In der jüngsten Finanzkrise ist die Verwendung mathematischer Modelle wiederholt für die eingetretenen Fehlentwicklungen und Schäden mit verantwortlich gemacht worden. Die dahinter liegende Argumentationskette war ungefähr wie folgt: Die Modelle waren offensichtlich falsch, speziell das benötigte Risikokapitel wurde unterschätzt und deshalb haben Banken mehr Risiko übernommen, als sie in Wirklichkeit tragen konnten. Implizit wurde dann oft vorgeschlagen, statt auf Modelle besser auf die allgemeine Intuition zu vertrauen, also den gesunden ökonomischen Menschenverstand als Entscheidungsgrundlage zu nehmen. Im vorliegenden Aufsatz wird diese Kritik hinterfragt.
Ein ökonomisches Modell ist ein vereinfachtes Abbild der wirtschaftlichen Realität. Damit ist die entscheidende Frage, wie vereinfacht werden soll: das heißt, welche Merkmale der Realität sind zwingend notwendig (oder zumindest sehr wichtig) und welche nicht. Folglich spielen die einem Modell zugrunde liegenden Annahmen die wesentliche Rolle bei seiner Beurteilung. Diese "Erkenntnis" klingt vielleicht selbstverständlich, wird oftmals jedoch nicht hinreichend beachtet, wie sich im Laufe des Beitrages noch zeigen wird.
Annahmen sind grundsätzlich weder "richtig" noch "falsch". Oder anders ausgedrückt: Selbst die Arbeit mit Annahmen, die empirischen Beobachtungen widersprechen, kann unter manchen Umständen vertretbar sein. So werden z. B. in der Optionsbepreisung regelmäßig vollkommene Kapitalmärkte unterstellt, obwohl wir alle wissen, dass die realen Kapitalmärkte höchstens in einer gewissen Näherung den Vorstellungen eines vollkommenen Marktes entsprechen. Und selbst trotz der kontrafaktischen Annahme haben sich die in den Modellen berechneten Optionspreise als vernünftige Bewertungs- und Planungsgrößen bewährt.
Die obige Beobachtung demonstriert, dass es bei den Annahmen darauf ankommt, ob sie angemessen, vernünftig und hilfreich sind oder eben nicht. Beispielsweise verlangen unterschiedliche Zwecke typischerweise unterschiedliche Annahmen und Modelle. So werden im täglichen Cash-Management die Zahlungen über einen ganz anderen Zeitraum aggregiert als im Rahmen einer mittel- oder gar langfristigen Kapitalallokation.
Spezielle Defizite von Modellen
Bei der Verwendung von Modellen ist Vorsicht geboten, weil Modelle vielfältige Mängel haben können. Im Folgenden werden exemplarisch Defizite präsentiert und Lösungsansätze vorgestellt.
Ein erstes Problem ist, dass sich als Erfahrungswissen einfache Regeln herausgebildet haben, deren Gültigkeit irgendwann nicht mehr hinterfragt wird. So wurden offenbar die meisten Marktteilnehmer dadurch überrascht, dass in der jüngsten Finanzkrise die Märkte für ganze Produkttypen zusammen gebrochen sind. MBS und andere strukturierte Produkte erlitten erhebliche Kursverluste unabhängig von den zugrunde liegenden Vermögensgegenständen – einfach nur, weil sie Verbriefungsprodukte waren. Das schien vorher undenkbar.
Auch die Faustregel, dass solvente Banken immer Liquidität am Markt bekommen, hat sich als falsch erwiesen. Der Interbankenmarkt ist praktisch zusammengebrochen und nur die erhebliche Bereitstellung von Liquidität durch Zentralbanken hat eine noch größere Finanzkrise verhindert. Deutlich geworden ist, dass es nicht auf die tatsächliche, sondern auf die vermutete Solvenz der Banken ankommt.
Ob die Too-big-to-fail-Hypothese gilt, d. h. ob hinreichend große Banken auf jeden Fall gerettet werden, war in Wissenschaft und Praxis schon lange umstritten. In der Finanzkrise hat sich am Beispiel von Lehman Brothers zunächst gezeigt, dass auch sehr große Banken zusammenbrechen können. Anschließend wurde dann aber genau das Gegenteil verkündet. Zur allgemeinen Beruhigung wurde versichert, dass man nun nicht wieder eine große Bank zusammenbrechen lassen werde, nachdem die negativen Auswirkungen auf die Bank- und die Gesamtwirtschaft so unglaublich groß waren. Seither versucht die Politik zurückzurudern, um keinen Freibrief auszustellen, den sie am Ende vielleicht nicht wird einlösen können. Eine einfache Regel, ob systemrelevante Banken zusammenbrechen können oder nicht, gibt es also nicht.
Um nicht den Gefahren der Verwendung zu einfacheren Regeln zu erliegen, ist die Nutzung der eigenen Vorstellungskraft wichtig. Das Undenkbare muss gedacht werden, Modelle sind umfassenden Stresstests, auch auf Modellrisiken hin, zu unterziehen. Sage niemals nie, lautet die Devise.
