Wenn uns die Corona-Krise als Zeit der Entbehrungen und des Innehaltens eines verdeutlicht hat, dann ist es die schmerzliche Erkenntnis, dass wir unsere aktuelle Situation stets im Vergleich zu einer vermeintlich besseren Vergangenheit bewerten. Wie oft ertappten wir uns in den vergangenen Wochen und Monaten mit Aussagen zur Vor-Corona-Zeit als wir noch in den Urlaub fahren, Kinos besuchen, Restaurants betreten, Schwimmbäder nutzen oder uns einfach im Freundeskreis treffen durften. Subliminal bauen wir unser ganzes Leben auf einem rückwärtsgewandten "Status-quo-bias" auf, indem wir das bereits Erreichte oder Erlebte als Maßstab und Mindestmaß unserer Erwartungen an die Zukunft definieren und lediglich positive Abweichungen von diesem Erwartungshorizont gelten lassen (weiter, höher, besser, mehr).
Indem wir aber unser gesamtes Leben auf empirischen Vergleichen der Vergangenheit aufbauen und in Relation zu diesen Erfahrungen betrachten und bewerten, kommt mir unweigerlich ein wunderschönes Zitat des dänischen Philosophen und Theologen Kierkegaard in den Sinn: "Das Vergleichen ist das Ende des Glücks und der Anfang der Unzufriedenheit".
Rückwärtsgewandte (wie war es vor Corona) sowie interpersonelle (der Vergleich mit meinem Nachbarn, meinem Arbeitskollegen, meinen Freunden, etc.) Vergleiche werden uns immer unzufrieden zurücklassen. Da wir Erlebnisse der Vergangenheit gerne verklären ("Vergangenheit vergoldet") wird sich unser Vergleichsmaßstab tendenziell immer auf das vermeintlich Schönere, Bessere, Größere beziehen, dessen erneute, zu erwartende Nicht-Erreichung uns frustriert hinterlässt.
Wir geraten in die Falle einer Verklärung vergangener Erlebnisse, indem wir ausschließlich positive Sinneswahrnehmungen für unsere Vergangenheitsbewertung berücksichtigen (Songs aus den 80'er und 90'er Jahren lösen Vergangenheitserinnerungen aus, der Geruch von Zimt und Nelken lässt uns an Weihnachtserinnerungen denken, im Retrostyle produzierte Güter lassen die "gute, alte Zeit" wieder aufleben). Unsere gesamte Erinnerung wird vom sog. Salienz-Effekt geprägt und zeichnet ein de facto nie dagewesenes, verklärtes Bild, welches sich zu allem Überfluss zu unserem Beurteilungsmaßstab aufschwingt.
Überproportionale Zunahme der Unzufriedenheit
Neben dieser "Vergleichsfalle" unterstützt bei der Stilisierung der Vergangenheit der psychologische "reflection effect" zudem eine überproportionale Zunahme der Unzufriedenheit, indem wir positive Abweichungen von unserem Erwartungsniveau eher geringschätzen, negative Abweichungen aber schnell als "Katastrophe" bewerten. Denken Sie an die Situation der Corona-bedingten Grenzschließungen – nicht mehr im Ausland Urlaub machen zu können grenzte für einige Bundesbürger an eine "Verletzung ihrer Freiheitsrechte und ihrer Menschenwürde". Diese Überhöhung negativer Erwartungsabweichungen führt bereits bei kleinsten Unterschreitungen unserer Plangrößen zu umfassenden Frustrationen, die dem tatsächlichen Delta völlig unangemessen sind – statt der Interkontinentalreise eine Reise ins europäische Ausland durchführen "zu müssen", sollte die Frustrationstoleranz des Reisenden eigentlich nicht überschreiten.
Die Corona-Krise zeigt uns, dass eine rückwärtsgewandte, die Vergangenheit als Vergleichsmaßstab heranziehende Bewertung unserer Lebensumstände immer zu einer Demotivation und Unzufriedenheit führen muss. Würden wir dagegen unsere Situation ausgehend vom Ist vorwärtsgerichtet in die Zukunft beurteilen, so sähen wir auf einmal Chancen und Möglichkeiten, für die es sich zu kämpfen lohnt.
Hoffnungsvoller Blick in die Zukunft
In der psychologischen Aufarbeitung der Corona-Krise wurde der Wandel zu neuen Werten als wichtige Lehre dieser schweren Zeit erklärt. Die Covid-19 Bedrohung lässt die menschliche Hybris technologischer und medizinischer Überheblichkeit zu Makulatur werden. Dieser Virus, der unsagbares Leid über die Menschheit gebracht hat und noch bringt, demonstriert uns schmerzlich, wie schnell ein exogener Schock unsere über Jahrzehnte aufgebaute Existenz, unsere Gesundheit und unser Leben bedrohen kann. Mit dieser existenziellen Bedrohung konfrontiert, ist es nicht hilfreich in ach so schönen Vergangenheitserinnerungen zu schwelgen – die Konsequenz wäre ein Hineingleiten in Depression und Selbstaufgabe. Vielmehr müssen wir unsere, im permanenten Wachstumsfieber des letzten Jahrzehnts vergessenen, menschlichen Werte wie Zusammenhalt, Fürsorge, Glaube und Nächstenliebe reaktivieren, um aus der bedrohlichen Ist-Situation in eine hoffnungsvolle Zukunft blicken zu können. Wie keine andere Krise zuvor offenbart uns die Corona-Pandemie die Bedeutung von Mitmenschlichkeit, Familie, Freunde und Gemeinschaft. Auf diesen Werten aufbauend, können wir die Zukunft bestreiten und brauchen keinen Blick zurück in eine vermeintlich bessere Vergangenheit zu werfen. Der bekannte Schriftsteller André Gide beschreibt dieses Ablassen vom Vergangenen und Orientieren auf das Neue: "Man entdeckt keine neuen Erdteile, ohne den Mut zu haben, alte Küsten aus den Augen zu verlieren."
Die Akzeptanz der Corona-Krise bedeutet einen notwendigen Wechsel der Perspektive weg vom vergangenheitsorientierten Vergleich hin zu einem zukunftsgerichteten, innovativen, sich neu entwickelndem Zukunftsfokus. Notwendige Entwicklungspfade (Digitalisierung, Umweltschutz, Energiewandel) werden durch die disruptive Kraft dieser Krise bewusster eingeschlagen. Blicken wir nicht zurück in die Zeit vor Corona, denn dieser Blick birgt das Wagnis des Vergleichs – der Blick nach vorn aber beinhaltet die Chance des Möglichen.
Autor:
Prof. Dr. rer. pol. Matthias Müller-Reichart, Lehrstuhl für Risikomanagement der Hochschule RheinMain, Studiendekan der Wiesbaden Business School, Einzelhändler in Würzburg, Studium der Betriebswirtschaftslehre und der katholischen Theologie, Autor von über 145 Veröffentlichungen im Rahmen der Versicherungswirtschaft und des Risikomanagements und Berater zahlreicher nationaler und internationaler Versicherungsunternehmen. Im Jahre 2018 mit dem Lehrpreis der Hochschule RheinMain, Wiesbaden, ausgezeichnet. Mitglied der Redaktion des Kompetenzportals RiskNET sowie Ko-Autor des Standardwerks "Risikomanagement in Versicherungsunternehmen" (Romeike/Müller-Reichart / 3. Auflage / Wiley Verlag 2020)