Wissen über die Verbreitung dieser neuen Stämme in Deutschland bestand, weil eine entsprechende Sequenzierung nicht im erforderlichen Umfang vorgenommen wird. Zu erwarten wäre, dass Pandemie-Notfallpläne die fortlaufende Analyse des Virus-Verhaltens vorsehen. Auch hier scheint es fahrlässig, wenn entsprechende Tracking-Verfahren zu Mutationen, die eine Selbstverständlichkeit sein sollten, vernachlässigt werden. Schließlich ist es ein zentrales Risiko, inwieweit es künftigen Virusmutationen gelingen kann, eine erfolgreiche Evolution vorbei an den bislang entwickelten Impfstoffen zu betreiben.
Noch viel erstaunlicher ist die Nichtnutzung der gesicherten Erkenntnis, dass UV-C Strahlung das Virus zuverlässig tötet. Ein flächendeckender Einsatz von UV-C Lampen zur Desinfektion von Flächen und Raumluft würde gerade im öffentlichen Bereich einen Weiterbetrieb von Schulen, Universitäten, Hotels, Restaurants ermöglichen, den öffentlichen Nahverkehr sicherer machen und ganz generell die Weiterverbreitungsmöglichkeit des Virus wirksam bremsen. Der Nutzen solcher UV-Lampen ist nicht nur auf das Corona-Virus beschränkt, die UV-C-Strahlung würde zusätzlich auch weitere pathogene Bakterien und Viren eliminieren und die hohen volkswirtschaftlichen Kosten übertragbarer Krankheiten senken.
Ein naheliegender Einsatzbereich dafür wären vor allem auch Krankenhäuser. Es ist zwar lange bekannt, dass multiresistente Erregerdort jedes Jahr für Infektionen und Todesfälle weit oberhalb der Corona-Sterbefälle sorgen. Dieser Tragik standen Politik und Gesellschaft aber bislang weitgehend gleichgültig gegenüber. Aktuellen MRSA-Keime und künftig wahrscheinlichen Bakterienstämmen, die Resistenzen gegenüber Antibiotika entwickeln, könnte mit entsprechender Technik zumindest partiell beigekommen werden. Auf den flächendeckenden Einsatz von UV-C Technik in Krankenhäusern zur Bekämpfung von Krankenhauskeimen zu verzichten, ist kaum nachvollziehbar.
Im Reich der Bakterien schlummern vermutlich schon heute die nächsten "weißen Schwäne". Der unverantwortliche Umgang mit Reserveantibiotika in der Tierzucht oder die problematischen hygienischen Zustände im Umfeld von Pharmaproduktionsstätten in Indien zählen zu möglichen Ursprüngen kommender, hochgefährlicher Bedrohungen der Menschheit.
Aus einer nötigen Fehleranalyse im operativen Corona-Risikomanagement, nachdem die Pandemie bereits da war, lässt sich – so kann man nur hoffen – einiges an Erkenntnis gewinnen, was man in einer nächsten globalen Epidemie nicht tun sollte: u.a. "Reiserückkehrer" aus Risikogebieten test- und bedenkenlos den ganzen Sommer 2020 über einreisen lassen, Partys mit mehreren hundert Teilnehmern tolerieren oder eben insgesamt konfuse, späte, hektische, widersprüchliche Maßnahmenbündel zu lancieren, weil vorher ein durchdachtes Konzept für den Notfall gefehlt hat. Als wenig hilfreich stellte sich einmal mehr heraus, aus ideologischen Gründen immer wieder auf "europäischen Lösungen" zu beharren, wenn es an der Zeit gewesen wäre, entschlossen und pragmatisch vor Ort zu handeln.
