"Mein Gott, Thiokol, bis wann wollt Ihr, dass wir starten – nächsten April?"
Lawrence B. Mulloy, NASA-Manager, am 27. Januar 1986, dem Vorabend der Explosion der Raumfähre Challenger [Charles, M.T., 1989]. Thiokol ist der Hersteller der Feststoff-Raketen des Space Shuttles.
Die technische Ursache des Absturzes der Raumfähre Challenger im Januar 1986 war das Versagen der Dichtungsringe an den Antriebsraketen. Dies führte dazu, dass eine Stichflamme ein Loch in den Haupttank brennen konnte und daraufhin hunderte Tonnen von Flüssigtreibstoff explodierten.
Dies ist jedoch nur eine Seite der Medaille. Untersuchungen haben sich mit der Frage beschäftigt, wie es möglich war, dass die Challenger überhaupt starten konnte, obwohl die Probleme mit den Dichtungsringen und die damit verbundene Gefahr bereits vorher bekannt waren. Am Abend vor dem Start der Challenger waren Informationen verfügbar, die den sicheren Start der Raumfähre fragwürdig erscheinen ließen [Moorhead, Ference, Neck 1991]. Es waren also nicht in erster Linie technische "Überraschungen", die zur Zerstörung des Shuttles und dem Tod der Besatzung geführt haben. Die möglichen Überraschungen waren bekannt, man wollte oder konnte ihre Bedrohlichkeit nur nicht wahrhaben.
Im Fall der Challenger war der Start bereits vier Mal verschoben worden und weitere Verzögerungen bedeuteten finanzielle Verluste. Außerdem bestand ein erhöhtes öffentliches Interesse an dieser Mission, da amerikanische Schulkinder aus dem Weltall von der Lehrerin Christa McAuliffe unterrichtet werden sollten. Es lastete ein höherer Erwartungsdruck auf der NASA, weil man in den Schulen bereits für diesen Unterricht geworben worden hatte und er ein Prestigeprojekt war.
Diese Hintergründe bilden die andere Seite der Medaille, die zu der auf den ersten Blick unverständlichen Entscheidung führte, das Shuttle trotz der Probleme mit den Dichtringen starten zu lassen. Sie verdeutlichen, dass Menschen keine Computer sind, die Entscheidungen nüchtern und unbeeindruckt nach definierten Standards fällen, ohne sich von anderen Faktoren beeinflussen zu lassen. Diese scheinbar irrationalen Faktoren ziehen sich wie ein roter Faden durch Entscheidungen, die unter Unsicherheit getroffen wurden und immer noch werden.
11. September 2001
Ein besonders tragisches Beispiel für diese beeinflussenden Faktoren bietet die TV-Dokumentation "Amerikas Alptraum" des Senders ARTE. Sie beschreibt die Entwicklungen bis zum 11. September und das Verhältnis zweier Anti-Terror-Ermittler: John O’Neill (FBI) und Michael Scheuer (CIA). Es wird von dem Terror-Experten Lawrence Wright (Pulitzer-Preisträger und Autor des Buches: "Der Tod wird euch finden: Al-Qaida und der Weg zum 11. September") wie folgt beschrieben:
"Eine der Tragödien dieser Geschichte ist, dass Scheuer und O’Neill einander so gehasst haben. […] Sie haben nicht nur nicht kooperiert, sie verbargen Informationen voreinander. Wenn dagegen CIA und FBI zusammen gearbeitet hätten, dann wäre 9/11 wohl nicht passiert." [ARTE 2011]
Wie vergiftet das Verhältnis zwischen den beiden Ermittlern tatsächlich gewesen sein muss, lässt eine Aussage Scheuers erahnen. Er sagt unmissverständlich vor laufender Kamera: "Das einzig Gute an diesem Anschlag war für mich der Tod von John O’Neill."
