"Das Ziel der Wissenschaft ist es immer gewesen, die Komplexität der Welt auf simple Regeln zu reduzieren." Dieses Zitat stammt von Benoît B. Mandelbrot. Wie wenigen gelang es ihm, der Mathematik eine neue Ästhetik und Einfachheit zu verleihen. Sein Bestseller "Die fraktale Geometrie der Natur" war eher das Buch eines Künstlers, brachte aber gleichzeitig sehr weitreichende Erkenntnisse für die Risikoforschung.
"Wolken sind keine Kugeln"
Das Leben des 1924 in Warschau geborenen Wissenschaftlers war erfüllt von einer Frage: Wie misst man in der Natur vorkommende Muster, die mit der klassischen Mathematik der perfekten geometrischen Formen einfach nicht zu begreifen sind?
"Wolken sind keine Kugeln, Berge keine Kegel, Küstenlinien keine Kreise und Rinde ist nicht glatt, so wie auch der Blitz nicht auf einer Geraden unterwegs ist", sagte Mandelbrot einmal. Doch welche Gestalt hat ein Berg, eine Küstenlinie oder ein Fluss? Welche Form hat eine Wolke oder eine Flamme? Und wie lässt sich im übertragenen Sinne die Volatilität von Preisen darstellen?
Schon in früher Jugend entwickelte er die außergewöhnliche Fähigkeit, komplexe mathematische Aufgaben über geometrische Visualisierung zu lösen. Das alles geschah in bewegten Zeiten: Noch vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs emigrierte Mandelbrot mit seiner litauisch-jüdischen Familie 1936 nach Paris. Diese Erlebnisse prägten auch seine mathematische Gabe, die "ich auf meiner Flucht bei der Betrachtung von Pflanzen und Bäumen entwickelte". Die Aufnahmeprüfung zur École Polytechnique in Paris bestand er 1944 mit Bravour. "Das Problem, das wir als Aufgabe erhielten, ließ sich ganz einfach lösen, wenn man es nicht in kartesischen, sondern in sphärischen Koordinaten fasste. Aber ich war der einzige Kandidat in ganz Frankreich, der das damals gesehen hat."
Ende der 1950er Jahre begann Mandelbrot seine Karriere in den USA in der Forschungsabteilung des Thomas J. Watson Research Center bei IBM. Seine insgesamt 35-jährige Tätigkeit für den Computerkonzern schilderte der spätere Mathematikprofessor rückblickend als "Goldenes Zeitalter": "Ich fand Erfüllung in scheinbar weit auseinanderliegenden Themen, die keinem üblichen Muster folgten und daher weithin als bizarr angesehen wurden."
Nicht überall wurde er verstanden. So galt Benoît B. Mandelbrot zeit seines Lebens in der Welt der Mathematik als Exot. Er blieb ein "Maverick" – ein Einzelgänger, Querdenker und Nonkonformist. Formale Sätze und Beweise spielten für ihn nur eine untergeordnete Rolle.
Die Mandelbrot-Menge
Schon als Heranwachsender hatte Mandelbrot den deutschen Naturphilosophen, Mathematiker, Astronomen und Astrologen Johannes Kepler bewundert. Kepler hatte sein interdisziplinäres Wissen genutzt und drei Gesetze der Planetenbewegung entwickelt. Benoît B. Mandelbrots Jugendtraum war es, etwas von ähnlich weitreichender Bedeutung zu entdecken. Und das gelang ihm auch mit der Entwicklung der nach ihm benannten Mandelbrot-Menge. Diese stellt ein Muster dar, um die in der Natur immer wiederkehrenden Unebenheiten als fraktale Mengen zu berechnen und zu visualisieren. Dies geschah 1978 mit der als Apfelmännchen berühmt gewordenen Computeranimation.
Die als formenreichstes geometrisches Gebilde bezeichnete Mandelbrot-Menge zeigt, dass fraktale Mengen und Unebenheiten, so unter schiedlich sie auch sein mögen, einige charakteristische Eigenschaften aufweisen.
So erkennt man beim Hineinzoomen die feinen Verästelungen, die sich bei näherer Betrachtung auch im Kleineren unendlich wiederholen. Die Kontur eines noch so kleinen Ausschnitts im Apfelmännchen gleicht immer einer Küstenlinie.
Mit der fraktalen Dimension führte Mandelbrot einen Koeffizienten ein, mit dem erstmals die Rauheit und Komplexität von Formen und sogar von nichtlinearen Ereignissen quantitativ beschrieben werden konnte. Das Besondere am filigranen und vielschichtigen Formengebilde des Apfelmännchens ist, dass die dahintersteckende Gleichung für Mathematiker alles andere als komplex ist: f(z) = zn2 + c. Die Mandelbrot-Menge M ist die Menge aller komplexen Zahlen c, für die die rekursiv definierte Folge komplexer Zahlen z0, z1, z2, … mit dem Bildungsgesetz zn+1 := zn2 + c und der Anfangsbedingung z0 := 0 beschränkt bleibt, das heißt, der Betrag der Folgenglieder wächst nicht über alle Grenzen.
