Viele Unternehmen mussten in der Folge des Lockdowns der Wirtschaft während der letzten Monate erhebliche finanzielle Einbußen hinnehmen. Unternehmen mit unzureichender Risikotragfähigkeit droht gar die Insolvenz. Deshalb verklagen immer mehr Unternehmen den Staat auf Entschädigung. In einer virtuellen Diskussionsrunde sprach die RiskNET-Redaktion mit Prof. Dr. Josef Scherer, Rechtsanwalt und Professor für Krisenmanagement sowie Vorstand des Internationalen Instituts für Governance, Management, Risiko- und Compliancemanagement der Technischen Hochschule Deggendorf und Dr. Arndt Eversberg, Rechtsanwalt und Vorstand des Prozessfinanzierers Omni Bridgeway AG.
In einem internen Papier eines BMI-Mitarbeiters wird auf die Relevanz einer angemessenen Plausibilität des Krisenmanagements verwiesen. Dort heißt es: "Denn wäre schon die Plausibilität nicht gegeben, müsste schlimmstenfalls mit folgenden Konsequenzen gerechnet werden: […] Es drohen dem Staat hohe Schadenersatzforderungen wegen offenkundiger Fehlentscheidungen." Wie bewerten Sie diese Aussage aus einer juristischen Perspektive?
Josef Scherer: Diese Aussage ist durchaus schlüssig. Staatshaftung richtet sich unter anderem nach Art. 34 Grundgesetz und § 839 BGB. Der Staat, respektive in diesem Fall das Handeln der Exekutive genießt nicht das Privileg, dass rechtswidriges Handeln sanktionslos bliebe, auch wenn bei vielen Bürgern eher der gegenteilige Eindruck besteht. Dies ist möglicherweise eine weitere Ursache für eine Zunahme der Staats- und Politik-Verdrossenheit.
Arndt Eversberg: Dem stimme ich grundsätzlich zu. Jedoch darf nicht vergessen werden, dass öffentliche Institutionen meistens einen Ermessensspielraum haben, mit anderen Worten "angemessen" handeln, reagieren und entscheiden müssen. Dies ist natürlich zum einen eine zusätzliche Bürde, zum anderen aber auch ein Privileg.
Kann sich der Staat nicht darauf berufen, dass "Gefahr in Verzug" war und er keine ausreichende Zeit hatte für eine angemessene Risikoabwägung und Risikoanalyse? Es ist ja nicht ungewöhnlich, dass – beispielsweise in der Privatwirtschaft – Entscheidungen unter Unsicherheit getroffen werden. Dafür bietet das Risikomanagement einen prall gefüllten Werkzeugkasten, um seriös mit Unsicherheit umzugehen. Und erst nach einer soliden Risikoanalyse wird eine Entscheidung getroffen.
Josef Scherer: Das Bundesverfassungsgericht hat in zwei sehr aktuellen Entscheidungen vom 13.05.2020 (1 BvR 1027/20 und 1 BvR 1021/20) von einem "weiten Gestaltungsspielraum" des Staates beim Schutz widerstreitender Grundrechte gesprochen. Das Gericht hielt eine Verfassungsbeschwerde eines älteren Beschwerdeführers, der gegen die Lockerung staatlicher Corona-Maßnahmen war, für unzulässig, während ein jüngerer Beschwerdeführer weitergehende Lockerungen verlangte.
Der dritte Senat, der über den Antrag des älteren Beschwerdeführers entschied, hielt die Verfassungsbeschwerde für nicht hinreichend substantiiert. "Sie habe eben diesen Gestaltungsspielraum nicht berücksichtigt, der dem Staat zustehe, um grundrechtliche Schutzpflichten zu erfüllen. Der Gesetzgeber habe einen weiten Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum. Eine Schutzpflicht wäre nur verletzt, wenn überhaupt nichts getan werden würde oder wenn Maßnahmen offensichtlich ungeeignet oder völlig unzulänglich seien oder erheblich hinter dem Schutzziel zurückblieben. Dies sei in diesem Fall nicht ersichtlich gewesen.