Mangelhafte Risikomessung
Ein weiteres Problem der Verwendung von Modellen liegt im Einsatz "schlechter" Kennzahlen. So sind etwa für den sehr populären Value-at-Risk einige unerwünschte Eigenschaften längst bekannt. Beispielsweise wird durch ihn nur ein einziger Punkt der Verteilung betrachtet, bei der Berechnung mit historischer Simulation sind seine Werte nach einer ruhigen (volatilen) Periode zu niedrig (zu hoch). Bei Berechnung mit dem Varianz/Kovarianz-Ansatz werden wegen der Normalverteilungsannahme mögliche "Fat Tails" ignoriert.
Einige dieser Mängel sind heilbar, indem z. B. andere Risikomaße ausprobiert werden oder zumindest für die Berechnung des Value-at-Risk auf die Monte-Carlo-Methode übergegangen wird. Unabhängig davon kommt es aber bei der Verwendung jedes Risikomaßes darauf an, die Grenzen des Konzeptes in Schulungen und bei Ergebnispräsentationen deutlich, und möglicherweise noch stärker als bisher, herauszustellen.
Ungeeignete Funktionsverläufe
Für die Zusammenhänge zwischen Größen in einem Modell werden oft mehr oder weniger konkrete Funktionstypen gewählt. Weil damit viele Modellresultate determiniert werden, ist dieser Festlegung besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Gleiches gilt für die Kennzahlen, mit denen Zusammenhänge zwischen verwendeten Größen gemessen werden. Dazu ein Beispiel (vgl. Abb. 1).
Abb. 1: Zusammenhänge zwischen Variablen
Betrachten wir einmal den Zusammenhang zwischen den Variablen B, C und D und der Variablen A. Nehmen wir dabei an, dass es uns nur darum geht festzustellen, ob mit wachsenden Werten von A auch die Werte der anderen Variablen steigen. In vielen Untersuchungen findet man dazu die Berechnung des „normalen“ Korrelationskoeffizienten, der auf Pearson zurückgeht. Im Beispiel erhält man für den Zusammenhang zwischen A und B den Wert 0,9, für A und C 0,9243 und für A und D 0,5549. Die Interpretation wäre damit, dass die Größen B und C zwar nicht perfekt, aber doch sehr hoch positiv mit A korreliert sind, d. h. bei diesen Variablen mit größeren Werten von A die Werte für B und C tendenziell auch größer sind. Für den Zusammenhang zwischen A und D gilt das in deutlich schwächerer Weise.
Nun ist das Beispiel allerdings so konstruiert, dass die Werte für C und D – in der Grafik nicht genau erkennbar – tatsächlich von links nach rechts immer größer werden. Anders ausgedrückt sind C und D streng monoton wachsende Transformationen von A. Das wird offensichtlich nicht durch den „normalen“ Korrelationskoeffizienten erfasst, sondern durch den weit seltener verwendeten Rangkorrelationskoeffizienten, der auf Spearman zurückgeht. Er hat für die Beziehungen zwischen A und C sowie A und D den Wert 1 und für den deutlich nicht streng monotonen Zusammenhang zwischen A und B den Wert 0,9. Ursache insbesondere für das bezüglich des Zusammenhangs zwischen A und D deutlich abweichende Ergebnis der beiden Kennzahlen ist die Linearitätsannahme, die dem Pearson’schen Korrelationskoeffizienten zugrunde liegt und von vielen Verwendern übersehen wird.
Der Lösungsvorschlag ist also klar: Der Anwender muss sich vorher klar machen, ob ein linearer Zusammenhang zwischen zwei Größen überprüft werden soll oder ob allein die Monotonie wichtig ist. In Abhängigkeit davon ist die Wahl des geeigneten Korrelationskoeffizienten zu treffen.
Verwendung von Copulas
Große Probleme sind in der Finanzkrise dadurch entstanden, dass bestimmte Größen, z. B. Ausfallrisiken von Krediten, zunächst als relativ unabhängig voneinander angesehen und dementsprechend mit niedrigen Korrelationen modelliert wurden. In der Krise jedoch gab es oftmals viel stärkere Zusammenhänge, d. h. gleichgerichtete Wertentwicklungen unterschiedlicher Finanztitel bzw. -instrumente. Kritiker der Verwendung mathematischer Modelle waren dann schnell mit dem Vorwurf zur Stelle, es sei doch klar, dass in schlechten Zeiten alles an Wert verliert, unabhängig davon, ob in guten Zeiten eine weitgehende Unabhängigkeit voneinander vorgelegen habe.
