Die weiterhin aktuelle Flüchtlings- und Migrationsbewegung wird von vielen als eine Bewährungsprobe der EU bezeichnet. Einige ihrer anfänglichen Versprechen stehen auf dem Prüfstand. Allgemein formuliert gehen solche Versprechen aber zumeist von einer "Schönwetterlage" aus und potenzielle Risiken werden in der Euphorie des Anfangs gerne bagatellisiert (siehe Merkmal 3), daher ist dieser Beitrag nicht nur ein Plädoyer für mehr ernsthaftes Risikomanagement auf EU-Ebene, sondern es sollte auch eine Orientierung an Resilienz eine Anleitung dafür bieten, wenn sich die "Wetterlage" ändert. Da sich die EU gerade allem Anschein nach in einer Erneuerungsphase befindet, und die Flüchtlings- und Migrationsbewegung dafür als der entscheidende Katalysator (auch für andere bereits vorhandene Problemlagen; siehe die vier Merkmale) angesehen wird, woran auch die letzten Ergebnisse der politischen Gespräche (so in Wien) nichts geändert haben, könnten Ergebnisse der Resilienzforschung dazu dienen, um aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen und entsprechende Schwachstellen zu erkennen, um diese künftig zu vermeiden, denn Resilienz erhöht nach der Theorie der "High Reliability Organizations" die Verlässlichkeit eines Systems. Die Resilienzforschung ist daher eine interdisziplinäre Grundlagenforschung mit dezidiertem Anwendungsbezug. Allerdings herrscht leider eine Konfusion um diesen Begriff und seine Leistungsfähigkeit, weshalb diese sehr allgemeine Darstellung eine Klärung bieten soll.
Werden gemäß empirischer Untersuchungen die entscheidenden Merkmale (etwas adäquater formuliert Systemcharakteristiken) herangezogen, durch welche Systeme resilient sind, also je nach Zusammenhang robust, widerstandsfähig oder krisenfest, dann muss wenig überraschend ein schlechtes Zeugnis ausgestellt werden: Die von Joseph Fiksel (2003) beschriebenen vier essentiellen Merkmale (in deutscher Übersetzung des Autors), welche ebenenübergreifende Gültigkeit besitzen (das heißt verglichen etwa mit Ökosystemen, Organisationen und größeren sozioökonomischen Systemen) werden nämlich alle verletzt:
1. Effiziente bzw. möglichst unaufwändige Umsetzungen (sinngemäß zu "performance with modest resource consumption"): Bereits vergleichsweise einfache Arbeitsschritte haben sich als äußerst träge in der Umsetzung erwiesen: Hotspots schnell und effizient zu errichten, EU-interne Verteilungen schnell und effizient durchführen, eine gemeinsame politische Linie zu finden. Mit mangelnder Effizienz stauen sich zunehmend potenzielle Probleme auf. Um die Kontrolle zurück zu gewinnen gilt es also effizientere Strukturen zu schaffen. Sonst gleicht die EU einem "Dinosaurier" der unfähig zu notwendigen Anpassungen wird (Service's "Law of evolutionary potential"). Hierfür hilft auf systemischer Ebene beispielsweise ein Umbau zu mehr Modularität nach dem Subsidiaritätsprinzip (vgl. die explorative Studie der ÖAR zur Resilienz von Regionen), was auch formal nach Ortwin Renn beschrieben werden kann als "Dezentralisierung der Funktionserfüllung" (Renn 2014). Gekoppelte Netzwerke sind letztlich stabiler als zentralistische Steuerungen und können auch effizienter operieren.
2. Zusammenhalt der Systemkomponenten (sinngemäß nach "existence of unifying relationships and linkages between system"): In diesem Fall der Zusammenhalt der Mitgliedsstaaten, welcher sich mehr als alles andere als fragil erwiesen hat. Wie Tusk in seinem Bratislava-Brief erklärt könne Europa aus der Herausforderung zerstritten oder geeint hervorgehen. Wie diese Mediation, das heißt eine Aushandlung von Konflikten und Interessen, aussehen kann ist fraglich, jedenfalls ist es offenkundig problematisch, wenn in kritischen Situationen gegeneinander statt miteinander gearbeitet wird. Ein fehlender Interessensausgleich kann letztlich die entscheidende Frage sein. Jedenfalls ist es wesentlich, dass die Koordination für einen weiterhin funktionierenden Zusammenhalt auch während eines Interessenskonflikts optimal funktioniert.
