Bei einer Analyse der US-amerikanischen Subprime-Krise, die sich zu einer weltweiten Finanzkrise ausgeweitet hat, stellt man sich die Frage, ob diese unvorhersehbar und ein unglücklicher Zufall war. Und ist die aktuelle Krise tatsächlich, wie Josef Ackermann, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Bank sagt, ein Zeichen von Marktversagen, das staatliche Eingriffe erfordert? Tatsächlich waren vielen Führungskräften von Kreditinstituten potenzielle Risiken aus den extrem gestiegenen Preisen amerikanischer Immobilien und der exzessiven Kreditvergabepolitik ebenso bewusst, wie die vergleichsweise geringe Transparenz vieler derivativer Finanzprodukte (etwa der Collateralized Debt Obligations). Wie konnte es dann zu einer derartigen Krise kommen? Im Folgenden werden Erklärungen zusammengefasst, die teilweise überraschend sein mögen – aber mit einem etwas tieferen Blick in die Finanz- und Bankenlandschaft an vielen Stellen verifiziert werden können.
Defizite in der Organisation des Risikomanagements und der internen Kontrollsysteme
Nicht zuletzt dank der Société Générale wird oft ein Defizit an organisatorischen Regelungen und Kontrollmechanismen als Ursache für zu hohe Risiken im Wertpapierhandel oder bei der Kreditvergabe gesehen. Tatsächlich haben Organisations- und Compliance-Aspekte bei der Erklärung der aktuellen Krise eine vergleichsweise geringe Bedeutung. Krisenverursachend war nicht, dass bestimmte Regelungen nicht existiert hätten oder die Einhaltung nicht konsequent genug überprüft wurde (von Einzelfällen abgesehen). Die primäre Problemursache ist stattdessen, dass die den organisatorischen Regelungen zugrunde liegenden Methoden und Anreizsysteme tendenziell einen zu sorglosen Umgang mit Risiken fördern – was im Folgenden erläutert wird.
Fehlendes Risiko-Rendite-Kalkül und intransparente Planungssicherheit
Viele Banken, Hedge-Fonds, Private-Equity-Fonds und wohl die meisten anderen (institutionellen) Anleger streben nach einer Maximierung der Rendite. Und damit verletzen sie das Grundprinzip einer wertorientierten (oder auch nutzenorientierten) Unternehmensführung: nämlich das Abwägen der erwarteten Rendite und der Risiken. Bei vielen Opfern der Subprime-Krise war jeder investierte Euro (oder Dollar) gleichbedeutend mit sicherem Gewinn. Das gilt übrigens sowohl für Investoren wie auch Originatoren. So scheiterte Bear Stearns u. a. am wenig differenzierten und stark auf Strukturierung ausgerichteten Geschäftsmodell. Betrachtet man ausschließlich die dort in den vergangenen Jahren erwirtschafteten Gewinne, war diese Konzentration eine rationale Entscheidung. Ob 15 Prozent prognostizierte Rendite aber gut oder schlecht sind, kann man nicht beurteilen, wenn keine quantitativen Informationen über den Risikoumfang zum Vergleich verfügbar sind. Die notwendige Information über den aggregierten Risikoumfang, also den realistischen Umfang möglicher Planabweichungen werden oft nicht berechnet und erst recht nicht kommuniziert. Welche Aktiengesellschaft oder welcher Analyst schafft Transparenz über seine Planungssicherheit? Wer will hören, dass die Cash Cow bald zum Millionengrab werden soll, wenn gerade wieder ein Rekordergebnis erzielt wurde? Die Vorgabe eines Renditeziels ohne Risikoadjustierung ("risikoadjustierte Performance") führt zur gezielten Auswahl riskanter originärer Geschäfte und einem Bestreben, deren Rendite durch den Einsatz von Fremdkapital immer mehr zu hebeln (Leverage). Selbst Obergrenzen für den (aggregierten) Gesamtrisikoumfang fehlen oft. Die Orientierung an der Rendite und die weitgehende Vernachlässigung der eingegangenen Risiken ist der primäre, ursächliche Treiber für die jetzige Krise. Eine elementare Grundregel des Bankgeschäfts und des Risikomanagements wurde von vielen Marktteilnehmern ausgeblendet. So hatten vereinzelte Institute sich außerhalb der eigenen Bilanz mit dem 10- bis 15-fachen Volumen des Eigenkapitals mit Finanzderivaten bzw. Liquiditätslinien versorgt und damit ihre Risikotragfähigkeit massiv überschätzt.