Diese Kritik mag als Kritik an einzelnen oder sogar vielen konkreten Modellen gerechtfertigt sein. Sie trifft aber die grundsätzliche Verwendung mathematischer Modelle zu Unrecht. Seit langem gibt es nämlich das Konzept der Copulas, mit dem z. B. die Modellierung unterschiedlicher Grade des Zusammenhanges in "normalen" und in "schlechten" Zeiten möglich ist.
Dieses ist nicht die geeignete Stelle, um auf mathematische Hintergründe und Details einzugehen. Stattdessen mögen zwei Abbildungen genügen, um den wichtigen Punkt deutlich zu machen. Dazu stelle man sich vor, dass die Renditen zweier Finanztitel (oder auch Marksegmente) in vielen Situationen ermittelt und jeweils als Punkte in einem Diagramm eingetragen werden (vgl. Abb. 2). Ein einzelner Punkt gibt also auf der waagerechten Achse die Rendite des ersten und auf der senkrechten Achse die des zweiten Finanztitels an. Je weiter rechts bzw. weiter oben die Punkte liegen, desto höher ist folglich die Rendite des ersten bzw. zweiten Finanztitels.
Abb. 2: Normal Copulas mit unterschiedlicher Korrelation
Im Beispiel der Abb. 2 werden die beiden Renditeverteilungen mit Normal Copulas kombiniert. Die beiden Variablen sind dabei in der linken Grafik unkorreliert und haben in der rechten Grafik eine Korrelation von 0,8. In beiden Fällen sind die Zusammenhänge im rechten oberen Teil (hohe Renditen) und im linken unteren Teil (niedrigere Renditen) gleich. Insofern ist damit noch nicht sehr viel gewonnen. Verwendet man aber beispielsweise eine Clayton Copula (in Abb. 3 mit Parameter ᶿ=4), so ergibt sich ein deutlich anderes Bild.
Abb. 3: Clayton Copula
In Abb. 3 ist es so, dass die beiden Renditen im unteren Bereich sehr stark zusammenhängen. Man erkennt das daran, dass es keine sehr großen Abweichungen der Punkte von der Winkelhalbierenden gibt. Im oberen Bereich hingegen sind die Punkte sehr weit gestreut, d. h. die Renditen sind dort relativ unabhängig. Mit der Modellannahme eines Zusammenhangs, wie er durch die beispielhaft verwendete Clayton Copula abgebildet wird, kann also in einem mathematischen Modell ziemlich gut die intuitive Vorstellung umgesetzt werden, dass Renditen in schlechten Zeiten hoch korreliert sind, selbst wenn sie in guten Zeiten relativ unabhängig voneinander erscheinen. Natürlich löst dies nicht alle Probleme mathematischer Modelle; denn z. B. ist die Auswahl der "richtigen" Copula aus einer sehr großen Zahl von Möglichkeiten ein längst noch nicht endgültig geklärtes Thema. Aber immerhin zeigt sich, dass durch geeignete fortgeschrittene Modelle viele intuitive Vorstellungen gut abgebildet werden können. Fazit Mathematische Modelle erlauben, komplexe Sachverhalte übersichtlich und präzise abzubilden und dadurch mögliche Konsequenzen zukünftiger Entwicklungen abzuschätzen. Durch vereinfachende und gelegentlich realitätsfremde Annahmen wird die Bedeutung und Umsetzbarkeit der erzielten Ergebnisse natürlich eingeschränkt. Das ist aber bei unseren intuitiven Vorstellungen vom Funktionieren der Welt, die letztlich auch nichts anderes als Modelle sind, ebenso der Fall. Fortgeschrittene Methoden können manche Mängel einfacherer Modelle beseitigen, sind aber in der Entwicklung und Umsetzung tendenziell teurer und manchmal auch schwerer zu verstehen. Deshalb ist der Königsweg eine Modellierung mit Augenmaß, die empirische Fakten, allgemeine ökonomische Intuition und State-of-the-Art-Methoden ausbalanciert.
Autor:
Prof. Dr. Andreas Pfingsten, Direktor des Instituts für Kreditwesen der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.
Kommentare zu diesem Beitrag
Dankeschön für diesen mutigen und fundierten Beitrag! Ich pflichte Ihnen vollkommen bei. Modelle sind immer eine Vereinfachung der Realität und selten falsch. Viel häufiger ist der Anwender nicht in der Lage das Modell korrekt einzusetzen weil er es a) nicht vollständig verstanden hat und damit zwangsläufig b) nicht seine Grenzen kennt.
Die typischen VaR-Modelle sind hervorragend geeignet um Gewinne-/Verluste aus der normalen, täglichen Handelsvolatilität auf einen Pgronosehorizont von 1 Tag oder 1 Woche zu messen. Es sind keine Modelle für Extremrisiken, für lange Horizonte wie in der Industrie oder sonstige "Vergewaltigungen" des Ansatzes.
Leider haben genau das viele "Berater-Nasen" und vermeintliche WirtschaftsPRÜFER (??? wissen die was die da prüfen???) nicht verstanden und treiben so ihre Kunden ins Unglück!