Auch eine mangelhafte Koordination zur Bewältigung der Krise wurde bereits beanstandet und von Insidern gefordert. Koordination nach dem Modell des "adaptive cycle" aus der ökologischen Resilienzforschung bedeutet: Jedes System erfährt nach einer Beginnphase eine Entwicklungsphase, eine Krisenphase und eine Konfusionsphase mit anschließender Beginnphase, wobei ein System dann resilient ist, wenn es durch die jeweiligen Phasen unbeschadet navigieren kann. Dieses Konzept wurde in einer Studie daraufhin untersucht, wie es sich in der Anwendung auf soziale Systeme mit verschiedensten Problemlagen eignen würde. Die Autoren verweisen auf eine gute Koordination zur erfolgreichen Navigation in einer Krisenphase um zumindest folgende Aspekte zu realisieren: Fehlerkaskaden zu vermeiden, Informationen effektiv zu teilen und notwendige Improvisationen zu ermöglichen (vgl. Fath et al. 2015). Für lokale Improvisationen sind wiederum dezentrale Funktionserfüllungen hilfreich (wie durch die ad hoc eingeführten Grenzkontrollen). Natürlich gibt es nach diesem Modell auch die Möglichkeit eine Krisenphase überhaupt durch Antizipation und Vorbereitung abzupuffern, was aber offenkundig versäumt wurde – obwohl Vorankündigungen eindeutig vorhanden waren – und daher zu einem weiteren wesentlichen Merkmal resilienter Systeme führt:
3. Flexible Organisationsformen um situationsgerecht agieren zu können (sinngemäß nach "flexibility to change in response to new pressures"): Hier hat sich die EU gleich in mehreren Aspekten als starrsinnig erwiesen. Wer in kritischen Situationen an Standardprozeduren und Routinen festhält widerspricht einem Grundaxiom der Theorie der "High Reliability Organizations" und wird selbst zum Risiko. Werden die eigenen Pfadabhängigkeiten zu Hindernissen für Lösungen gleicht dies einem "Runaway Train". Eine Lösung dafür flexible Organisationsformen zu ermöglichen bietet das Befolgen von weiteren vier Merkmalen zum Management der Resilienz von Systemen, die nach dem Ansatz des "Resilience Engineering" als eine entscheidende Herausforderungen dafür gelten, um Resilienz zu gewährleisten, aber dem Gehalt nach übereinstimmen mit vier Defiziten im Risikomanagementprozess nach dem Konzept "Risk Governance".
Daher können diese Merkmale des Resilience Engineering auch für das weitere Vorgehen eine Richtlinie bieten (vgl. Cedergren 2013 in deutscher Übersetzung nach dem Autor): (a) Der Fehler eine Bewertung zu revidieren, wenn neue Informationen hinzutreten. (b) Der Zusammenbruch an den Grenzen einer organisatorischen Einheit, verhindert Kommunikation und Koordination. (c) Erfolge der Vergangenheit als Grund dafür verändertes Fehlerpotential nicht zu antizipieren. (d) Ein fragmentierter Problemlösungsprozess verschleiert das "big picture".
Eine Verbesserung der Lage, gemessen an diesen Richtlinien, scheint jedoch nach einem EU-weiten "trial and error"-Prozess einer progressiven Annäherung zu gleichen: Verletzt wird (a) typischerweise durch Konflikte, die zu polarisierten Standpunkte führen, wie auch im vorliegenden Fall. Hierfür gibt es viele Bemühungen für eine Einigung und somit ist zu hoffen. Das Merkmal (b) wurde bereits unter Koordination behandelt, das Merkmal (c) basiert unter anderem auf der Tatsache, dass die Abwesenheit von Fehlern oder Gefahren (beziehungsweise auslösenden Faktoren) dazu verleitet anzunehmen eine Adäquatheit der bisherigen Vorgangsweisen oder Prozeduren sei gegeben. Nachdem die deutsche Bundeskanzlerin nun eingestanden hat, dass auch sie sich fälschlich auf bestimmte durch die EU vorgegebene Lösungskompetenzen verlassen hat, ist nicht nur indirekt ein Versagen der Institutionen in diesem Zusammenhang eingestanden worden, sondern auch dieser Punkt einer Lösung zugeführt worden. Das Versagen wird dadurch eingestanden, dass trotz offensichtlicher Vorankündigungen dieses Problems keine adäquaten Vorbereitungen getroffen wurden und auch, dass einige Länder, die sich nun für eine gerechte Verteilung in der EU stark machen genau diese noch in den Jahren davor verhindert haben, was wiederum auf einen Mangel betreffend des Zusammenhalts und Merkmal (a) hindeutet (Quelle hier). Das Fehlen adäquater Vorbereitungen ist entweder bedingt durch Fantasie-Einschätzungen der aktuellen Lage – befördert durch die Abwesenheit von auslösenden Faktoren gemäß Merkmal (a) – , geschieht aus mutwilliger Fahrlässigkeit, oder, weil beides nicht EU-weit anzunehmen ist, deshalb weil es einfach nicht möglich war aufgrund einer schlechten Institutionenzusammenarbeit. Nach der HRO-Theorie hilft hier nur die kontinuierliche Erwartung von zukünftigen Fehlern im System um auf Schwachstellen frühzeitig aufmerksam zu werden. Das letzte Merkmal (d) wird mitunter dadurch verletzt, dass der Fokus zu sehr auf spezielle Details konzentriert wird.