Fehlerhafte Risikoquantifizierung und das Risiko der Risikofehleinschätzung (Metarisiken)
Risiken können, schon wegen aufsichtsrechtlicher Anforderungen, trotz der erwähnten primären Ausrichtung auf Rendite nicht komplett ignoriert werden. Allerdings werden die wahrgenommenen Risiken tendenziell, zum Teil auch noch gravierend unterschätzt. Ursächlich hierfür sind methodische Schwächen im Risikomanagementinstrumentarium, das im Wesentlichen noch immer von "Normalverteilungshypothese" und "Random-Walk" ausgeht – was Benoît B. Mandelbrot als Annahme einer "milden Zufälligkeit" im Gegensatz zur tatsächlichen "wilden Zufälligkeit" bezeichnet hat [Mandelbrot 2005]. So konnte in Analysen nachgewiesen werden, dass nach dem Gauß’schen Modell ein Börsencrash – wie etwa im Oktober 1987 – nur einmal in 1087 Jahren eintreten dürfte. Die empirische Beobachtung hat jedoch gezeigt, dass derartige Crashs etwa alle 38 Jahre eintreten [Vgl. Romeike/Heinicke 2008]. Kurzum: Wer sich auf die Normalverteilung und Modelle der geometrischen Brownschen Bewegung verlässt, blendet Risiken systematisch aus und wird irgendwann von der Realität an den Finanzmärkten überholt.
Noch immer berücksichtigen viele Risikomanagementsysteme zu wenig die empirischen Erkenntnisse, dass der Risikoumfang selbst volatil ist (GARCH-Prozess) und extreme Marktbewegungen wesentlich häufiger auftreten als dies der Standardansatz nahe legt ("crashs"). Die notwendigen Verfahren (beispielsweise aus der Extremwerttheorie bzw. aus dem Ansatz der pareto-stabilen Verteilungen) zur Beschreibung und Steuerung von Risiken haben bis heute nicht die notwendige Verbreitung gefunden. Entsprechend wurden die in letzter Zeit zu beobachtenden extremen Marktbewegungen von vielen Marktteilnehmern als so unwahrscheinlich eingeschätzt, dass diese keine Beachtung wert wären. Die Subprimekrise ist dafür ein Paradebeispiel. Langlaufende ABS wurden in ein sogenanntes "Conduit" außerhalb der Bilanz gekauft, das sich über Commercial Papers (CPs) refinanzierte. Für den Fall, dass CPs aufgrund einer Marktstörung nicht mehr begeben werden könnten, stellte die Bank eine "Liquiditätslinie" – eine Eventualverbindlichkeit. Praktisch alle Institute gingen davon aus, dass dieser Fall sehr unwahrscheinlich war, nachdem der CP-Markt auch nach dem 11. September 2001 funktioniert hatte. Einige Banken aber hatten Liquiditätslinien in einer Größenordnung gestellt, die sie im Zweifel nicht bedienen konnten. Mathematisch ausgedrückt, sie hatten ihnen eine Eintrittwahrscheinlichkeit von 0 zugeordnet – unter Normalverteilungsannahme wahrscheinlich sogar vertretbar, in einer Realität mit extremen Marktbedingungen tödlich.
Ergänzend ist zu beachten, dass im Allgemeinen in den Risikomodellen unterstellt wird, dass "Gewissheit" besteht über die quantitative Beschreibung der Risiken (etwa die Parameter der Wahrscheinlichkeitsverteilung). Tatsächlich ist (etwa aufgrund der Begrenztheit historischer Daten) die Risikomodellierung selbst unsicher, es existieren Wahrscheinlichkeitsverteilungen zweiter Ordnung, beispielsweise weil für Modellparameter nur Bandbreiten und keine exakten Werte ermittelbar sind. So ist etwa die zukünftige Korrelationsstruktur der Rendite einzelner Assetklassen unsicher. Derartige "Metarisiken" (Schätz- und Modellrisiken) erhöhen den tatsächlichen Risikoumfang – und werden in der Praxis im Allgemeinen noch vernachlässigt. Diese "Anmaßung von Wissen" über die Zusammenhänge der realen Welt impliziert Scheingenauigkeiten und Scheinzuverlässigkeit der Systeme. Fazit: Der aggregierte Gesamtrisikoumfang wird unterschätzt und ist nicht mehr durch die Risikotragfähigkeit gedeckt.