US-Schuldenkrise 2011
Das Prinzip, dass widerstreitende Einzelinteressen zu einem Schaden für das Gesamtsystem führen können, findet sich auch im Verhalten der demokratischen und republikanischen Partei während der US-Schuldenkrise 2011 wieder: Während die Weltöffentlichkeit auf eine Einigung zwischen Demokraten und Republikanern wartete, waren viele der jungen Abgeordneten ("freshmen") darauf bedacht, ihre Wiederwahl im Jahr 2012 nicht durch eine zu kompromissbereite Politik zu gefährden. [Graw 2011] Das Ziel, die USA vor der Zahlungsunfähigkeit zu bewahren stand dem individuellen Ziel entgegen, sich selbst als politisches Nachwuchstalent zu profilieren.
In Bezug auf die Verantwortung der USA für die Weltwirtschaft kritisierte der Präsident des Bundesverbands Großhandel, Außenhandel, Dienstleistungen (BGA), Anton Börner: "Dagegen verstoßen sie massiv. Man kann nicht aus wahltaktischen Spielchen heraus die ganze Weltwirtschaft, das ganze Finanzsystem so an den Abgrund heranführen. Da habe ich null Verständnis, da bin ich sprachlos. So kann man nicht mit der Weltgemeinschaft umspringen."
Das für Außenstehende irrationale Verhalten ähnelt den Phänomenen einer Panik in einer Menschenmenge, in der die Durchsetzung der eigenen Bedürfnisse um jeden Preis die Gesamtsituation verschlimmert und somit indirekt auch wieder auf das Individuum zurück wirkt.
Die Konstruktion der Realität
Im Jahr 1995 betrat ein Räuber zwei Banken in Pittsburgh (USA) und raubte beide aus, ohne auch nur den Versuch zu machen, sein Gesicht zu maskieren. Er war auf den Bildern der Überwachungskameras deutlich zu erkennen und wurde noch am selben Tag gefasst. [Fuoco 1996] Bei seiner Festnahme gab er zu Protokoll dass er nicht verstehen könne, warum er gefasst wurde – er habe doch "den Saft getragen". Ein Bekannter hatte ihm den Tipp gegeben, sein Gesicht mit frisch gepresstem Zitronensaft einzureiben. Dieser solle bewirken, dass sein Gesicht auf den Überwachungskameras nicht mehr zu sehen sei.
Er sagte später aus, dass er diesen Tipp auch einem Test unterzogen habe: Er habe sich eine Polaroid-Kamera besorgt, sein Gesicht mit Zitronensaft eingerieben und ein Foto gemacht. Darauf sei sein Gesicht nicht zu sehen gewesen und er sei deshalb zu dem Schluss gekommen, dass der Trick funktioniere. Im Nachgang gab es mehrere Erklärungen hierfür: Es könnte sein, dass die Kamera defekt war, dass der Film der Polaroid-Kamera sein Haltbarkeitsdatum überschritten hatte, oder der Räuber die Kamera nicht exakt auf sein Gesicht ausgerichtet hatte (möglicherweise, weil Zitronensaft in seine Augen gelangt war und er die Augen nicht mehr richtig öffnen konnte).
So lächerlich diese Geschichte auf den ersten Moment scheinen mag, so effektiv illustriert sie die Art und Weise, wie der menschliche Geist seine Realität "konstruiert". Menschen erkennen nicht einfach die allgemeine Realität – sie konstruieren ihre eigene. Der Räuber von Pittsburgh ging insofern sogar beinahe wissenschaftlich vor, indem er seine Annahme einer Überprüfung unterzog und mittels einer Polaroid-Kamera und Zitronensaft testete. Sein Fehler bestand darin, dass er glaubte seine Annahmen für den Test seien ausreichend gewesen und würden seine Theorie beweisen. Andere Annahmen konnte oder wollte der Täter nicht zur Kenntnis nehmen.
