Wir konnten gespannt sein, was das Weltwirtschaftsforum in seinem diesjährigen Global Risk Report zu den Risiken unserer Gesellschaft schreiben wird. Leben wir doch in einer vermeintlich dystopischen Welt der Kriege, des ökologischen Zusammenbruchs und des globalen ökonomischen und sozialen Chaos. Oder etwas moderater formuliert: in einer Zeit der "Polykrisen".
Die 18. Ausgabe des Berichts soll die schwerwiegendsten wahrgenommenen Risiken für die Volkswirtschaften und Gesellschaften in den nächsten zwei Jahren identifizieren. Wahrlich keine leichte Aufgabe. Der Bericht stützt sich auf den jährlichen Global Risks Perception Survey. Diese Umfrage wird bei 1.200 Risikoexperten aus dem Netzwerk des Weltwirtschaftsforums durchgeführt.
Ein "globales Risiko wird definiert als Möglichkeit des Eintretens eines Ereignisses oder Zustands, dass im Fall des Eintritts ein erheblicher Anteil des globalen BIP, der Bevölkerung oder der natürlichen Ressourcen negativ beeinflussen würde". Die Forscher vom Centre for the Study of Existential Risk der Cambridge University sehen in diesen "Risiken im Zusammenhang mit neuen und künftigen Technologien, Auswirkungen menschlicher Aktivitäten, globalen Sicherheitsbedrohungen und Naturkatastrophen globalen Ausmaßes eine Bedrohung für das das Aussterben der Menschheit oder den Zusammenbruch der Zivilisation".
Alte Risiken treffen auf Neue
Das Besondere der heutigen Zeit ist nach Auskunft des Forums das Aufeinandertreffen von "älteren" und "neueren" Risiken. Alte Risiken sind beispielsweise Inflation, Handelskriege, Kapitalabflüsse aus Schwellenländern, oder geopolitische Konfrontationen. Neue Risiken werden zum Beispiel in der Verschuldung der Staaten, in der Wachstumsschwäche oder der sog. De-Globalisierung identifiziert. Zusammengenommen könnten diese Risikofaktoren ein einzigartiges, unsicheres und turbulentes Jahrzehnt prägen, das vor uns liegt, so das Forum.
Die "Krise der Lebenshaltungskosten" wird als das schwerwiegendste globale Risiko in den nächsten zwei Jahren eingestuft. Der Verlust der biologischen Vielfalt und der Zusammenbruch von Ökosystemen sind hingegen eines der wesentlichen globalen Risiken in den nächsten zehn Jahren (Abb. 01). Klima- und Umweltrisiken stehen im Mittelpunkt der globalen Risikowahrnehmung für das nächste Jahrzehnt. Es sind die Risiken, auf die wir am wenigsten vorbereitet zu sein scheinen.
Abb. 01: Globale Risiken, geordnet nach Schweregrad auf kurze und lange Sicht [Quelle, WEF Global Risks Report, S. 6]
Die Inanspruchnahme öffentlicher und privater Ressourcen aus anderen Krisen wird das Tempo und den Umfang der Klimaschutzbemühungen in den nächsten zwei Jahren verringern. Gleichzeitig werden unzureichende Fortschritte bei der Anpassungshilfe erzielt, die für die zunehmend von den Auswirkungen des Klimawandels betroffenen Gemeinschaften und Länder erforderlich ist.
Auffällig ist, dass die meisten kurz- und langfristigen Risiken aus dem Bereich Umwelt resultieren. Unmittelbare wirtschaftliche Risiken tauchen in der Risikolandkarte nicht auf. Dennoch werden Wirtschaftskriege zur Norm werden. Der Bericht prognostiziert für die nächsten zwei Jahren Zusammenstöße zwischen globalen Mächten. Die Befragten gehen davon aus, dass zwischenstaatliche Konfrontationen in den nächsten zehn Jahren weitgehend wirtschaftlicher Natur sein werden. Der jüngste Anstieg der Militärausgaben und die Verbreitung neuer Technologien für ein breiteres Spektrum von Akteuren könnte ein globales Wettrüsten mit neuen Technologien auslösen.