Auch die vorgetragenen fachwissenschaftlichen Stellungnahmen änderten daran nichts. Diese präsentierten ausdrücklich nicht eine bestimmte Maßnahme, sondern unterschiedliche prognostische Szenarien."
Die erste Kammer entschied bezüglich der Beschwerde des jüngeren Mannes, der sich nicht zur Risikogruppe zählt, "die Grundrechte ließen einen Spielraum für den Ausgleich widerstreitender Grundrechte.
Dieser Spielraum könne mit der Zeit geringer werden, etwa bei besonders schweren Grundrechtsbelastungen und wegen der Möglichkeit zunehmender Fachkenntnisse über Risiken und anderweitige Eindämmungsmöglichkeiten. Der Beschwerdeführer hätte konkret darlegen müssen, warum er die Grundrechtseingriffe gleich wohl für verfassungswidrig halte." [Vgl. Redaktion beck-aktuell, beck online, 14.05.2020].
Ergänzend ist hier anzumerken, dass auf der einen Seite dem Staat tatsächlich zunächst wenig Zeit blieb und kaum Erfahrungen vorlagen. Auf der anderen Seite gab es unter Umständen Versäumnisse in der Vergangenheit, beispielsweise durch Negierung einer sehr guten einschlägigen Risikoanalyse, die bereits 2012 der Bundesregierung und dem Bundestag vorlag und auch in den Folgejahren zwar thematisiert wurde. Maßnahmen wurden daraus jedoch möglicherweise pflichtwidrig nicht abgeleitet.
Relevant würden aber vor allem Versäumnisse während des Krisenverlaufs. Angemessene wissenschaftlich nicht angreifbare Methoden der Risikoanalyse und Stochastik wurden unter Umständen zum Teil gar nicht oder falsch angewandt.
Die kritischen Stimmen mehren sich diesbezüglich sehr stark. Daher sind mit zunehmendem zeitlichem Ablauf der Krise an die Prüfung der Geeignetheit und Verhältnismäßigkeit der einzelnen Maßnahmen hohe Anforderungen zu stellen. Sollte dies nicht angemessen erfolgt sein oder erfolgen, wäre m. E. bereits ein schuldhafter Pflichtverstoß gegeben.
Arndt Eversberg: Wir stimmen sicherlich überein, dass der Staat seine Bürger nicht vorsätzlich schädigt. Er muss jedoch seine Entscheidungen auf einer sachlich fundierten Basis treffen und gegenläufige Interessen und Werte zutreffend abwägen. Im Fall von Corona ist äußerst fraglich, ob es ausreichende und richtige, d.h. evidenzbasierte Informationen überhaupt gab, auf deren Grundlage die Bundesregierung Entscheidungen treffen konnte. Das Auftreten von Covid-19 zeichnete sich durch zwei Besonderheiten aus: erstens die Schnelligkeit der Verbreitung, nachdem es nicht gelungen war, einzelnen Infektionsherde zu isolieren, und zweitens die Neuheit des Virus, dessen Aggressivität und Verbreitungswege bis dato weitgehend unbekannt waren. Auf dieser unsicheren Sachlage musste die Bundesregierung handeln und tat es auch.
Es ist in der Praxis doch nichts Neues, dass Fakten oder evidenzbasierte Informationen nicht vorliegen. Das ist die Arbeitswelt eines Risikomanagers. Wer nun meint, dass wir die Antworten wegen der unsicheren Datenlage eben nicht wissen, versteht nicht, was eine Risikoanalyse ist. Risikoanalysen braucht man, weil die Zukunft unsicher ist und eine Entscheidung unter Unsicherheit notwendig ist. Die Methoden dafür existieren seit Jahren. Kann der Staat sich darauf berufen, dass er im Rahmen der Entscheidung über unvollkommene Informationen verfügte und daher eine Risikoanalyse gar nicht möglich war?
