Die aktuelle COVID-19-Pandemie ist ein Paradebeispiel für das, was der Begriff VUCA zu umschreiben sucht: Die Welt ist zunehmend unbeständig (engl. volatile), unsicher (engl. uncertain), komplex (engl. complex) und mehrdeutig (engl. ambiguous). In einem solchen Umfeld zeigt sich auf dramatische Weise, wie störanfällig Lieferketten gegenüber disruptiven Ereignissen sein können. Mit zunehmender Instabilität der Lieferketten steigt das Risiko, Marktanteile an den Wettbewerb zu verlieren oder gar aus dem Markt auszuscheiden. Um einem solchen Schicksal zu entgehen, müssen Unternehmen sich proaktiv mit Risiken und Unsicherheiten einer "VUCA-Welt" auseinandersetzen. Dafür bedarf es geeigneter Methoden und Instrumente, die das Management bei der Entwicklung widerstandsfähiger Lieferketten wirksam unterstützten, um auch Krisensituationen möglichst unbeschadet zu überstehen oder gar gestärkt daraus hervorzugehen.
Der digitale Supply Chain Zwilling: Eine fundierte Entscheidungsgrundlage zur Stärkung der Lieferketten
Ein digitaler Supply Chain Zwilling ist die Abbildung realer Lieferketten in einem Modell, das die vielschichtigen Beziehungen und Prozesse zwischen allen Akteuren entlang der Supply Chain offenlegt. Im Mittelpunkt stehen die Visualisierung, Simulation, Optimierung und Analyse des Supply Chain Netzwerkes. Ein digitaler Supply Chain Zwilling hilft Unternehmen dabei, ihre Liefernetzwerke künftig stabiler, widerstandsfähiger und flexibler gegenüber externen Störeinflüssen aufzustellen.
Durch Transparenz Schwächen in den Lieferketten aufdecken
Ein systemdynamisches Modell in Verbindung mit einer digitalen Weltkarte bilden die Liefer-, Bestell- und Informationsflüsse sowie wesentliche Entscheidungen unterschiedlicher Akteure des realen Liefernetzwerkes ab. Die Visualisierung der Komplexität und Dynamik innerhalb der Wertschöpfungskette schafft Transparenz und ermöglicht ein tieferes Verständnis hinsichtlich Design und Prozesse der Supply Chain. Strukturelle Risiken und potenzielle Schwachstellen innerhalb globaler Lieferketten werden so leichter offengelegt.
Die Stabilität von Lieferketten mit Simulation und Optimierung stärken
In einer Kombination von dynamischer und stochastischer Simulation (System Dynamics, Monte- Carlo Simulation) lassen sich auf Basis von "What-If"-Szenarien Stresstests durchführen, um mögliche Auswirkungen disruptiver Ereignisse auf die Stabilität der Lieferkette zu analysieren und alternative Risikostrategien und -maßnahmen zur Verbesserung des Supply Chain Design zu testen. Mathematische Optimierungsverfahren helfen bei der Suche nach einer bestmöglichen Supply Chain Konfiguration und nach optimalen Entscheidungsregeln, um die Supply Chain Performance zu verbessern und Krisensituationen erfolgreich zu meistern.
Die Forecast-Qualität in einem volatilen Umfeld erhöhen
In einer VUCA-Welt sind Prognosen ganz besonders schwierig. Die drastischen Verschiebungen in der Marktnachfrage nach bestimmten Gütern (z.B. Desinfektionsmittel, Seife) während der COVID-19-Krise haben gezeigt, welche negativen Folgen fehlerhafte Absatzprognosen auf die Supply Chain haben können. Vergangenheitsorientierte, rein datengetriebene Prognose-Instrumente (Trendextrapolation, Machine Learning, etc.) sind bei disruptiven Ereignissen wenig geeignet, valide Vorhersagen über zukünftige Nachfrageentwicklungen zu treffen. Bessere Ergebnisse können Forecast-Methoden liefern, die neben objektiven Daten auch subjektive Einschätzungen ("Weisheit der Vielen") in Prognosemodellen berücksichtigen. Insbesondere Verfahren der Bayes’schen Statistik erweisen sich hier als hilfreich, da sie die Abbildung der Ungewissheit von Experteneinschätzungen als Verteilung subjektiver Wahrscheinlichkeiten quantifizieren und anschließend zu einer Experten-Panel-Schätzung zusammenführen. Ein weiterer Vorzug dieser Verfahren liegt in ihrer Lernfähigkeit begründet: Neu hinzugekommene Informationen können nahtlos an die bisherigen Erkenntnisse angefügt werden und führen so zu revidierten Wahrscheinlichkeiten künftiger Ereignisse.
Den Bullwhip-Effekt abschwächen
Der Bullwhip Effekt beschreibt das Phänomen, dass sich entlang der Lieferkette Nachfrageschwankungen ausgehend vom Endkunden in Richtung vorgelagerter Zulieferstufen aufschaukeln. Während der aktuellen COVID-19-Krise konnte man die Funktionsweise dieses Effektes sehr gut am Beispiel der Nachfrage nach Toilettenpapier beobachten. Geraten Lieferanten aufgrund des Bullwhip-Effektes in wirtschaftliche Schwierigkeiten, so kann dies die Stabilität der gesamten Supply Chain zusätzlich beeinträchtigen. Ein digitaler Supply Chain Zwilling bietet die Möglichkeit, die Ursachen des Bullwhip Effektes aufzuzeigen, die Auswirkungen auf das Lieferanten-Netzwerk zu simulieren und Abwehrstrategien zu erproben.
Liquidität in Krisenzeiten absichern
Unvorhergesehene Ereignisse, wie die Ausbreitung von COVID-19, können zu negativen Auswirkungen auf Cash Flow und Liquidität führen. Zusätzlich verschärft wird dieses Problem, wenn der Spielraum für eine Optimierung des eigenen Working Capital aufgrund von Liquiditätsengpässen bei Kunden und Lieferanten entlang der Wertschöpfungskette eingeschränkt ist. Um die Liquidität und einen positiven Cash Flow abzusichern, können mit Hilfe des digitalen Supply Chain Zwillings Cost-to-Serve Analysen und Working Capital-Simulationen durchgeführt werden, um die Folgen disruptiver Ereignissen auf den Cash Flow zu untersuchen, Kosteneinsparpotenziale aufzudecken und Handlungsoptionen zur Sicherung der Liquidität zu bewerten.
Fazit
Der digitale Supply Chain Zwilling ist eine wirksame Entscheidungshilfe für Supply Chain Verantwortliche in Krisenzeiten. Er kombiniert verschiedene Methoden und Instrumente, um bestmöglich auf unvorhergesehene Ereignisse vorbereitet zu sein. Er schafft Transparenz entlang der Lieferkette und hilft dabei, Schwachstellen in der Supply Chain aufzudecken und entsprechende Risiken gezielt zu minimieren. Der digitale Supply Chain Zwilling bildet das Fundament für die optimale Gestaltung einer robusten Supply Chain in einer "VUCA-Welt", immer unter dem Blickwinkel einer ausgewogenen Balance zwischen Effizienz und Resilienz.
Autoren
Guido Wolf Reichert I BSL Management Support
Klaus Schramm I Schramm Unternehmensberatung GmbH