Im Frühjahr keimten Hoffnungen: Die Krise am Finanzmarkt schien überstanden. Nun aber ist es schlimmer gekommen als befürchtet. Gleich zwei Schwergewichte der Wall Street kamen am "schwarzen Montag" zu Fall: Die viertgrößte US-Investmentbank Lehman Brothers fand keinen Retter und stellte am Montag Antrag auf Gläubigerschutz, die ebenfalls angeschlagene Merrill Lynch wird für 50 Mrd. USD in Aktien vom Wettbewerber Bank of America übernommen. Nachdem Bear Stearns bereits vor zwei Monaten an J.P. Morgan gegangen ist, sind in den USA damit nur noch zwei der ehemals fünf großen Investmentbanken übrig: Neben J.P. Morgan Chase & Co ist dies die Goldman Sachs Group Inc. Die beiden Unternehmen legen in den kommenden beiden Tagen ihre Bilanzen für das dritte Quartal vor. Die Zahlen werden mit Spannung erwartet. An den Börsen reagierten die Finanztitel weltweit mit hohen Verlusten auf den "schwarzen Montag". "Mit der Insolvenz von Lehman Brothers ist ein Horrorszenario Wirklichkeit geworden", sagt ein Kreditanalyst. Trotz der Hinweise in der vergangenen Woche hätten die meisten Investoren nicht wahrhaben wollen, dass die Federal Reserve respektive das US-Finanzministerium das Institut tatsächlich in die Pleite gehen lassen würden.
Der Kursrutsch bedeutet auch eine Bedrohung für die schweizerische UBS. Nachdem der Kurs auf den tiefsten Stand seit 1998 gerutscht ist, könnte die Züricher Bank wieder in den Blickpunkt von Fusionsspekulationen geraten. Die Chancen für einen möglichen Verkauf des Investmentbankings gehen nach den jüngsten Ereignissen deutlich zurück. UBS hält ähnliche Hypothekenaktiva wie Merrill Lynch und Lehman Brothers. Investmentbanken seien extrem unattraktive Ziele, sagte ein ehemaliger hochrangiger UBS-Manager. Besser überstanden hat Wettbewerber Credit Suisse Group den Schock. Überschattet wird der Markt zudem von der Entwicklung beim US-Versicherer American International Group (AIG). Nach einem Minus von rund 40 % in der Eröffnung sacken AIG im Verlauf weiter ab, bis zum Abend büßte der Titel 65,4 % ein. Der nach der Allianz SE weltgrößte Erstversicherer arbeitet unter Hochdruck an einem Rettungsplan, der den Verkäuf der werthaltigsten Vermögenswerte ebenso einschließt wie die Suche nach neuen Investoren und die kurzzeitige Hilfe der US-Notenbank. Es gibt sogar Überlegungen, Mittel zur Deckung der versicherten Risiken als Sicherheiten für den Konzern anzuzapfen. Ein Zusammenschluss von zehn großen Banken, darunter die Deutsche Bank, kündigte an, 70 Mrd. USD zur Verfügung zu stellen, um Liquiditätsengpässe von Banken abzufedern. Unklar ist bislang, ob die US-Notenbank zur Bereitstellung eines Überbrückungsdarlehens bereit ist.
Bei Lehman jedenfalls wollte die US-Regierung - anders als bei Bear Stearns und den beiden Immobilienfinanzierern Fannie Mae und Freddie Mac - nicht einspringen. Sie nahm vielmehr einen dramatischen Kollaps in Kauf. Angesichts der Turbulenzen hat die US-Notenbank Maßnahmen zur Unterstützung der Finanzmärkte angekündigt. Damit sollen "die potenziellen Risiken und die Störungen des Marktes abgeschwächt werden", erklärte Fed-Chairman Ben Bernanke. Unter anderem will die Federal Reserve weitere Sicherheiten für die Ausgabe von Notfalldarlehen akzeptieren als bisher, wie die Zentralbank mitteilte. US-Finanzminister Henry Paulson sieht gegenwärtig eine schwierige Phase an den Finanzmärkten, deren Wurzel in der Korrektur am Häusermarkt liege. "Es ist wichtig, dass die Aufsichtsbehörden wachsam bleiben, wir sind sehr wachsam", sagte Paulson bei einer Pressekonferenz im Weißen Haus. Es sei wichtig, die Stabilität des Finanzsystems zu gewährleisten. Seiner Einschätzung nach bedürfe es an den Märkten eines Gleichgewichts zwischen der Marktdisziplin einerseits und der Regulierung andererseits. Das Bankensystem der USA bezeichnete der Finanzminister dennoch als gesund. Die Lage bei Bear Stearns im März sei anders gewesen als bei Lehman Brothers im September, erklärte der Finanzminister, allerdings ohne auf die Unterschiede näher einzugehen. Er habe niemals erwogen, die Mittel der Steuerzahler für die Rettung von Lehman Brothers einzusetzen, erklärte Paulson weiter. "Ich nehme 'Moral Hazard' nicht auf die leichte Schulter", sagte er. Die US-Notenbank hatte im Zuge der Rettungsaktion von Bear Stearns illiquide Wertpapiere der Bank abgesichert und war für diese Rettungsaktion weithin kritisiert worden. Die Notenbank würde durch ihre Interventionen Banken dazu ermutigen, höhere Risiken einzugehen, hatte es geheißen.
Die US-Regierung arbeitet nach den Worten von US-Präsident George W. Bush daran, die Folgen der Finanzmarktturbulenzen auf die breitere Wirtschaft zu verringern. "Das Weiße Haus und die ganze Administration durchweg sind darauf fokussiert, die Folgen der Finanzmarktentwicklungen auf die breitere Wirtschaft zu minimieren", sagte Bush am Montag nach dem Zusammenbruch der Investmentbank Lehman Brothers. Kurzfristig gebe es zwar "schmerzhafte" Anpassungen an den Märkten, langfristig betrachtet sei die US-Wirtschaft aber flexibel und widerstandsfähig.