4. Diversität ("the existence of multiple forms and behaviours"): Lösungen sind dann effektiv, wenn sie an mehreren Stellen zugleich ansetzen, um mehrere miteinander interagierende Ansatzpunkte zu verknüpfen (positive Rückkoppelung der verschiedenen Elemente). Um nicht alle "Karten" auf eine Lösungsstrategie zu setzen, etwa einzig die Kooperation mit der Türkei, bedarf es der Redundanz, für den Fall, dass – formal formuliert – ein Funktionsträger eben ausfällt oder unzureichend funktioniert. Einseitige Abhängigkeiten reduzieren nämlich die "adaptive capacity" eines Systems, welche zwar nicht nur, aber besonders in Krisenphasen als essentielle Kapazität gelten kann, um die Resilienz zu erhalten (theoretisch zusammengefasst und an Beispielen dazu vgl. Brunnhuber 2016). Durch die ehemals zu Beginn dieser Krise erneut eingeführten Kontrollen an den Grenzen, allerdings von hohen EU-Politikern zunächst vehement kritisiert, wurde im Zuge dieser kritischen Situation die Resilienz erhöht, da eine flexible Maßnahme nach modularem Vorbild eingeführt wurde, welche diversifiziert eine essentielle Funktion erfüllte, um die Kontrolle über eine Bewegung wiederzuerlangen, welche tatsächlich nicht mehr gegeben war, oder anders formuliert: die Zuverlässigkeit der Abläufe im System zu stabilisieren. Daher war eine solch nationale Maßnahme mit Bedacht auf das gesamte System EU von essentieller Relevanz.
Allerdings beschreibt dieser Ansatz einer Resilienzbewertung bloß die formalen Charakteristiken aus einer systemwissenschaftlichen Sichtweise. Formal ist er deshalb, da er streng genommen keine Empfehlungen für inhaltliche Maßnahmen geben kann, weshalb die entsprechenden Maßnahmen in kritischen Situationen stets auf ihre ethische Rechtfertigung geprüft werden sollten, damit die Grundforderung der Menschlichkeit gewährleistet wird (siehe hierzu das UN-Dokument der "Erklärung zum Weltethos"). Das heißt dieser systemwissenschaftliche Zugang nach formalen Kriterien sagt noch nichts über die adäquaten inhaltlichen Maßnahmen aus und es ist auch nach der Konformität mit juristischen Anforderungen zu fragen. Hierfür wäre es ggf. hilfreich in Kombination mit einem Risikomanagement über Überbrückungsrichtlinien nachzudenken, eben für den Fall, dass sich – wie auch immer geartet – die "Wetterlage" ändert, was ja nicht nur im Zusammenhang mit Migrationsbewegungen prognostiziert wurde und plausibel anzunehmen ist, sondern weitere Risiken betrifft, die oft in den Hintergrund geraten. Der Resilienzansatz bietet daher eine proaktive oder präventive Alternative zur reaktiven Schadensbegrenzung.
Quellenverzeichnis sowie weiterführende Literaturangaben:
Cedergren, A. (2013): Designing resilient infrastructure systems: a case study of decision-making challenges in railway tunnel projects, Journal of Risk Research, 16:5, DOI: 10.1080/13669877.2012.726241
Brunnhuber, R. (2016): Elemente einer historischen Resilienzforschung. Zur Geschichte der Bewältigung von Krisen und Nöten, Akademikerverlag, Saarbrücken.
Fath, B. D./Dean, C. A./Katzmair, H. (2015): Navigating the adaptive cycle: an approach to managing the resilience of social systems. Ecology and Society 20 (2),
dx.doi.org/10.5751/ES-07467-200224
Fiksel, J. (2003): Designing resilient, sustainable systems. Environmental Science and Technology, 37 (23).
Renn, O. (2014): Das Risikoparadox. Warum wir uns vor dem Falschen fürchten, Frankfurt/Main. Buchrezension auf RiskNET
Autor:
Robert Brunnhuber MSc