Ungenügende Anreize
Wichtig ist nun, der Frage auf den Grund zu gehen, warum im Fall von Corona und auch in vielen anderen Fällen keine Vorsorge getroffen wird. Schnell landet man bei ungenügenden oder asymmetrischen Anreizfunktionen. Im Falle multiresistenter Krankenhauskeime liegt ein mögliches Dilemma auf der Hand: Hygienemaßnahmen zur wirksamen Vorbeugung kosten Geld, denen kein Ertrag in Form von Fallpauschalen gegenübersteht. Die Vernachlässigung entsprechender Hygienekonzepte erhöht den Profit, während die Schäden (infizierte Patienten) zwar da sind, beim Verursacher aber meist keine direkt zurechenbaren Kosten auslösen.
Hinsichtlich der Coronakrise gilt ähnliches: Die intensive Vorbereitung auf den theoretischen, hypothetischen Fall einer globalen Pandemie hätte messbare Kosten verursacht. Die Zahlungsbereitschaft für solche "Versicherungsprämien" ist gering, wenn die Eintrittswahrscheinlichkeit des Versicherungsereignisses als zu gering eingeschätzt wird oder aber den handelnden Personen kein erkennbarer Nutzen aus der Vorsorge erwächst. Ein Nutzen wäre beispielsweise dann erkennbar, wenn im Fall unzureichender Krisenvorsorge aus dem Eintritt des Schadenfalls auch Konsequenzen resultieren würden.
Gesundheitsbehörden, Politik und öffentliche Verwaltung, deren Aufgabe eine entsprechende Prävention ist, setzen aber ihre eigene Haut meist nicht auf Spiel: Sie haben kein "skin in the game" – die Folgekosten der Pandemie fallen nicht bei jenen an, die unzureichende Vorsorge getroffen haben. Die Gewinne, nämlich eingesparte Kosten und Zeit der nichterfolgten Vorbeugung, meist schon.
Privatisierte Gewinne und vergesellschaftete Verluste
Das Grundproblem privatisierter Gewinne und sozialisierter Verluste ist häufig der Kern schlecht konstruierter Systeme und folgenschwerer Unfälle. Auch das Finanzsystem ist nach genau diesem Prinzip konstruiert. Das ganze Schadensmaß zeigte sich dann in der Finanzkrise 2008-09, als Banken mit gigantischen Summen an Steuergeldern gerettet werden mussten. Gehen Bankmanager Risiken ein, die für sie laufen, streichen sie üppige Boni ein. Gehen ihre Wetten schief, zahlt die Allgemeinheit. Leider wurde es versäumt, aus der Finanzkrise die notwendige Konsequenz zu ziehen: dass sich ein sogenanntes "too big to fail" nicht wiederholen darf und dass private Akteure nicht noch einmal in der Lage sein dürfen, den Steuerzahler und die gesamte Gesellschaft in Geiselhaft nehmen. Doch hat sich an der Architektur des Systems wenig geändert. Bedingt durch die Regulierungsvorgaben sind Banken größer statt kleiner geworden, bewährte, dezentrale Systeme, wie die deutschen Genossenschaftsbanken werden in Fusionen und damit in größere und damit anfälligere Einheiten gezwungen. Das Grundproblem wurde nie repariert.
Heute betreibt die Finanzwirtschaft zwar einen hohen Aufwand, um Finanzmarktrisiken zu messen, zu antizipieren und zu vermeiden und zur Risikomessung wurden komplexe Systeme und weitreichende Reportingpflichten geschaffen. Doch diese Instrumente sind wenig tauglich, um künftige Krisen vorherzusehen und deren mögliches Schadensmaß realistisch zu messen. Die auf Normalverteilungsannahmen basierenden Risikosysteme sind blind gegenüber prospektiven Risiken, wie die Finanzkrise 2008 gezeigt hat. Die unrealistische Annahme der Normalverteilung kann per Definition echte "schwarze Schwäne" nicht korrekt erfassen. Die Value-at-Risik basierten Instrumente sind ein bloßer Blick in den Rückspiegel, sie empfehlen, die Geschwindigkeit zu reduzieren, wenn der Unfall passiert ist.
