US-amerikanische Finanzmarktrisiken auf Welttournee: Basierend auf einer Studie der Commerzbank, die im Sommer 2009 veröffentlicht wurde, wird die jüngste Finanzkrise die Weltwirtschaft bis Ende 2009 rund 10,5 Billionen US-Dollar (7,3 Billionen Euro) kosten. Je Erdenbewohner belaufen sich die Kosten damit auf etwas mehr als 1.500 Dollar. Der frühere Chefökonom der Weltbank Joseph Stiglitz für die Finanzkrise vor allem die ungenügende Regulierung verantwortlich gemacht. "Die Amerikaner können froh sein, dass die Europäer dumm genug waren, die faulen Hypothekenkredite aufzukaufen. Das Finanzsystem und die Banken haben mit ihren so genannten ‚Innovationen‘ die Risiken nicht gemanagt und begrenzt, sondern neue Risiken geschaffen - die Banken haben total versagt", so der Nobelpreisträger des Jahres 2001. Wir sprechen mit Wolfgang Hartmann, bis vor wenigen Monaten Chief Risk Officer und Mitglied des Vorstands der Commerzbank und aktuell Vorstandsvorsitzender des Instituts für Risikomanagement und Regulierung, über Risikoblindheit und Methodikschwächen im Risikomanagement und die absehbaren Regulierungsschritte für den Finanzsektor.
>> Haben tatsächlich die Methoden des Risikomanagement versagt? Oder lag das Problem nicht vielmehr darin, dass die Erkenntnisse des Risikomanagements nicht in die Entscheidungsprozesse der (strategischen) Unternehmenssteuerung einflossen?
<< Wolfgang Hartmann: Nein, die Toolbox der Risikomanagement-Methoden ist nicht verantwortlich. Das Problem liegt vielmehr in der blinden Anwendung, beispielsweise in der wirklichkeitsfremden Extrapolation vergangenheitsbezogener Daten und Zeitreihen in die Zukunft. Strukturelle Veränderungen und Wirkungszusammenhänge werden da schlichtweg ausgeblendet. So lag beispielsweise vor dem Jahr 2007 die maximale Ausfallrate für Subprime-Baufinanzierungen in den USA bei 5,5 Prozent pro Jahr, so dass die Ratingagenturen mit kalkulierten acht Prozent einen guten Risikopuffer sahen. Tatsächlich ist die Ausfallrate im Jahr 2008 aber auf über 20 Prozent angestiegen. Dies führte dazu, dass auch die AAA-Tranchen komplexer Wiederverbriefungen (sog. Subprime-CDOs) einen Totalausfall erlitten. Auch spielten etwa der Verfall der Dokumentationsstandards und die Überhitzung der US-amerikanischen Immobilienmärkte in den Modellen keine Rolle. Expertenwissen war nicht gefragt.
Gleiches gilt beispielsweise für die wirklichkeitsfremde Annahme totaler Liquidität bei der Value-at-Risk-overnight-Berechnung von Handelspositionen. Viele strukturierte Produkte haben sich in der Finanzkrise als völlig illiquide erwiesen, wie beispielsweise ABS oder LBO-Finanzierungen. Entsprechend war auch eine Glattstellung zu den VaR-Annahmen gar nicht möglich. Noch heute schlummern deshalb eine Vielzahl dieser Produkte in den Bankbilanzen und werden mit Näherungsrechnungen – "Mark to index" oder "Mark to model" – bewertet. Ob die Papiere zu diesen Wertansätzen jemals verkäuflich sein werden oder bis zur Endfälligkeit gehalten werden müssen, weiß kein Mensch. Auch bei Handelspositionen sollte deshalb in jedem Fall eine "hold to maturity"-Bewertung stattfinden. Zudem steigt auch das Counterpart-Risiko, wenn OTC-Produkte wie etwa Credit Default Swaps auf Jahre in den Büchern bleiben. ln den Planungsrechnungen von Banken spielten Verlusterwartungen bei Handelsbuchpositionen und bei Wertpapieren meist nur hinsichtlich des Zinsrisikos, aber nur selten hinsichtlich des Creditspread-Risikos eine Rolle.
>> Die Risikomanager in den Banken haben also zu stark auf Modelle gesetzt. Hätten sie vielleicht mehr auf ihr Expertenwissen, den "gesunden Menschenverstand" und potenzielle Stresspfade setzen sollen?