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[Quelle: Gleißner, W./Romeike, F.: Analyse Subprime-Krise: Risikoblindheit und Methodikschwächen, in: RISIKO MANAGER 21/2008, S. 1, 8-12.]
Kommentare zu diesem Beitrag
1. Innovationen in der Finanzindustrie sind gut und wichtig.
Finanzinnovationen ermöglichen eine bessere Verteilung von Risiken. Sie vervollständigen Märkte und ermöglichen somit Marktteilnehmern Zugang zu Finanzprodukten, die vorher ausgeschlossen waren. Finanzinnovation führt zu einem effizienteren Finanzsystem, zu höherem Wachstum und, sofern richtig eingesetzt, zu einer Reduzierung wirtschaftlicher Schwankungen.
2. Falsche Anreizsysteme innerhalb der Banken und an Finanzmärkten sind der Schlüssel zur Krise. Sie müssen dringend reformiert werden.
Boni sollten auf Risiko-angepasste Erträge gezahlt werden. Wir lehnen ab, dass Boni auf Risikoprämien gezahlt werden, die als Gewinne verbucht wurden. Der Gewinnhorizont, also der Zeitraum, über den ein Gewinn erwirtschaftet wurde, bevor Boni gezahlt werden können, muss verlängert werden. Führungskräfte müssen auch nach Ausscheiden aus dem Unternehmen für Verluste haftbar gemacht werden können. Zivilrechtliche und strafrechtliche Regelungen, die das Fehlverhalten von Management und Aufsichtsräten ahnden, müssen verschärft werden. Die Unabhängigkeit des Risikomanagements innerhalb von Finanzinstitutionen ließe sich verbessern, indem die Rolle von Kontrollgremien (z.B. Aufsichtsrat, Audit Committee) gestärkt wird.
3. Investmentbanken sind ein wichtiger Teil des Finanzsystems, aber sie sollten als Partnerships (Kommanditgesellschaften) firmieren.
Die Umwandlung in Aktiengesellschaften hat Investmentbanken dazu „verführt“, immer höhere Risiken einzugehen. Wenn sie stattdessen als Partnerships mit persönlich haftenden Gesellschaftern firmieren würden, wären diese Anreize durch die Governance-Struktur begrenzt. Investmentbanken sollten sich auf ihren ursprünglichen komparativen Vorteil zurückbesinnen. Ihre Stärke war es stets, für komplexe Transaktionen Partner zu finden bzw. eine Finanzierung zu ermöglichen. Dafür haben sie ein Know-how aufgebaut, das in Form der Partnership effizienter zu managen war. Investmentbanken sind nicht dazu da, bilanzierte Vermögenswerte zu akkumulieren und Deposite auszugeben.
4. Begrenzte staatliche Garantien und Rekapitalisierung sind kurzfristig ohne Alternative.
Es ist wichtig, den staatlichen Einfluss streng zu begrenzen, vor allem in zeitlicher Hinsicht. Staatliche Hilfen sind nur solange gerechtfertigt, wie systemische Risiken die Versorgung der Wirtschaft mit Kredit gefährden. Die Situation in den deutschen Landesbanken zeigt, dass staatlicher Einfluss die Probleme nicht löst. Die Krise sollte deshalb dazu genutzt werden, die längst fällige Umstrukturierung des öffentlichen Bankensektors in Deutschland voranzutreiben (Konsolidierung der Landesbanken). Obwohl kurzfristig nötig, werden staatliche Hilfen für Banken mittelfristig die nächste Krise wahrscheinlicher machen (moral hazard).