Keine Entscheidungskompetenz ohne Haftung
Ein naheliegender, aber oft verworfener Lösungsansatz zur besseren Vorbeugung großer gesellschaftlicher Krisen wäre ein deutlich erweitertes Haftungsprinzip. Wo weitreichende Entscheidungsbefugnisse nicht mit Haftungselementen zusammenfallen (man denke insbesondere auch an die Politik!), sind unverantwortliches Handeln und weitreichende Schäden mit sozialisierten Kosten nicht weit.
Wer innerhalb des eigenen Verantwortungsbereichs nachweislich ein erwartbares Maß an Schadensvorsorge unterlässt oder fahrlässig versäumt, müsste eben auch bei Eintritt von Schadensfällen zu einer Beteiligung herangezogen werden. Ein vollkommenerer Marktansatz würde viele Probleme nicht lösen, aber dafür gar nicht erst entstehen lassen. Sehr konkret würde eine Gesellschaft wohl besser funktionieren, wenn Haftung einher gehen würde mit konkreten Preisen für Externalitäten, sowohl positiver als auch negativer Natur. Ganz neue Märkte würden geschaffen, etwa für Ausgleichszahlungen. Neuartige Innovationen im Bereich von Versicherungslösungen (etwa analog zu heute bestehenden Managerhaftpflichtversicherungen) würden zeigen, dass marktwirtschaftliche Instrumente, nicht staatlicher Dirigismus, zum gesamtgesellschaftlichen Besseren beitragen.
Der Risikotransfer weg von der Allgemeinheit hin zu einzelnen Verantwortlichen ließe robustere, resilientere Systeme entstehen. Seltener würde die Fahrlässigkeit Einzelner zu großen Katastrophen führen. Es gilt, intelligente Lösungen zu finden, die dazu beitragen, dass das Fehlverhalten Einzelner nicht zu Schäden von gigantischem Ausmaß führen können. Man denke an die gewaltigen Schäden in Folge der Explosion im Hafen von Beirut im August 2020 (paradoxerweise im Heimatland von Nassim Taleb). Eine bessere Risikokultur entlang der Entstehung der Fehlerverkettung hätte die Katastrophe womöglich vermieden.
"Skin in the game", im positiven wie im negativen Sinne, kann eine wesentliche Voraussetzung sein. Wer fahrlässig gegenüber anderen und der Allgemeinheit handelt, haftet. Wer als nachweislich Corona-infizierter "Super Spreader" in Diskotheken andere ansteckt, haftet für direkt zuordenbare Folgekosten (oder aber dessen erweitere Haftpflichtversicherung, welche heute in dieser Form noch nicht existiert). Wer in der Pandemie Karnevalssitzungen veranstaltet – oder diese genehmigt oder nicht untersagt - haftet. Wer es versäumt, innerhalb seiner Verantwortung Vorsorge für erwartbare Zukunftsrisiken zu treffen haftet für den jeweiligen Schadenfall. Wer "am Steuer des Schulbusses schläft", wie Taleb es bezeichnet, wird künftig keinen Schulbus mehr fahren.
So ist zu hoffen, dass Corona zumindest als "Wake-up Call" dient, uns besser mit möglichen Zukunftsrisiken zu beschäftigen und mit Elementen von "Skin in the game" eine bessere Risikovorsorge zu ermöglichen.
Prinzip Hoffnung
Leider war bis Corona die vorherrschende Grundmentalität der Gesellschaft allzu oft ein naives, ignorantes "wird schon gutgehen". Die Bereitschaft, Risiken zu durchdenken, zu erkennen und vorzubeugen war gering.