Der Technologiesektor wird eines der Hauptziele einer stärkeren Industriepolitik und verstärkter staatlicher Interventionen sein. Für Länder, die es sich leisten können, werden diese Technologien Teillösungen für eine Reihe von aufkommenden Krisen bieten. Das betrifft beispielsweise die Bewältigung neuer Gesundheitsbedrohungen oder von Kapazitätsengpässen im Gesundheitswesen bis hin zur Verbesserung der Ernährungssicherheit und des Klimaschutzes. Für diejenigen, die es sich nicht leisten können, werden Ungleichheit und Divergenz zunehmen.
Die immer stärkere Verflechtung von Technologien mit dem kritischen Funktionieren von Gesellschaften führt dazu, dass die Bevölkerung direkten innenpolitischen Bedrohungen ausgesetzt ist. Nach Ansicht des Forums werden Angriffe auf die Landwirtschaft und die Wasserversorgung, die Finanzsysteme, die öffentliche Sicherheit, den Verkehr, die Energieversorgung und die häusliche, weltraumgestützte und unterseeische Kommunikationsinfrastruktur erwartet.
Gleichzeitige Schocks, eng miteinander verknüpfte Risiken und eine schwindende Widerstandsfähigkeit lassen das Risiko von Polykrisen entstehen. Die bisherige Strategie, jedes Risiko getrennt zu betrachten und dann für jedes Einzelrisiko Krisenvorsorge zu treffen, ist in einer vernetzten und durch wechselseitige Abhängigkeiten geprägten Welt nicht mehr sachgerecht. Der Bericht arbeitet heraus, dass die Risiken nicht etwa zufällig zusammenfallen. Das Besondere ist, das die Krisenüberlagerung eine erwartbare Folge der bestehenden Kontextbedingungen globaler Wirtschaft und nicht nachhaltiger Lebensformen sei.
Die Nutzung der Interkonnektivität zwischen globalen Risiken kann die Wirkung von Maßnahmen zur Risikominderung verstärken (Abb. 02). Da die Regierungen mit konkurrierenden sozialen, ökologischen und sicherheitspolitischen Belangen konfrontiert sind, müssen sich die Investitionen in die Widerstandsfähigkeit auf Lösungen fokussieren, die mehrere Risiken abdecken. Das betrifft zum Beispiel die Finanzierung von Anpassungsmaßnahmen, die gleichzeitig einen Nutzen für den Klimaschutz und die Entwicklung haben.
Abb. 02: Globale Risikolandschaft [Quelle: World Economic Forum, Global Risks Perception Survey 2022-2023, WEF Global Risks Report, S. 10]
Dass Institutionen solche Berichte wie den Global Risk Report veröffentlichen hat einen Nutzen. Wir werden auf Risiken aufmerksam gemacht, die wir zuvor nur als singuläres Risiko wahrgenommen haben. Durch die dargestellte Häufung und Bedeutung der einzelnen und kumulierten Risiken besteht die Gefahr, dass damit nunmehr die ultimative Aufmerksamkeit erreicht werden soll. Das altgriechische Wort κρίσις (krísis) bedeutet ja "Entscheidung": Wenn die Krise da ist, dann muss endgültig gehandelt werden. Die Inhalte des Berichts sollen uns leicht in Alarmstimmung versetzen. Ob in einer solchen Situation schneller und wirksamer gehandelt wird, kann diskutiert werden. Der Münchener Soziologe Armin Nassehi hat es in seinem jüngsten Buch "Unbehagen" auf den Punkt gebracht: "Verhaltensänderung und Zustimmung sind dann möglich bzw. steigen, wenn sich die entsprechenden Lösungen praktisch bewähren." (S. 330) Insofern hinterlässt der aktuelle Risikobericht nach der Lektüre ein eher ambivalentes Verhältnis auf eine hochgradig brisante Lage.
Autor:
Dr. Silvio Andrae