<< Wolfgang Hartmann: Die unkritische und kaum von Expertenwissen begleitete Anwendung von quantitativen Modellen führt in die Irre und verhindert eine angemessene Risikobeurteilung. Dies gilt insbesondere für Stresssituationen und bei einem Liquiditätsentzug. Daher ist es richtig, dass in der Neufassung der MaRisk vom September dieses Jahres die aufsichtsrechtlichen Anforderungen zum Stresstesting und zum Liquiditätsrisiko verschärft wurden.
Das Risikomanagement war vor allem methoden- und datengläubig und hat das zukunftsorientierte Expertenwissen vernachlässigt. Dennoch haben – trotz vieler Unzulänglichkeiten – bereits vergangenheitsbezogene Modellanalysen häufig große Risikopotenziale aufgezeigt, beispielsweise beim "Credit Spread"-Risiko in den Wertpapierbüchern oder dem ökonomischen Kapitalverbrauch durch Klumpenrisiken. Auch das Hedge-Risiko bei Wegfall einer Counterparty (sei es eine Bank oder ein Monoliner) konnte bereits im Vorfeld gut beurteilt werden.
>> Also waren die Entscheider schlichtweg blind für die Risikorealität und haben "Downside-Risiken" in der strategischen Steuerung ausgeblendet?
<< Wolfgang Hartmann: Aufgrund der Komplexität eines großen Bankbetriebes mit seiner Vielfalt an Produkten und Mitspielern und der damit verbundenen Zahlenüberflutung durch das Risiko-Controlling ging sicherlich bei dem einen oder anderen Risikovorstand oder bei dessen Geschäftsleitungskollegen der Blick für das Wesentliche verloren. Und insgesamt muss man sagen, dass die Unternehmenssteuerung ohnehin am liebsten "Downside-Risiken" ausblendet. Lieber ist man damit beschäftigt, schöne "Stories" für die externe Kommunikation zu entwickeln. Große Bankbetriebe stellen für die Finanzindustrie aber ein den Atomkraftwerken vergleichbares Risiko dar, wie die Lehman-Insolvenz vom 15. September 2008 eindrucksvoll belegt hat. Der Lehman-Fall hat gezeigt, dass die Insolvenz nur einer großen "Counterparty" verheerende Wirkung auf die weltweite Wirtschaft haben kann.
Hinzu kommt, dass das Risiko-Controlling und das Financial Accounting häufig wenig kompatibel sind – letzteres orientiert sich vorrangig am externen Berichtswesen, das häufig genug wenig geeignet ist, die Risiken transparent zu machen.
lnsofern müssen die Anforderungen an das interne Risiko-Berichtswesen der Bank und die Corporate Governance verschärft werden. Die Stabilität einer Bank hängt eben ganz wesentlich von dem Geschäftsmodell sowie dessen Belastbarkeit durch einen gesamten Konjunkturzyklus ab. Hat die Bank hierfür stringente "Risikoleitplanken" gesetzt? Die Finanzmarktkrise hat Schwächen im Geschäftsmodell einzelner Banken schonungslos offengelegt, etwa bei der Sachsen-LB oder der IKB, wo man die angestammte Kundenbasis zunehmend aus den Augen verloren hat. Aber auch bei der Risikofrüherkennung – beispielsweise bei der UBS, hier hat man noch lange bei Subprime Gas gegeben – und der Anpassung der Geschäftsaktivitäten (beispielsweise Abbau riskanter Positionen im Handelsbereich bei strukturierten Produkten).
>> Alan Greenspan hat einmal behauptet, dass keine Regulierung die beste Regulierung sei. Daher sind viele Banken dorthin gegangen, wo es die lascheste Aufsicht gab (Aufsichtsarbitrage). Stiglitz spricht davon, dass neben dem eigentlichen Bankensystem ein zweites Schattenbankensystem entstanden ist. Die Banken haben ihre Risiken einfach in Zweckgesellschaften ausgelagert. Viele fordern nun, dass die Banken einen Preis dafür zu zahlen haben, wenn sie (vom Steuerzahler) gerettet werden. Wie wird sich die Regulierung in der Folge der Finanzkrise verändern? Kann eine stärkere Regulierung zukünftige Blasen verhindern?