Der Räuber war "immun" gegen die Überlegung, dass sicher schon andere diesen Trick erfolgreich angewandt hätten, wenn er wirklich so gut wäre – was man daran erkannt hätte, dass bereits Medien darüber berichtet hätten, wie Menschen ohne Maske Banken überfallen haben ohne anschließend auf den Überwachungsvideos identifiziert worden zu sein. Dazu Dietrich Dörner: "Ein hervorragendes Mittel, Hypothesen ad infinitum aufrecht zu erhalten, ist die "hypothesengerechte" Informationsauswahl. Informationen, die nicht der jeweiligen Hypothese entsprechen, werden einfach nicht zur Kenntnis genommen." [Dörner 2002]
Autor:
Dipl.-Psych. Johannes Wadle
Teil 2: Risikomaße bieten den Nährboden für "unknown unknowns"
Teil 3 "Von der Illusion der Risikokontrolle"
Teil 4 "Psychologische "Stolpersteine" im Krisenmanagement"
Quellenverzeichnis sowie weiterführende Literaturhinweise:
ARTE (2010): Amerikas Alptraum, gesendet bei ARTE, 2.5.2011, Sendezeit 19 Uhr.
A3M Mobile Personal Protection GmbH (Hrsg.):
www.tsunami-alarm-system.com/phaenomen-tsunami/vorkommen-pazifischer-ozean.html
, abgerufen am 6.5.2011.Bernauer, M. et al. (Hrsg. / 2005): Wilhelm Heinse. Band III: Kommentar zu Band I, Carl Hanser Verlag, München 2005, S. 75.
Charles, M. T. (1989): The Last Flight of Space Shuttle Challenger, in: Rosenthal, U., Charles, M.T. & Hart P.T. "Coping with Crises: The Management of Disaster, Riots and Terrorism”, 1989, Charles C. Thomas (Hrsg.), Springfield, Illinois.
Dekker, S (2005): Why we need new accident models, Technical Report 2005-02, Lund University School of Aviation, Lyungbyhed, Sweden, 2005.
Dörner, D. (2002): Die Logik des Misslingens – Strategisches Denken in komplexen Situationen, Rohwohlt Verlag, 15. Auflage, Hamburg 2002.
Fuoco, M. (1996): Trial and error: They had larceny in their hearts, but little in their heads, Pittburgh Post-Gazette vom 21. März 1996.
Graw, A. (2011): Republikaner lassen Verhandlungsführer auflaufen, abgerufen am 30. Juli 2011 unter
www.welt.de/politik/ausland/article13514306/Republikaner-lassen-Verhandlungsfuehrer-auflaufen.html
Luhmann, H.-J. (2011): Fukushima-Ablauf in Kürze und die Frage nach dem (kernenergiespezifischen) Grund, Entwurffassung vom 5. 5. 2011.
Moorhead, G., Ference, R., Neck, C.P (1991): Group decision fiascoes continue: Space Shuttle Challenger and a revised groupthink framework, in: Human Relations, Vol. 44, No. 6, 1991.
N.N. (2011): Es ist todernst – Wieder ein Patt im Schuldenstreit", abgerufen am 30. Juli 2011 unter
www.n-tv.de/wirtschaft/Wieder-ein-Patt-im-Schuldenstreit-article3938151.html
Nuclear and Industrial Safety Agency (2011): The 2011 the Pacific coast of Tohuku Pacific Earthquake and the seismic damage to the NPPs vom 4. April 2011, abgerufen am 6.5.2011 unter
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Simpson, R. (1996): Neither clear nor present: The social construction of safety and danger, Sociological Forum Vol. 11, No. 3, 1996.
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www.tepco.co.jp/en/nu/fukushima-np/f1/images/f12np-gaiyou_e.pdf
Watzlawick, P (1995): Die erfundene Wirklichkeit – Wie wissen wir, was wir zu wissen glauben? Beiträge zum Konstruktivismus, 9. Auflage Piper Verlag, München 1995.
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