Josef Scherer: Nein, denn das ist bei der Bewertung von Risiken ja der Regelfall. Die Methoden des Risikomanagements, beispielsweise die deterministische oder stochastische Szenarioanalyse bieten hier etablierte und exzellente Werkzeuge zum Umgang mit unsicheren Szenarien. So können die Wahrscheinlichkeiten potenzieller Szenarien seriös antizipiert werden. Hierzu gehört auch, dass die Wirkungen unterschiedlicher Maßnahmen simuliert werden können. Eine solche Simulation potenzieller Maßnahmen und deren Wirkungen hat scheinbar nicht stattgefunden. Hier hat auch der Bundesgerichtshof in seiner IKB-Entscheidung [BGH, 13.12.2011 – XI ZR 51/10] schon Ausführungen bezüglich der Anforderungen an eine Risikoanalyse gemacht. Der Sachverhalt betraf Kreditentscheidungen im Rahmen und im Umfeld der Finanzkrise. Diese Entscheidung wurde von Rechtsexperten hinsichtlich der Anforderungen an eine Risikoanalyse umfassend kommentiert [Vgl. beispielsweise Rack, Sammelband: Aufsätze zu Compliance].
Arndt Eversberg: Eine Simulation setzt technisch zunächst einen Versuchsaufbau voraus, um selbige vornehmen zu können. Diesen hatte die Bundesregierung nicht, da die Pandemie in einer solchen Wucht und Breite in Deutschland noch nie aufgetreten war. Es gab nur Erfahrungen aus dem Ausland und zwar in negativer (Italien und Spanien) sowie positiver (Singapur und China) Weise. Anhand dieser Beispiele galt es zu antizipieren, was (a) ohne Maßnahmen passieren würde und (b) mit spezifischen Maßnahmen abgewendet werden würde. Aufgrund dessen wurde ein Maßnahmenpaket geschnürt, dass sich in einer ex post Sicht als erfolgreich und richtig erwiesen hat.
Josef Scherer: Was ist mit der Risikoanalyse "Pandemie durch Virus Modi-SARS" des BMI (Drucksache17/12051)? Risikomanagement beschäftigt sich in der Regel immer mit Szenarien, die in der Vergangenheit noch nicht eingetreten sind. Alles andere wäre ein Blick in den Rückspiegel. Und perfekte Informationen hat man in der Realität so gut wie nie. Und daher können Risikoanalysen mit schlechten Datengrundlagen umgehen und helfen, die tatsächlich verfügbaren Informationen optimal auszuwerten. Ich habe bis heute keine fundierte Risikoanalyse im Zusammenhang mit Covid-19 gesehen, die unterschiedliche Szenarien aufzeigt und vor allem Maßnahmen abwägt.
Welche Voraussetzungen müssten nun erfüllt sein, dass ein Staat gegenüber Unternehmen und seinen Bürgern für Schäden resultierend aus dem Lockdown haftet?
Josef Scherer: Sehr stark vereinfacht und nicht juristisch vertieft kann man die Voraussetzungen wie folgt zusammenfassen: Pflichtverletzung, Verschulden, Schaden und ein entsprechender Kausalzusammenhang müssen vorliegen. Eine Hürde könnte zudem sein, dass bei Klagen gegen staatliches Handeln der Rechtsweg, um sich dagegen zu wehren, ausgeschöpft sein muss, falls dies möglich und zumutbar war.
Arndt Eversberg: Die Aufzählung macht auch einem Nicht-Juristen deutlich, wie schwer es sein würde, den Staat in eine Haftung zu zwingen. Im Rahmen der Covid-19 Bekämpfung sind hunderte, wenn nicht tausende Einzelmaßnahmen ergangen, die im Einzelfall geprüft werden müssten. Inzwischen sind die Maßnahmen auf Länderebene verlagert und werden wohl in Kürze (beispielhaft Thüringen) weiter partikularisiert. Und das ist auch gut so. Im Gegensatz zu autoritären Staaten, die die Pandemie mit der Aussetzung demokratischer Prinzipien und der Missachtung der Bürgerrechte bekämpfen, garantiert unser Bundesstaatsprinzip eine landesspezifische Vorgehensweise, die im Ergebnis zu angemessenen, da regional und lokal spezifischen Entscheidungen führen kann.
