Die Commerzbank sieht das Risiko, dass ein sehr hoher volkswirtschaftlicher Schaden durch das Coronavirus zu einem anderen gesellschaftlichen Umgang mit dem Virus führen könnte. Sollte Europas Wirtschaft anders als erhofft nicht spätestens nach dem Ende des zweiten Quartals wieder hochgefahren werden können, könnte das zu Diskussion darüber führen, ob man sich bei der Bekämpfung der Epidemie nicht auf den Schutz alter und chronisch kranker Menschen konzentrieren sollte, meint Chefvolkswirt Jörg Krämer.
Volkswirte stehen derzeit unter dem Druck immer neuer Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie, ihre makroökonomischen Prognosen fortlaufend anzupassen. So geht das im übrigen nicht nur ihnen, sondern auch Regierungen und Zentralbanken. Die Schätzungen für die kurzfristige Konjunkturentwicklung Deutschlands sind finster genug: Die Deutsche Bank hält je nach Szenario für das zweite Quartal einen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts (BIP) in europäischen Ländern um 10 bis 25 Prozent für möglich - auf Basis einen Minus von 4 bis 6 Prozent im ersten Quartal.
ING rechnet für das volle Jahr günstigstenfalls mit einem BIP-Rückgang von "über 4 Prozent". Zum Vergleich: Seinen bisher stärksten BIP-Rückgang verzeichnete Deutschland im Finanzkrisenjahr 2009 mit 5,6 Prozent. Diese Prognosen beruht allerdings auf der Annahme, dass die Wirtschaft zur Jahresmitte wieder kräftig in Gang kommt und dabei eine "V-förmige" Erholung durchläuft.
Anlass zu der Hoffnung, dass es so kommt, scheint China zu geben. Dort nähert sich die Industrie nach Ansicht der Commerzbank inzwischen wieder der Vollauslastung - drei Monate nach Ausbruch der Corona-Epidemie. Jörg Krämer weist aber darauf hin, dass nicht alle Ökonomen glauben, dass es auch in Europa so kommen wird, weil eine liberale Demokratie nicht so drakonische Maßnahmen gegen das Virus ergreifen könne wie autoritärer geprägte asiatische Gesellschaften.
Strategiewechsel erforderlich?
Daher sähen einige das Risiko, dass die Zahl der Neuinfektionen in Europa zu langsam sinken könnte, um das soziale und wirtschaftliche Leben spätestens gegen Ende des zweiten Quartals wieder hochfahren zu lassen. In diesem Risikoszenario würde der wirtschaftliche Schaden trotz der umfangreichen staatlichen Hilfen massiv ansteigen und dann, so kalkuliert Krämer, "würden wir vermutlich eine Diskussion bekommen über eine Änderung der gegenwärtigen Strategie im Kampf gegen Corona".
Der Commerzbank-Chefvolkswirt verweist auf Diskussionen unter Wissenschaftlern, sich im Fall der Fälle auf den Schutz alter Menschen und chronisch Kranker zu konzentrieren, um einen Kollaps der Wirtschaft zu vermeiden, unter dem am Ende auch das Gesundheitssystem früher oder später leiden würde. Zu den Risikogruppen zählen mitunter ältere Menschen, Menschen mit Vorerkrankungen wie etwa Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, chronischen Atemwegserkrankungen und auch Menschen, die aus anderen Gründen eine Immunsuppression aufweisen.
Erst jüngst hat auch der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer gefordert, bereits jetzt Exit-Strategien zu diskutieren. Für den Erhalt des gesellschaftlichen Friedens und der öffentlichen Ordnung sei es notwendig, "dass wir uns Gedanken über Exit-Strategien machen. Wie kommen wir kontrolliert und organisiert aus diesem totalen Lockdown wieder heraus in drei bis vier Wochen?", so Boris Palmer in einem Interview mit der Tageszeitung "Welt". Er schlägt vor, dass Menschen, die über 65 Jahre alt sind sowie Risikogruppen aus dem Alltag herauszunehmen und zu isolieren. "Jüngere, die weniger gefährdet sind, werden nach und nach kontrolliert wieder in den Produktionsprozess integriert", so der Oberbürgermeister.
Fünf Corona-Szenarien für Deutschland
Der Chef des Zukunftsinstituts 2b AHEAD, Sven Gábor Jánszky, hat vor wenigen Tagen fünf potenzielle Szenarien beschrieben, die aus heutiger Sicht die Zukunft unseres Landes prägen könnten. Vier der beschriebenen fünf Szenarien setzen u.a. auf eine Isolation der Älteren und einer Herdenimmunisierung der Jüngeren. Die ersten beiden Szenarien (Szenario 1: "Als wäre nichts gewesen" und Szenario 2: "Die Befreiung vom Italien-Fluch") sind eher positiv formuliert. Bis zum Sommer hat sich das Leben in Deutschland normalisiert. Aber sowohl in Szenario 1 als im zweiten Szenario werden die Risikogruppen isoliert und per Handy und App überwacht.
Die Szenarien Nummer 3 ("Ein neuer Generationenvertrag") und 4 ("Der Ausnahmezustand") sind mit einschneidenden Entbehrungen und heftigen Diskussionen zwischen Jungen und Alten in der Gesellschaft verbunden. "Sie würden auf mittlere Sicht unser Land wohl merklich verändern: Mehr Vertrauen in Technologie, stärkere Datenfreigabe und ein merkbarer Konjunktureinbruch in einigen Branchen wären die Folge." Das fünfte Szenario ("Der dauerhafte Shut-Down") hingegen ist eher als Katastrophenszenario zu bezeichnen. In diesem Szenario wird die heutige Situation bis zum Frühjahr 2021 weitestgehend fortgesetzt. Sven Gábor Jánszky weist darauf hin, dass aus virologischer Sicht dieses Katastrophenszenario womöglich sogar ein wünschenswertes Szenario ist, weil dabei voraussichtlich am wenigsten Menschen sterben. "Für das Land, seine Demokratie und die Wirtschaft wäre es wohl eine dauerhafte Katastrophe", so Jánszky.