<< Wolfgang Hartmann: Zunächst einmal sollten wir alle akzeptieren, dass das konjunkturelle Auf und Ab zum Wirtschaftsleben gehört und auch positive Seiten hat. ln der Krise werden die Versager im Wirtschaftsleben beseitigt und die schöpferischen Kräfte aktiviert. Allerdings sind Blasen Übertreibungen. Sie beschädigen das Wirtschaftsleben und sollten deshalb verhindert werden. Allerdings nicht durch eine Bürokratisierung und Überregulierung der Wirtschaft, da hiermit enorme gesellschaftliche Kosten und Wachstumsverluste mit einhergehen.
Wir müssen zunächst einmal akzeptieren, dass sich die Finanzindustrie durch die Informationstechnologie und das Internet zu der weltweit am stärksten vernetzten Branche entwickelt hat. Eine solche Industrie lässt sich nicht fragmentarisch durch nationale Aufsichten regulieren. Diese können weder einen Risikoabgleich zwischen den Instituten vornehmen noch einen Gesamtblick für die Risikolage entwickeln. Zudem hat Stiglitz recht, wenn er kritisiert, dass durch die "Auslagerung" von bestimmten Wertpapieren in Zweckgesellschaften und durch die weitgehend unregulierten Hedge- und Private-Equity-Fonds ein Schattenbanksystem entstanden ist. Tatsächlich hat die Regulierung der Finanzindustrie weltweit versagt und trägt – auch wenn die Aufsicht das nur ungern hören will – eine wesentliche Mitverantwortung an der Finanzmarktkrise.
>> Können Sie das konkretisieren?
<< Wolfgang Hartmann: Durch das Zulassen des "Aus dem Auge aus dem Sinn"- Verbriefungsmodells (insbesondere in den USA) und mit dem Verfall bei den Finanzierungsstandards wurden erst die Voraussetzungen für die Blasenentwicklung geschaffen. Außerdem hat die Aufsicht SPVs und andere Finanzierungsvehikel toleriert, bei denen kurzfristig durch CPs ohne nennenswerte Eigenkapitalunterlegung langfristige Investments in komplexe Risikopapiere finanziert wurden. Die Aufsicht hat der Entwicklung immer komplexerer Finanzprodukte (insbesondere auch bei Wiederverbriefungen) zugeschaut und auch keinen Riegel vorgeschoben, als Marktteilnehmer, die nichts von den Produkten verstanden, in diese investierten.
Die Aufsicht hat zugeschaut bei der LBO-Finanzierung mit so genannten "Covenant-Light-Strukturen" und bei portfolioorientierten Immobilienfinanzierungen ohne klare Covenant-Strukturen bzw. ohne Besicherung. Neben der Aufsicht haben aber in vielen Fällen auch das Management und die Aufsichtgremien der jeweiligen Banken mehr oder weniger versagt.
>> Wie sollte es hinsichtlich Regulierung weitergehen?
<< Wolfgang Hartmann: Das Problem ist, dass es im Zuge der Globalisierung und der zunehmenden Innovationen in der Finanzindustrie und der Wirtschaft besonderer globaler Anstrengungen bedarf, um festzustellen, wo auf der Welt bzw. von welcher Assetklasse die nächste Krise ausgelöst wird. Nur eine global koordinierte Buchhaltung des Finanzsystems nach einheitlichen Standards hat hier eine Chance. Wir benötigen also ein weltweites Netzwerk abgestimmter Bankstatistik und Bankaufsicht und keine Kleinstaaterei. Globale Großbanken müssen auch von einer Supranationalen Behörde beaufsichtigt werden, zumal ansonsten die Regulierungsbüerokratie für diese Institute zu ausufernden Kosten führt. Bei der globalen Regulierung steigt allerdings das Risiko aufsichtsrechtlicher Fehlsteuerung; es hat eben globale Konsequenzen, wenn alle Player in eine Richtung reguliert werden. Beispielsweise hat man trotz der jahrelangen Vorarbeiten zu Basel II das Risiko der Prozyklizität völlig unterschätzt.
Die Forderung, dass die Banken einen Preis dafür zahlen müssen, dass sie erforderlichenfalls vom Steuerzahler gerettet werden müssen, ist nachvollziehbar aber nur schwer umzusetzen. Wenn eine Bank in der Krise ist, kann sie eben nichts mehr für die eigene Unterstützung tun – das geht nur in guten Zeiten. Es müsste also ein weltweites System zur kostenmäßigen Abdeckung von Finanzkrisen entwickelt werden. Es ist kaum wahrscheinlich, dass das gelingt. Besser als eine Kostenumlage für den Schadensfall wäre die Suche nach einem System, das solche Großschadensfälle erst gar nicht entstehen lässt. Also eine international besser abgestimmte und wirkungsvollere Regulierung.