Lassen sich die Anforderungen aus der gesetzliche kodifizierten "Business Judgement Rule", die eine haftungsausschließendes, pflichtkonformes Verhalten des Vorstands definiert, auch auf den Staat übertragen? Für ein Unternehmensorgan liegt eine Pflichtverletzung dann vor, "wenn das Vorstandsmitglied bei einer unternehmerischen Entscheidung vernünftigerweise annehmen durfte, auf der Grundlage angemessener Information zum Wohle der Gesellschaft" gehandelt zu haben. Oder anders formuliert: Der Vorstand trifft eine Entscheidung, ohne zuvor diese mit einer methodisch fundierten Risiko- und Chancenanalyse abzuwägen.
Josef Scherer: Meines Erachtens ist § 93 Abs. 1 Satz 2 Aktiengesetz als Norm nicht direkt oder analog anwendbar. Gleichwohl steckt dahinter eine allgemeine und schlüssige Anforderung an die Methode für pflichtgemäßes Entscheiden und Handeln. Wichtig ist, die verfügbaren Informationen gewissenhaft zu sammeln: Und zwar auch Informationen über wissenschaftliche Erkenntnisse und Methoden, soweit relevant.
Auch die Risikobewertung muss basierend auf angemessenen Methoden erfolgen.
Anschließend muss eine Entscheidung im Sinne der zu schützenden Rechtsgüter erfolgen. Hier tauchen durchaus immer mehr – unter Umständen berechtigte – Zweifel auf. Was ist mit der bereits erwähnten Risikoanalyse aus dem Jahr 2012 passiert? Welche Diskussionen gab es hierzu im Bundestag? Sind angemessene Methoden korrekt angewandt worden? Sind die Entscheidungen und Maßnahmen differenziert genug gewesen? Und: Was ist mit dem zu schützenden Rechtsgut?
Hier beginnt eine Diskussion, die meines Erachtens in der Vergangenheit zum Teil nicht sehr objektiv und sachlich geführt wurde. Ein Rechtsgut ist sicherlich der "Schutz der Menschen vor durch Corona verursachte Todesfälle".
Gleichwohl ist zu fragen, ob dieser Schutz um jeden Preis zu erzielen ist oder vielmehr die Grundrechte auf Leben anderer nicht zu differenzierten Zielsetzungen führen müssten: Schützenswert ist auch Leib und Leben anderer, im Zusammenhang mit dem Kollateralschaden und die Folgen aufgrund der Schutzmaßnahmen für nicht Erkrankte: Hier gibt es bereits Erkenntnisse, dass nicht nur durch Corona, sondern auch durch die Folgen der Lock-down-Maßnahmen zahlreiche Todesfälle aufgrund beispielsweise Verschieben anderer dringend nötiger medizinischer Versorgungsmaßnahmen, Suizid, Schädigung der Infrastruktur (nicht nur in Entwicklungsländern) etc. zu beklagen sein werden.
Diese Diskussion scheint gerade erst zu beginnen.
Arndt Eversberg: Diese absolut notwendige Diskussion sollte jedoch auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse erfolgen, die es erst einmal zu erlangen gilt. Selbst das renommierte Robert Koch Institut weist darauf hin, dass man nach nunmehr vier Monaten zwar mehr über das Virus wisse, jedoch immer noch Ansichten "hier und dort" revidieren und anpassen müsse. Das zeigt eindeutig, dass die derzeitige Datenlage viel zu dünn ist, als das eine sinnvolle Auseinandersetzung und Bewertung möglich wäre.
Bezogen auf die Haftung von Vorständen und Unternehmensorganen muss die Geschäftsführung die Entscheidungsoptionen zweifelsfrei identifizieren können, d.h. es bedarf eines funktionierenden Risikomanagements, welches vor allem eine methodisch fundierte Analyse potenzieller Risiken beinhaltet. Muss nicht auch der Staat nachweisen, dass er über solche Instrumente des Risikomanagements verfügt? Oder darf der Staat im "Blindflug" Maßnahmen definieren, die beispielsweise auch diverse Grundrechte einschränken?