In unterschiedlichen Lebensbereichen werden fragile Systeme oft so lang toleriert oder billigend in Kauf genommen, bis etwas passiert. Erst wenn ein beobachtbarer Schaden eintritt, werden Konsequenzen gezogen, so das Muster von Lebensmittel- bis Finanzskandalen. Mangelnde Risikovorsorge ist auch Folge eines gesellschaftliches Mindsets: Es paaren sich fehlendes Verlangen nach Autarkie mit fehlender "Ownership", dem geringen Verantwortungsbewusstsein für potenzielle Risiken. Eine Grundhaltung, die bestenfalls optimistisch-naiv anmutet, realistisch aber eher ein "wird schon gutgehen"-Grundkonsens ist, der aus fehlenden Krisenerfahrungen der nach 1950 geborenen Wohlstands- und Überflussgesellschaft entspringt.
Ein generelles Vorsichtsprinzip schien in eben dieser hedonistischen Spaß- und Konsumgesellschaft bis Corona fast schon verpönt. Skeptiker galten als Spielverderber. Die Bereitschaft, Redundanzen, Reserven, Notfallplanungen vorzuhalten war gering – und noch geringer, wenn Kosten damit verbunden waren. Auf individueller Ebene sahen sich Bürger, die sich mit Ernst- und Krisenfällen beschäftigten, als "Prepper" verunglimpft oder gar in die Nähe von Reichsbürgern und Verschwörungstheoretikern gerückt, obgleich selbst die Bundesregierung eine Vorratshaltung für Krisenfälle und Katastrophen offiziell empfiehlt.
Vermutlich kann ein Großteil des Mindsets und des Verantwortungs-Outsourcings als erwartbare Folge der immer weiteren Zurückdrängung der Eigenverantwortung durch den Nanny-Staat zugeschrieben werden. Die Regelungs-, Betreuungs- und Interventionswut der westlichen Wohlfahrtsstaaten entmutigt strukturell verantwortungsvolles Verhalten und ermutigt tendenziell verantwortungsloses Verhalten. Sei es in der Sozialgesetzgebung, im Steuerrecht oder immer weiter ausufernden Regulierungen des Wirtschafslebens: Die gesetzten Anreize wirken entgegen eines selbstbestimmten, eigenverantwortlichen Verhaltens.
Ein folgenschwerer Beschleuniger ist die EZB, die mit ihrer Negativzinspolitik und Gelddruckerei verschiedenste Formen des Moral Hazards förmlich befeuert. Der "Bail out" von Staaten und Unternehmen führt in eine Zombifizierung der Wirtschaft. Überall da, wo Eigenverantwortung, Haftungsprinzip und Marktwirtschaft außer Kraft gesetzt werden, folgt über kurz oder lang der Schlendrian: Falsche Anreizstrukturen führen zur Fehlallokation von Kapital, aber auch zur Fehlallokation von Zeit, Aufmerksamkeit, Ideen, Gedanken und Kreativität. Sie demotivieren Verantwortungsübernahme und setzen "nach mir die Sintflut" Einstellungen frei. Sorglosigkeit und Aufschub unangenehmer, Kosten verursachender Zukunftsvorsorge dominiert viele Lebensbereiche. Immer wenige vorausplanende "Ameisen" sorgen so lange für die Vielzahl der spielenden und musizierenden "Grillen" mit vor, wie das immer risikoanfälliger werdende System den Eintritt eines spezifischen Risikos vermeiden kann.
Risiken durchdenken
Erfolgreiches Risikomanagement erfordert, prospektive Risiken durchdacht zu haben – ein aktiver Prozess. Leider muss vermutet werden, dass nicht nur das Risiko "Pandemie" nicht oder schlecht durchdacht war. Für zahlreiche andere erwartbare, wie unerwartbare Risiken ist in westlichen Staaten vermutlich gleichermaßen schlecht oder nicht vorgesorgt. Der einstige US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld nahm einst die treffende Risikoklassifizierung vor, als er von "Known Knowns", "Unknown Knowns" und "Unknown Unknowns" sprach. Während die Vorbereitung auf letztgenannte schwierig ist, sind "Know unknowns" Risiken, deren Existenz und potenzielle Gefahren zumindest grundsätzlich bekannt sein können. Dennoch sind sie meist unterrepräsentiert in ihrer gesellschaftlichen Bedeutung und Wahrnehmung. Folglich ist auch eine zu geringe Risikoprävention beklagen. Zwei solcher Risiken sollen beispielhaft diskutiert werden:
Klimarisiken
Im Jahr 1815 kam es zu einer der gewaltigsten Eruption der Neuzeit, als der indonesische Vulkan Tambora ausbrach. Die Folgen waren global spürbar. Rund um den Globus verteilten sich Ascheteilchen in der Atmosphäre und führten auch in Europa zur Sonnenverdunkelung und einem "Jahr ohne Sommer" – also einer echte Klimakatastrophe -, mit dramatischen Ernteausfällen und katastrophalen Hungersnöten.