>> Aus regulatorischer Sicht gilt: Je größer die Bank, desto höher die Eigenkapitalquote. Schützt das vor unliebsamen Systemschwächen und systemischen Risiken?
<< Wolfgang Hartmann: Selbst wenn Lehman, die HRE oder die IKB eine um einige Prozentpunkte höhere Eigenkapitalquote gehabt hätten, wären diese Banken – ohne staatliche Stützung – Pleite gegangen. Wenn eine Bank nun ihre Eigenkapitalquote um zwei Prozentpunkte aufstocken muss, dann spielt es keine Rolle, ob die Messlatte zuvor bei acht oder bei zehn Prozent gelegen hat. Wenn sie um zwei Prozent unter die jeweils kritische Schwelle rutscht, muss sie nachfüllen, da sie ansonsten ihr externes Rating und ihre Refinanzierungskraft verliert, dass heißt als Geschäftspartner nicht mehr akzeptiert wird. Wird nun aber der Level bei der Mindesteigenkapitalquote zu hoch angelegt, dann fördert man Investments in die nicht regulierte Finanzindustrie, da die Investorenrendite bei Bankinvestments sinkt. Wichtig ist also zunächst, dass man alle Schlupflöcher in die bisher nicht regulierte Bankindustrie schließt; also auch Hedge-Fonds und Private-Equity-Fonds sollten der Bankaufsicht unterstellt werden.
In diesem Zusammenhang muss erwähnt werden, dass es ohnehin fraglich ist, ob es der regulierten Finanzindustrie gelingt, wieder so viel Vertrauen aufzubauen, dass die Investoren zurückkehren. Meines Erachtens geht es also weniger um die absolute Höhe der Eigenkapitalquote, als um eine Reduzierung der Volatilität der Bankerträge. Neben einer strengeren Eigenkapital-Regulierung könnte eventuell durch eine Ertragsbelastungsbildung am "Expected Loss" mehr Stabilität erzielt werden. Hierbei müsste eine unter günstigen konjunkturellen Umfeldbedingungen niedrige Risikovorsorge zum Aufbau eines Reservefonds genutzt werden, auf den bei höherer Risikovorsorge zurückgegriffen werden kann. Dies funktioniert aber nur dann, wenn diese Reserve bei der Bemessung der Eigenkapitalquoten außen vor bleibt und die Gestaltungsfreiheiten in der Bilanzierung aufgehoben werden. Es muss also für jedes Finanzprodukt zukünftig weltweit verbindliche Regeln für die Bilanzierung geben muss. Ansonsten wird durch national verschärfte Eigenkapitalanforderungen der Wettbewerb um die weltweit günstigsten Standortbedingungen nur noch verschärft. lch bin mir sicher, dass die USA und Großbritannien auch zukünftig alles daran setzen werden, den Standortvorteil der Weltfinanzzentren New York und London weiter auszubauen. Und die Ausgangsbedingungen sind dort günstig, da die Eigenkapitalquoten ohnehin schon deutlich höher liegen als beispielsweise in Deutschland.
>> Wie beurteilen Sie die Maßnahmen der G20?
<< Wolfgang Hartmann: Zunächst einmal ist es als Erfolg zu bezeichnen, dass sich die 20 wichtigsten Länder, auf die rund 95 Prozent aller Finanztransaktionen weltweit entfallen, zusammengetan haben, um die Folgen der Finanzmarktkrise zu bekämpfen und Maßnahmen definieren, um das Weltfinanzsystem zu stabilisieren. Die von den Regierungschefs eingesetzte Arbeitsgruppe hat bereits am 25. März dieses Jahres ihre Vorschläge unter der Überschrift "Enhancing Sound Regulation and Strengthening Transparency" zusammengefasst. Zum einen wurden die Ursachen der Finanzmarktkrise kritisch beleuchtet und die Schwächen unter anderem bei den "underwriting standards", der Bedeutung systematischer Risiken, der Beaufsichtigung unregulierter Kapital-Pools (wie etwa Hedge- und Private-Equity-Funds), der Performance der Ratingagenturen, dem internen Risikomanagement der Banken, der Veröffentlichung der tatsächlich vorhandenen Risiken, der Transparenz von "over the counter"-Märkten, der Risikogegensteuerung, sowie bie Basel II und den Rechnungslegungsstandards – insbesondere hinsichtlich deren Prozyklizität – kritisiert.