Josef Scherer: Natürlich darf der Staat nicht im Blindflug Maßnahmen definieren. Vielmehr hat er angemessen die richtigen Instrumente des Risikomanagements richtig einzusetzen. Gleichwohl steht ihm, wie oben bereits angemerkt, durchaus auch ein Entscheidungsspielraum zu, der jedoch pflichtgemäß genutzt werden muss und mit fortschreitender Zeit und Mehrung des Wissens kontinuierlich abnimmt.
Im "Recht der Unternehmen" stehen tatsächlich aufgrund der gesetzlichen Regelung die Manager in der Beweislast.
Bei staatlichem Handeln gilt diese sinnvolle Beweisregel u. U. nicht einmal analog. Hier sollte über eine Änderung der Regeln diskutiert werden.
Arndt Eversberg: Diese Fragen haben gegebenenfalls die Gerichte zu klären, deren Prozessordnungen klare Beweislastregelungen vorsehen. Richtig ist allerdings auch, dass beispielsweise Amtshaftungsklagen erfahrungsgemäß viel geringere Erfolgsaussichten haben als sonstige Zivilverfahren.
Herr Eversberg, Sie sagen, dass der Staat im Augenblick alles tue, um betroffene Unternehmen finanziell über Soforthilfeprogramme, Darlehen, Bürgschaften und Kurzarbeitergeld zu unterstützen und ihr Fortbestehen zu sichern. Reicht das aus, um ihn aus einer möglichen Haftung zu befreien?
Arndt Eversberg:Über die staatlichen Maßnahmen lässt sich trefflich streiten, für den einen sind sie zu viel, für den anderen zu wenig. Unbestreitbar dürfte jedoch sein, dass der Staat finanzielle Unterstützung in einem Ausmaß gewährt, das es noch nie gegeben hat und die Ressourcen des Staates extrem belasten. Weitere Ausgaben werden im Rahmen einer europäischen Hilfe bereits diskutiert und dürften in Kürze in ebenfalls sehr großer Höhe folgen. Die Finanzhilfen rangieren von der Unterstützung Selbständiger in Höhe von einigen tausend bis einigen zehntausend Euro über eine Unternehmensbeteiligung bei der Lufthansa in Höhe von 9 Milliarden Euro bis zu einem europäischen Rettungspaket von – wie von Deutschland und Frankreich vorgeschlagen – von 500 bis 750 Milliarden Euro. Es ist in einer solchen Situation schlechterdings nicht vorstellbar, dass Klagen Einzelner auf Schadensersatz gegen den Staat Erfolg haben werden. Eine Diskussion darüber ist daher aus meiner Sicht wohl eher rein akademischer Natur.
Man stellt sich die Situation zweier Schiffbrüchiger vor, deren einzige Rettung ein umhertreibendes Brett ist, welches jedoch nur eine Person tragen kann. Einer der beiden Schiffbrüchigen tötet den anderen, um die rettende Planke für sich zu sichern und anschließend gerettet zu werden. Das "Brett des Karneades" bildet – als philosophisches Gedankenexperiment – die aktuelle Situation des Staates recht gut ab. Auch bei den politisch definierten Covid-19-Maßnahmen geht es im Kern um die Rettung einzelner Personengruppen (basierend auf den Fakten liegt das Durchschnittsalter in den meisten Ländern bei über 80 Jahren und nur circa 1% der Verstorbenen hatten keine ernsthaften Vorerkrankungen), wofür man andere Risiken billigend in Kauf nimmt. Eine Risikoanalyse – als Basis für Maßnahmen – ist bis heute nicht vorhanden bzw. veröffentlicht. Demgegenüber fordert das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 5. Mai 2020 bzgl. der Staatsanleihen-Käufe der EZB eine angemessene Abwägung von Maßnahmen mit negativen Folgen. Wie ist beim Gedankenexperiment "Brett des Karneades" die Rechtslage nach deutschem Strafrecht? Darf der Helfende frei entscheiden kann, wen er retten will?