Waren die Folgen für die Nahrungsmittelversorgung damals dramatisch, wären sie heute im Falle einer vergleichbaren Naturkatastrophe wohl noch weitaus folgenschwerer. Im frühen 19. Jahrhundert war die Landwirtschaft kleinteilig, dezentral und viele Menschen waren autark; sie konnten auf bewährte Vorratshaltung zurückgreifen. Heute sind landwirtschaftliche Strukturen zwar moderner, produktiver und leistungsfähiger, doch im Falle eines heutigen zum Tambora-Ausbruch vergleichbaren Ereignisses wohl auch verwundbarer.
Im Sinne einer umfassenden Vorsorge und Vorbereitung wäre es öffentliche Aufgabe, mit Notfallplänen eine Sicherung der Nahrungsmittelversorgung im Falle von Vulkanausbrüchen, anhaltenden Dürren oder anderen Katastrophenfällen zu gewährleisten. Naheliegende Vorsorgemaßnahmen wären sehr schnell aktivierbare Kapazitäten für großflächige Indoor-Pflanzenzuchtanlagen, die mit entsprechender Beleuchtungstechnik natürliche Wachstumsbedingungen simulieren könnten. Die Bevorratung lang haltbarer Trockenlebensmitteln, mit denen die Bevölkerung über einen längeren Zeitraum versorgt werden könnte, würde ebenso zu erwartbaren Vorsorgemaßnahmen zählen.
Auch ein Tambora-Ausbruch ist kein "Schwarzer Schwan". In der Geschichte finden sich weitere Belege vulkanischer Aktivitäten, die weitreichende Folgen für das globale Klima hatten. Der Ausbruch des Mt. Okmok in Alaska im Jahr 43 v.Chr. verursachte eine globale Verteilung von Schwefelsäurepartikeln in der Atmosphäre und führte zu einer merklichen Abkühlung der Durchschnittstemperaturen - mit den erwartbaren Konsequenzen: Ernteausfälle, Hungersnöte, Seuchen, Unruhen. Historiker sehen gar Zusammenhänge zwischen den ungewöhnlich kalten Temperaturen und der Destabilisierung des Römischen Reichs, die dessen späteren Untergang einleitete.
Ganz allgemein ist das globale Risikomanagement bei Klimarisiken vollständig blind gegenüber dem "Left Tail" der Normalverteilung. Nahezu 100% der Ressourcen sind auf das bekannte (also known known) "Right Tail" Risiko konzentriert, nämlich auf die vermutete Fortschreibung der aktuelle Klimaerwärmung. Ein Eintritt von Left-Tail Risiken träfe die Gesellschaft vollkommen unvorbereitet. Ganz gleich wodurch verursacht, ob Vulkanausbruch oder viel simpler einer unerwarteten Rückkehr zum langfristigen Mittel: die plötzliche Abkühlung der globalen Temperaturen wären möglicherweise ein sehr viel größeres Problem als eine graduelle Erwärmung. Historisch waren Kaltphasen stets problematisch: Sie gingen einher mit Missernten, Armut, Hunger, Krankheitswellen, politische Krisen, Konflikten, Aufständen, sozialen Unruhen und gar Kriegen. In Anbetracht der sehr hohen Kosten, die historisch mit kühleren Temperaturen verbunden waren, mutet es unverantwortlich an, dieses Risiko völlig außer Acht zu lassen. Mit Taleb zu sprechen: Es wäre besser, nicht so viel Vorhersagen zu möglichen Klimaänderungen zu versuchen (mit Modellen, die diese Vorhersage vermutlich gar nicht seriös leisten können), sondern auf unterschiedlich gestreute Ereignisse vorbereitet und reaktionsfähig zu sein, sowohl für extrem wärmere als auch extrem kältere globale Durchschnittstemperaturen.