Es gibt also eine Vielzahl allgemeiner Empfehlungen zur Systemverbesserung, wobei sich die europäischen Regierungen aktuell stark auf die Vergütungsthematik eingeschossen haben. Im Vordergrund stehen strengere Eigenkapitalvorschriften im Rahmen des Basel II Konzeptes, das eine Differenzierung nach dem Risikogehalt der Produkte gestattet. Aber auch mit dem undifferenzierten Leverage-Ratio will man experimentieren. Ich halte davon wenig.
Erkennbar wird, dass es ein international schwieriger Prozess bleibt, Fortschritte zu erzielen. Denn nur, wenn alle 20 Nationen zu Beschlüssen kommen, die dann auch national konsequent umgesetzt werden, besteht die Chance zu einer Veränderung. Ansonsten wird der Flickenteppich unterschiedlicher nationaler Regulierung nur noch größer. Die Banken werden die dann entstehenden Arbitragemöglichkeiten mit Sicherheit zu nutzen wissen. Solche Mammutrunden laufen zudem Gefahr, sich abzunutzen, insbesondere wenn es wirtschaftlich wieder aufwärts geht. Deshalb bin ich davon überzeugt: Nur wenn es gelingt, supranationalen Behörden wie beispielsweise der Weltbank, dem Internationalen Währungsfonds, dem Baseler Komitee oder der IOSCO Kompetenzen zu übertragen und die fragmentierte Bankenaufsicht zu harmonisieren, wird es gelingen, dauerhaft Fortschritte zu erzielen.
>> Wie kann eine Großbank "bankrottfähig" gemacht werden, ohne dass der Zusammenbruch zu einer systemischen Krise führt?
<< Wolfgang Hartmann: Ich halte den Vorschlag des britischen Finanzministers Alistair Darling für überlegenswert, dass jede Bank zukünftig ein "Testament" für das Auftreten einer Notfallsituation in der Schublade haben muss. Banken sollten aufzeigen, welche Einheiten sie in Krisensituationen schnell abstoßen können, wie Kundeneinlagen durch Übergabe an eine Drittinstitution abgesichert werden können und wie die Bank Börsengeschäfte auf eigene Rechnung innerhalb von 60 Tagen auflösen kann. Es gilt hierdurch auch einen Beitrag zur Schaffung klarer und übersichtlicher Bankstrukturen zu leisten. Auf jeden Fall geht es stets um das "Ex ante" und nicht um das "Ex post". Wenn die Bank erst einmal in die Krise geraten ist, dann muss alles sehr schnell gehen und die finanziellen Mittel sind meist schon stark angegriffen. Die Aufsicht muss deshalb auch die Früherkennung verbessern und die gesetzlichen Mittel haben, früher einzugreifen, beispielsweise wenn die Bankstrukturen nicht transparent genug oder das Geschäftsmodell zu wenig krisensicher sind.
>> Gibt es eine Risikokennzahl bzw. ein Risikomaß, die man im Geschäftsbericht zur Pflicht machen sollte?
<< Wolfgang Hartmann: Ja, der ökonomische Kapitalverbrauch sollte als Risikokennzahl zur Pflicht gemacht werden. Hierbei sollten allerdings möglichst einheitliche Standards (etwa bezüglich Konfidenzniveau, Berechnungsmethode etc.) verwendet werden. Dabei sollte der ökonomische Kapitalverbrauch möglichst in Relation zum tatsächlichen ökonomischen Ergebnis analysiert werden, wobei alle Bilanzpositionen möglichst nach ihrem "fair value" bewertet werden. Das Problem einer solchen Maßzahl wäre allerdings, dass die Ergebnisausweise der Banken noch volatiler würden. ln der Krise würden dann wohl die meisten Banken hohe Verluste ausweisen, was zwar vom Erkenntniswert interessant, aber von der Wirkung auf die Systemstabilität verheerend wäre. Insofern sollte man zunächst mit einem möglichst standardisierten Ausweis zur Risikotragfähigkeitsrechnung anhand der Gegenüberstellung des ökonomischen Kapitalverbrauchs und des verfügbaren Eigenkapitals anfangen – beispielsweise mit Detailanalysen zum ökonomischen Kapitalverbrauch für Klumpenrisiken.