5. Keine staatliche Hilfe ohne ausreichende Bedingungen zum Schutz der Steuerzahler!
Die Bedingung, dass keine Dividenden und Abfindungen gezahlt werden dürfen, ist richtig, reicht aber nicht aus. Gegenwärtiges Management sollte abfindungslos ausgewechselt werden. Die gegenwärtigen Aktionäre müssen unserer Meinung nach vollständig ihr Geld verlieren. Denn Aktionäre haben Risikokapital gegeben mit der Chance auf Dividende und Kursgewinn. Im Gegenzug tragen sie das Risiko des Kapitalverlusts. Steuergelder sollten diesen Zusammenhang nicht umkehren. Gegenwärtige Inhaber von Schuldverschreibungen sollten einen Abschlag tragen, d.h. die Kosten sollten auch mit den gegenwärtigen Bondholdern geteilt werden, da sonst die Gefahr einer Umverteilung von Steuergeldern an die Inhaber von Schuldverschreibungen besteht. Eine staatliche Intervention im Lohnfindungsprozess (z.B. Managergehälter) darf es grundsätzlich nicht geben: Wer staatliche Hilfe in Anspruch nimmt, muss das Management austauschen. Die neue Führung muss dann entsprechend ihrem Marktwert bezahlt werden.
6. Keine staatlichen Garantien und Hilfen für einzelne Sektoren außerhalb des Finanzsystems!
Staatliche Garantien sind nur dann gerechtfertigt, wenn systemische Risiken, also Risiken für das Funktionieren des gesamten Finanzsystems, vorliegen. Stattdessen könnte die Gelegenheit ergriffen werden, längst überfällige Steuerreformen, insbesondere auch im Einkommensteuerbereich, in Angriff zu nehmen. Sowohl das Einkommensteuergesetz als auch das Körperschaftssteuergesetz müssen dringend vereinfacht werden. Die zur Eigenkapitalunterlegung verwandten Risikomaße haben versagt. Traditionelle, auf individuelle Bankcharakteristika basierende Risikobewertungsmaße wie etwa Value-at-risk sollten durch Risikomaße ersetzt werden, die Risiko-spillover-Effekte zwischen Finanzinstitutionen erfassen können. Der Kern des Problems im Zusammenhang mit der Behandlung von Finanzinnovationen aus der Sicht des Risikomanagements liegt darin, dass verlässliche Daten fehlen, mit denen die Modelle kalibriert werden können. Es ist Zeit, hier neue Wege der Kalibrierung zu entwickeln und bei Banken zu implementieren. Nicht-bilanzierte Risiken müssen vollständig in das regulatorische System integriert werden.
8. Die Transparenz aller Finanzinstitutionen muss erhöht werden.
Für den Interbankenmarkt ist es von entscheidender Bedeutung zu wissen, wo und in welchem Umfang sich welche Risiken befinden. Zwischenberichte müssen kritische Informationen enthalten - auch weit über das hinaus, was im so genannten 3. Pfeiler von Basel II vorgesehen ist. Geprüft werden sollte die Machbarkeit, ein umfassendes Risikoregister zum Ausweis von Counterparty-Risiken einzurichten. Gegenwärtig nicht regulierte Finanzinstitutionen (z.B. Hedge Funds) sollten nicht notwendigerweise wie Banken reguliert werden. Allerdings muss die Transparenz dieser Institutionen in Bezug auf ihre Risiko-Exposures stark verbessert werden.
9. Die Qualität externer Ratings muss besser werden.
Externe Ratingagenturen dürfen keine Beratungsleistungen anbieten. Personeller Austausch zwischen Investmentbanken und Ratingagenturen muss zeitlich beschränkt werden (Sperrperiode für Wechsel von Ratingagentur zu Investment Bank). Unbezahlte Ratings müssen kenntlich gemacht werden. Ratingmodelle müssen transparent dargestellt werden. Klassische Ratings und marktbasierte Ratings müssen allen Marktteilnehmern kostenfrei zur Verfügung gestellt werden.
10. Die Trennung von Geldpolitik (insbesondere Liquiditätspolitik) und Finanzaufsicht ist nicht mehr zeitgemäß. Innerhalb der Zentralbanken müssen Geldpolitik und Finanzaufsicht zusammen-geführt werden. Nur so kann der notwendige Informationsfluss von Aufsichts-behörden zu Zentralbanken und umgekehrt gewährleistet werden. Nur so auch kann die systemische Perspektive auf das Finanzsystem gestärkt werden und eine Unterscheidung zwischen Problemen in einzelnen Banken und einem systemischen Problem getroffen werden, die gegebenenfalls sehr unterschiedliche regulatorische, geldpolitische und liquiditätspolitische Interventionen verlangen.