Der Szientismus, der die Klimafrage umgibt, kann aus der Corona-Krise Demut lernen: Die Menschen schaffen es mit ihren Möglichkeiten heute noch nicht, sich wirksam vor einem Virus zu schützen. Sie maßen sich aber an, etwas noch viel Komplexeres – das Klima in 20 oder mehr Jahren – managen zu wollen.
Risiko Energieversorgung
Ein zweites "known unknown"-Risiko ist heute noch offensichtlicher, es besteht aber trotz konkreter Eintrittswahrscheinlichkeiten ebenfalls keine hinreichende Vorsorge und Vorbereitung: Es ist bekannt, dass der Umbau der Energieversorgung hin zu mehr erneuerbaren Energien zu größerer Instabilität der Netze führt. Parallel zum Ausbau der schwankungsintensiveren Solar- und Windkapazitäten werden konventionelle (und verlässlichere) Energieträger überhastet abgeschaltet. Das Risiko für Blackouts steigt. Es sei keine Frage ob, sondern nur wann großflächige Blackouts eintreten werden, geben Manager der Versorgerbranche zu Protokoll. Offenkundig standen die europäischen Netze im Januar 2021 zum wiederholten Male kurz vor einem solchen Ausfall. Werden nicht zügig massive Speicher- und Notfallkapazitäten geschaffen, wartet eine Katastrophe mit Ansage. Der geplante Wegfall konventioneller, versorgungssicherer Kapazitäten trifft auf die politisch forcierte Elektrifizierung der Mobilität. Wie die künftig steigende Grundlast bedient werden kann, wenn aus tragenden Säulen der Versorgung ausgestiegen wird, ohne dass ein paralleler Einstieg in gleichermaßen zuverlässige Energiequellen erfolgt, ist völlig offen.
Das praktizierte Prinzip Hoffnung in Hinblick auf die künftige Versorgungssicherheit und Netzstabilität muss mindestens als leichtsinnig und fahrlässig gesehen werden. Führt man sich die wahrhaft furchteinflößenden Horrorszenarien vor Augen, die ein Blackout ausweislich einer entsprechenden Folgenabschätzung des Bundestags (Drucksache 17/5672) haben kann, ist die Gleichgültigkeit der Gesellschaft gegenüber den sich aufbauenden Risiken unverständlich.
Cyberrisiken
Weitere wahrscheinliche und mögliche Gefährdungen, für die eine ungenügende Resilienz vermutet werden kann, stammen aus den Bereichen der Cyberrisiken. Ein "Computer-Corona-Virus" wäre gewiss in der Lage gewesen, vergleichbare Schäden anzurichten wie das "biologische Virus". "Rogue persons" innerhalb staatlicher Institutionen, die in den Besitz von Technologien, Waffen oder Kampfstoffen gelangen könnten bzw. an Terroristen oder Kriminelle weitergeben könnten, würden folgenschwere Angriffshandlungen ermöglichen. Anschläge auf kritische Infrastruktur und Ressourcen sind – so hofft man – Szenarien, mit den man sich wenigstens in nachrichtendienstlichen Kreisen mit der gebotenen Aufmerksamkeit beschäftigt.