Märkte zwischen Risiko, Rendite und Ruin
Heute werden diese Erkenntnisse unter anderem in der Medizin, in den Geowissenschaften, der Seismologie, der Bildverarbeitung und bei Spezialeffekten im Kino eingesetzt. Doch auch die Finanzwirtschaft konnte aus diesen Erkenntnissen Rückschlüsse ziehen: Hätten die Marktteilnehmer in den vergangenen Jahrzehnten häufiger auf Benoît B. Mandelbrot gehört, dann wären sie wohl nicht so oft von den turbulenten Ereignissen überrascht worden. Der Erfinder der fraktalen Geometrie verglich die Akteure an den Finanzmärkten mit Seefahrern. Wenn diese ein Schiff bauen, dann interessieren sie sich nicht dafür, wann genau der nächste Sturm kommt. Sie bauen das Schiff so robust, dass es jeden denkbaren Sturm überlebt. Die Finanzmarktakteure hingegen, so Mandelbrot, verhalten sich so, als gäbe es nur Sonnentage. Sie kalkulieren ihre Risikotragfähigkeit basierend auf einem Sicherheitsniveau von 99 oder 99,5 Prozent und blenden damit gerade die Extremereignisse ("fat tails") aus, die im Sturm zum Sinken des Schiffes führen werden. Mandelbrot wurde nicht müde, immer wieder darauf hinzuweisen, dass die wahren Risiken von den in der Praxis verwendeten Modellen systematisch unterschätzt werden. Bei der Finanzmarkttheorie handele es sich um eine "falsche Wissenschaft". An den Märkten entschieden die extremen Ereignisse über Gewinn und Verlust, nicht die "normalen" Kursschwankungen, so Mandelbrot. Er wies nach, dass die Preisschwankungen der Finanzmärkte nicht durch eine Normalverteilung, sondern durch eine Lévy-Verteilung beschrieben werden können, die in der Theorie ähnlich wie die Mandelbrot-Menge eine unendliche Varianz aufweist.
Die Gauß'sche Normalverteilung, als die bis dahin weitgehend etablierte Wahrscheinlichkeitsfunktion, ließ dagegen Statistiker, Klimaforscher und Kapitalmarktakteure regelmäßig in dieselbe Falle tappen: Sie nehmen an, dass Wahrscheinlichkeiten glockenförmig verteilt sind und Abweichungen von einer Norm umso seltener auftreten, je größer sie sind. Und damit lagen sie regelmäßig schief, wie Benoît B. Mandelbrot gut zwei Jahre vor der großen Finanzkrise auf der 1. Risikomanagement-Konferenz von Union Investment im Jahr 2006 erklärte. "Der Aktiencrash vom 19. Oktober 1987 hätte nie passieren dürfen", so Mandelbrot. Bei einer auf Normalverteilung basierenden Berechnung lag die Wahrscheinlichkeit für einen Tagesverlust im Dow Jones in Höhe von knapp 30 Prozent bei 1 zu 1050 – eine Eins mit 50 Nullen.
In Bezug auf die Normalverteilungsannahme kritisierte Mandelbrot auch das weitverbreitete Risikomaß Value at Risk: "Dass ich nicht lache. Der Value at Risk soll das potenzielle Risiko anzeigen? […] Wenn Sie sich anschauen, wie das Risiko von verschiedenen Finanzprodukten gemessen wird, stellen Sie fest, dass fast alles unter der Annahme der Normalverteilung beurteilt wird. Deshalb wird das Risiko systematisch unterschätzt. Ich hoffe, dass meine Theorie der Fraktale eines Tages so leicht anwendbar sein wird wie die Normalverteilung. Dann werden Sie sehen, dass das Risiko in Wahrheit viel größer ist." Mandelbrot war überzeugt, dass die meisten Risikotheoretiker bis dahin den falschen Weg beschritten hatten. "Mein ganzes Leben war eine Risikostudie", so Mandelbrot. Benoît B. Mandelbrot hielt im Frühjahr 2010 seinen letzten Vortrag, den er mit den Worten beendete: "Unergründliche Wunder entspringen einfachen Regeln unentwegt wiederholt."
Der Vater des Apfelmännchens und der Fraktaltheorie starb am 14. Oktober 2010 im US-amerikanischen Cambridge. Mandelbrot hat uns die Augen geöffnet, dass Fraktale den Kern des Lebens bilden und hinter dem scheinbaren Chaos der Rauheit eine beeindruckende Ordnung existiert. Dank seiner fraktalen Geometrie können wir nun das Buch der Natur ein Stück besser verstehen.
Autor:
Frank Romeike, Jahrgang 1968, ist geschäftsführender Gesellschaft er und Gründer des Kompetenzportals RiskNET und war zuvor Chief Risk Officer bei IBM. Er hat in Deutschland und England Wirtschaftswissenschaften, Psychologie und Mathematik studiert. Er hat Lehraufträge zum Thema Stochastik und Risikomanagement an verschiedenen Universitäten und Hochschulen angenommen.
[Quelle: Der Text ist ein Auszug aus dem Buch "Die Vermessung des Risikos" (Union Investment, Frankfurt 2015)]