Josef Scherer: Das "Brett des Karneades" steht für Dilemma-Situationen. Aus dieser Metapher sind für diverse, unterschiedliche Konstellationen angemessene rechtliche und ethische Bewertungen abzuleiten. Der Helfende darf eben gerade nicht frei entscheiden, wenn auf mehreren Seiten schützenswerte Rechtsgüter auf dem Spiel stehen, insbesondere, wenn es dieselben Rechtsgüter sind, wie beispielsweise Gesundheit und Leben. Eine Abwägung über Quantifizierung verbietet sich sogar aufgrund Art. 1 GG: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Dies hat das BVerfG u. a. bereits im Jahr 2006 entschieden.
Arndt Eversberg: Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 5. Mai diesen Jahres ist zunächst ein Urteil über Kompetenzen, oder besser, fehlenden Kompetenzen der Europäischen Union zur Umsetzung des PSPP. Das Gericht fordert daneben Entscheidungen auf "Grundlage einer wertenden Gesamtbetrachtung". Hätte die Bundesregierung in der Corona Krise danach gehandelt, so hätte sie durchaus zu weniger einschneidenden Maßnahmen auf Kosten von Menschenleben kommen können. Betrachtet man die aktuelle Situation in den USA, so erscheint dies die Handlungsmaxime von Donald Trump zu sein. In Deutschland hingegen ist das höchste Gut in Art. 1 des Grundgesetzes definiert. Unsere so verankerte Menschenwürde verbietet dem Staat eine Güterabwägung zwischen mehr Toten für weniger wirtschaftliche Einbußen, selbst auf der "Grundlage einer wertenden Gesamtbetrachtung".
In einem Urteil vom 15. Februar 2006 hat das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber aufgezeigt, dass das deutsche Luftsicherheitsgesetz (LuftSiG) einer verfassungsrechtlichen Prüfung in einem wesentlichen Punkt nicht Stand gehalten hat. Hier ging es um die Frage: Darf man eine Passagiermaschine abschießen, um anderen Menschen das Leben zu retten? Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts lautete "Nein". Wenn unbeteiligte Passagiere Gefahr laufen, Kollateralschaden eines solchen Abschusses zu werden, wird gegen das im Grundgesetz verankerte Recht auf Leben und damit gegen die Menschenwürde verstoßen. Lässt sich dieses Urteil indirekt auf die aktuellen Covid-19-Maßnahmen übertragen, wo der Staat bewusst Kollateralschaden in Kauf nimmt, um einzelne Personengruppen zu retten?
Josef Scherer: Dies ist sicher eine schwierige Frage. Insbesondere ist zu untersuchen, wo es bei den Corona-Konstellationen Parallelen und wo Unterschiede zu dem bereits entschiedenen Fall des Bundesverfassungsgerichts zum Luftsicherheitsgesetz gibt. Jedoch sollte diese Frage dringend viel breiter und objektiver diskutiert werden. Nicht nur von Juristen, Politikern oder Virologen.
Arndt Eversberg: Dieser Vergleich ist intellektuell interessant, scheinen doch auf den ersten Blick zwei völlig unterschiedliche Situationen vorzuliegen. Schaut man genauer hin, ist dem aber nicht so: Es erscheint vielmehr erneut eine Abwägungsfrage zu sein. Die ist es aber eben dann doch wieder nicht, folgt man – richtigerweise – dem in der zitierten Entscheidung ausgesprochenen Abwägungsverbot von verschiedenem qualitativem und quantitativem Leben gegeneinander. Letztlich stößt das Recht bei solchen Fragen an seine Grenzen und übrig bleibt die Gewissenfrage des Entscheiders, wie auch die Problematik der "Triage", also der Entscheidung von Ärzten, wem sie in der Corona Krise ein lebensrettendes Beatmungsgerät zukommen lassen und wem dann gleichzeitig eben nicht, eindrücklich gezeigt hat.