Risiken in der Finanzwelt
Eine Vielzahl "grauer" und "schwarzer Schwäne" schlummert weiterhin und jederzeit in der Finanzwelt. Ein offensichtliches Risiko wäre ein Vertrauensverlust in die Notenbanken, der mit schwersten Verwerfungen an den Finanzmärkten einhergehen könnte. Die unverantwortliche Geldmengenausweitung der Notenbanken birgt erhebliche Risiken für die Geldwertstabilität. Die "ultraexpansive" Geldpolitik ist ignorant gegenüber der Geschichte. Die Lehren aus der Weimarer Hyperinflation mit all ihren wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Folgen werden genauso wenig in die Entscheidungsfindungen eingebaut, wie eine Vielzahl weiterer gescheiterter Geldexperimente in der Historie, etwa John Law’s Geldexperimente im Zuge der Mississippi Blase im Frankreich des 18. Jahrhunderts.
Eher offensichtliche Risiken im Finanzsystem - das Pulverfass der Derivatemärkte oder ein neuerliches Versagen naiver Risikosteuerungssysteme – gesellen sich zu weniger prominent diskutierten Themen: Cyberangriffe etwa auf Lager- und Verwahrstellen, auf Abwicklungs- und Zahlungssysteme könnten extrem weitereichende Folgen haben. Wenn Vermögenswerte, Zahlungsströme, Eigentumsrechte nicht mehr eindeutig zuordenbar wären, könnten Milliardenwerte in "schwarzen Löchern" verschwinden.
Small is beautiful
Einen Schlüssel zur Lösung gibt uns Nassim Taleb ebenfalls an die Hand, empfiehlt er doch, früh zu scheitern und klein zu scheitern. Fehlentwicklungen, Fehlentscheidungen und Versäumnisse sind innerhalb kleiner, abgegrenzter Systeme weniger folgenschwer als in größeren, verletzlicheren Gebilden. Dezentralität und Subsidiarität sind auch in der Risikovorsorge komplexer Systeme das Gleiche, was Kriminalitäts-, Drogen- und Gewaltprävention ebenfalls immer nur vor Ort leisten kann.
Ein Positiv-Beispiel für Resilienz und umsichtiger Risikovorsorge kommt nicht umsonst aus einem kleinen Land: Der Umgang mit MRSA in den Niederlanden kann als Best practice gelten. Krankenhauspatienten werden dort systematisch gescreent, um den Kontrollverlust gegenüber multiresistenten Krankenhauskeimen zu vermeiden. Auch im Finanzbereich haben sich dezentrale Systeme wie Genossenschaftsbanken als krisenresistenter erwiesen im Vergleich zu großen, globalen Universalbanken. Nicht weil sie über sophistiziertere Risikoanalysen und komplexere Systeme verfügen würden, sondern weil die ihre lokalen Risiken verstehen und mit "skin in the game" unterwegs sind.
Im Erkennen und Verhindern von Risiken gilt: "Small is beautiful". Empirisch belegt ist dies für Staaten, Unternehmen oder Währungsräume. Die Folgen des Kommunismus und diktatorischer Tyrannei waren im Megastaat Sowjetunion folgenreicher als in Kuba. Die Pleite eines Weltkonzerns verursacht weitreichendere Schäden als die eines Mittelständlers (weswegen der Konzern mit über entsprechendes "Too-Big-To Fail"-Erpressungspotential verfügt).
Traditionell gedeihen Freiheit, Wohlstand und Frieden dort am besten, wo Macht und Entscheidungsgewalt dezentralisiert sind. Nicht ohne Grund funktionieren die Schweiz und Singapur gut, zentralistische Superstaaten weniger gut. Insofern verwundert auch, wenn im Kontext der Corona-Krisenbewältigung in Deutschland immerzu ein "föderaler Flickenteppich" beklagt wird. Genau diese dezentralen Maßnahmen sind aber am besten geeignet, der spezifischen Situation vor Ort jeweils bestmöglich gerecht zu werden. Gleichzeitig kann der Föderalismus in Zeiten von Notverordnungen eine letzte Verteidigungslinie gegen übergriffige Anmaßungen einer Zentralregierung sein. Leider ist die Geschichte reich an Beispielen, wie besorgniserregend schnell Krisen- und Notsituationen in einem schwer oder kaum noch reversiblem Machtmissbrauch einer Zentralregierung resultieren können.