>> Was halten Sie von dem Ansatz eines Risiko-Accountings an der Stelle eines "Rückspiegelblicks"? Der US-Wissenschaftler Andrew Lo fordert bereits seit einiger Zeit ein zukunftsorientiertes Risiko-Accounting - nicht zu verwechseln mit der eher vergangenheitsorientierten Risikobuchhaltung à la Wirtschaftsprüfer.
<< Wolfgang Hartmann: Andrew Lo plädiert dafür, dass losgelöst vom Accounting eine neue Abteilung etabliert wird, die sich nur auf die Frage der zukunftsorientierten Risikobewertung konzentriert. Meines Erachtens gibt es mit dem Risikocontrolling bereits in jeder Bank einen solchen Nukleus – vorausgesetzt der CRO kann unabhängig vom CFO und dem Accounting agieren. Andrew Lo hat Recht: Es gehört zur primären Aufgabe des CRO, das zukunftsorientierte Risiko-Accounting zu verbessern und damit bessere Entscheidungsgrundlagen für das Management zu liefern. Übrigens verlangen dies die jüngst überarbeiteten MaRisk in dedizierter Form. Gleichzeitig fordern diese aber auch ein "integriertes System zur Ertrags- und Risikosteuerung", also eine Gesamtbanksteuerung. Die Gefahr ist groß, dass sich das Risikocontrolling zu stark am Ergebnisausweis des Financial Accounting orientiert und weniger an der Entwicklung eines zukunftsorientierten Risiko-Accountings arbeitet. Zudem ist der Druck groß, dass der CEO und CFO lieber finanzielle Erfolge verkünden, als Risiken in die Öffentlichkeit oder zur Aufsicht zu tragen. Nur wenn es gelingt, die Rolle des CRO zu stärken und diesen zumindest in seiner Berichterstattung an den Aufsichtsrat und die Aufsicht unabhängiger zu machen, dürften wir hier Fortschritte sehen.
[Das Interview führte Frank Romeike, verantwortlicher Chefredakteur der Zeitschrift RISIKO MANAGER]
Wolfgang Hartmann, geb. am 16. August 1949 in Offenbach am Main, verantwortete bis zum Frühjahr dieses Jahres das Risikomanagement der Commerzbank. Mit neun Jahren im Amt ist er dienstältestes Mitglied des Vorstands gewesen. Er verbrachte sein gesamtes Berufsleben seit 1976 bei der Commerzbank.
Kaum einer hat so konsequent und professionell im Hintergrund gewirkt und dabei doch der Bank in den letzten Jahren seinen persönlichen Stempel aufgedrückt. Bei Kollegen und Journalisten ist er als kompetenter, humorvoller und zugänglicher Gesprächspartner bekannt, der in der Sache aber mit äußerster Konsequenz vorging.
Heute verantwortet er als Vorstandsmitglied das Institut für Risikomanagement und Regulierung.
Das komplette Interview finden Sie in RISIKO MANAGER 21/2009.
Weitere Informationen unter www.risiko-manager.com
[Bildquelle: Bernd Schaller]
Kommentare zu diesem Beitrag
"Immerhin gibt es seit gestern eine weitere Lesart der überraschenden Vorgänge im Mai. Hartmann, der auch für die Prüfung der Bücher bei der Dresdner zuständig war, habe den Kauf mit zunehmender Skepsis begleitet, wird kolportiert. Erst nach Verkündung („Signing“) Ende August 2008, aber immerhin noch deutlich vor dem Abschluss der Transaktion („Closing“) im Januar 2009, habe er gegen den Deal votiert. Hierzu habe der Kollaps von Lehman Brothers im September beigetragen, sagen Eingeweihte. „Und Hartmann kannte die Portfolios der Dresdner Bank.“ Die Skepsis des Risikomanagers wäre keineswegs unbegründet gewesen: Im vergangenen Jahr verbuchten die „Grünen“ alleine 6,3 Mrd. Euro Verlust. Bereits in der Vergangenheit war spekuliert worden, Blessing selbst habe den Deal abblasen wollen, ihn aber auf Druck der Bundesregierung durchgezogen." (Quelle Handelsblatt vom 21. Oktober 2009)