Gibt es Beispiele für Urteile, in denen der Staat zum Schadensersatz verurteilt wurde, die eine Blaupause für die aktuelle Situation bieten?
Josef Scherer: Meines Erachtens ist es schwierig, von Blaupause zu sprechen.
Zum einen sieht unser deutsches Recht anders als das anglo-amerikanische Rechtssystem eigentlich keine Kasuistik oder Case law vor. Jeder Fall ist anhand von kodifizierten abstrakten Regeln individuell zu beurteilen. In einzelnen Tatbestandsvoraussetzungen mag es aber durchaus schon Parallelen geben, die ein Gericht auch ähnlich beurteilen könnte. Letztendlich ist es zur jetzigen Zeit auf Basis der bisherigen Information noch zu früh, sich in die eine oder andere Richtung festzulegen.
Bezüglich der Frage nach Schadensersatz ist möglicherweise die Beschäftigung mit der Bundesgerichtshofsentscheidung zur IKB im Zusammenhang mit der Finanzkrise sowie den zahlreichen nachfolgenden Veröffentlichungen zu den Anforderungen an Risikoprognosen recht hilfreich.
Keinesfalls kann man meines Erachtens zur jetzigen Zeit statuieren, dass Schadensersatzansprüche gegen Corona-Maßnahmen sicher Erfolg haben oder sicher keinen Erfolg haben werden. Die Fälle sind zu individuell und die Informationen, was richtig und was falsch gelaufen ist und warum etwas falsch gelaufen ist, noch zu spärlich.
Als ehemaliger Richter kann ich auch aus eigener Erfahrung feststellen, dass jeder Fall individuell ist und auch so beurteilt wird. Die letzte irdische Instanz ist immer auch das letztentscheidende Gericht.
Dass sogar bzgl. der Frage, wer zuletzt entscheidet, komplexe Fragen und rege Diskussionen auftauchen, zeigten unlängst die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu den Maßnahmen der EZB und die Beurteilung durch den Europäischen Gerichtshof. Der Europäische Gerichtshof sieht laut einer Mitteilung vom 08.05.2020 durch das Urteil des BVerfG das Justizsystem der EU gefährdet.
Arndt Eversberg: Ich stimme ihnen insoweit zu, dass es am Ende immer Einzelfallentscheidungen sind (die sogar dazu führen können, dass zwei Kammer am gleichen Landgericht dieselbe Sache unterschiedlich beurteilen, so geschehen in Urteilen zum Dieselskandal). "Blaupausen" im wörtlichen Sinn bieten die hier bereits genannten Urteile daher nicht. Wie oben ausgeführt, folgere ich jedoch aus der Gesamtsituation ausgelöst durch Covid-19, dass Schadensersatzklagen Einzelner gegen den Staat keinen Erfolg haben werden. Solche werden daher von uns auch nicht finanziert.
[Die Diskussionsrunde moderierte Frank Romeike | Chefredakteur und geschäftsführender Gesellschafter RiskNET GmbH]
Interviewpartner:
Prof. Dr. Josef Scherer, Rechtsanwalt, Professor für Krisenmanagement, Vorstand des Internationalen Instituts für Governance, Management, Risiko- und Compliancemanagement der Technischen Hochschule Deggendorf. Zuvor arbeitete er als Staatsanwalt und Richter am Landgericht an diversen Landgerichten. Mitglied diverser ISO- / DIN- / ASI-Normenausschüsse.
Rechtsanwalt Dr. Arndt Eversberg ist seit 20 Jahren in der Prozessfinanzierungsbranche tätig und hat tausende Zivilklagen finanziert, aber auch abgelehnt. Erst kürzlich haben die ROLAND-ProzessFinanz AG, Omni Bridgeway und die australische Gesellschaft IMF Bentham fusioniert und firmieren nun weltweit unter dem Namen Omni Bridgeway. Mit zwei Milliarden Euro liquiden Mitteln und seinen 18 Standorten in Asien, Australien, Kanada, Europa, dem Nahen Osten, Großbritannien und den USA, ist Omni Bridgeway der neue Marktführer unter den Prozessfinanzierern.