Interventionismus, Globalismus und Zentralismus waren historisch immer wieder Garanten für Krisenanfälligkeit, Scheitern auf großer Skala und für schlussendliche Schadensmaximierung im Risikofall. Die dezentral bessere Informationsverfügbarkeit zu relevanten Risiken ermöglicht eine leistungsfähigere Risikoarchitektur. Der erfolgreiche Widerstand finnischer Truppen gegen die sowjetische Armee im 2. Weltkrieg ist ein Beispiel, wie intelligente Vor-Ort Kenntnis die Übermacht eines vermeintlich überlegenen Gegners egalisieren kann. Die Gewinnmargen kleiner, spezialisierter Unternehmen übersteigen die Profitabilität großer Wettbewerber im gleichen Geschäftsfeld meist um Längen. Dezentralität schafft Robustheit, wesentlich über bessere Informationsverfügbarkeit und Flexibilität, aber auch über "skin in the game", die aus lokaler "Accountability" resultiert. Trifft ein Entscheidungsträger die von seinen Entscheidungen betroffenen Menschen sonntags in der Kirche oder im lokalen Verein, wird er vorausschauender und verantwortungsbewusster handeln als ein Bürokrat des Zentralstaats, dessen Handeln niemals Feedbackschleifen unterliegt.
In zentralen Systemen fehlen oft Bewusstsein und Verantwortlichkeit für ein gutes Risikomanagement, es gilt dann all zu oft: "es muss immer erst etwas passieren, bevor nötige Anpassungen geschehen" und "hinterher will es keiner gewesen sein" (allenfalls gibt es Bauernopfer im Falle der eingetreten Katastrophen, Unfälle oder Skandale). Die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen ist gering. Es fehlen Anreizstrukturen mit positiver und negativer Wirkung (d. h. explizite oder implizite Haftung, wie etwa dem Geschädigten einer Handlung oder Nichthandlung sonntags in der Kirche zu begegnen), welche Verantwortung und Verantwortlichkeit fördern würden.
Ähnlich wie eine Vorsorgeuntersuchung beim Zahnarzt wenig erfreulich, aber doch sinnvoll ist, steht zu vermuten, dass in dezentral organisierten Systemen Anreize und Sanktionsmechanismen präsent sind, die dazu führen, dass eine angemessene Risikovorsorge für kommende schwarze, graue und weiße Schwäne besteht.
Fazit und Ausblick
Corona hat gezeigt, dass in westlichen Gesellschaften vielfach Systeme geschaffen wurden, die nur unter optimalen Bedingungen funktionieren. Sie sind fragil und nicht dafür geschaffen, mit erwartbaren Störungen fertig zu werden. Diese Erkenntnis ist ein Armutszeugnis für alle, die dafür politische oder operative Verantwortung tragen.
Just-in Time Mentalität, Kostensenkungswahn, Abhängigkeiten von Lieferketten und chinesischen Produktionsmonopolen selbst bei kritischer Infrastruktur zeugen von Ignoranz und eklatanten Mängeln in Risikoverständnis, Risikobewusstsein, Risikovorsorge und Risikomanagement. Aus Nassim Talebs "Schwarzen Schwänen" wurde wenig, zu wenig gelernt auf dem Weg zu robusteren, antifragileren Systemen.
Autor:
Bernhard Matthes, Bereichsleiter BKC Asset Management der Bank für Kirche und Caritas (BKC).
Bernhard Matthes ist Investmentchef des kirchlichen Asset Managers BKC Asset Management, dem Vermögensverwalter der Paderborner Bank für Kirche und Caritas. Er verantwortet u.a. den defensiven Mischfonds BKC Treuhand Portfolio und Spezialmandate für Stiftungen und kirchliche Anleger.