Der französische Ministerpräsident Valls und sein italienischer Kollege Renzi haben erklärt, dass sie den 2012 neu vereinbarten Fiskalpakt nicht einhalten und wieder mehr Schulden machen wollen. Daran ändern auch neue Vorschläge nichts. Ihre Erklärung sollte daher Anlass sein, über die Konstruktion der Europäischen Währungsunion nachzudenken.
Damit eine Währungsunion stabil ist und es nicht zu Schuldenexzessen kommt, sind zwei Modelle denkbar, ein Sozialisierungsmodell und ein Haftungsmodell.
Nach dem Sozialisierungsmodell werden die Schulden der Einzelstaaten kollektiv durch die gemeinsame Zentralbank oder fiskalische Rettungssysteme abgeschirmt, so dass für die Anleger Investitionssicherheit besteht und die Zinsspreads zwischen den Ländern weitgehend verschwinden. Damit dies nicht zu mehr Verschuldung führt, werden politische Schuldenschranken vereinbart.
Nach dem Haftungsmodell ist jeder Staat für seine eigenen Schulden zuständig, und bei Konkurs haben die Gläubiger das Nachsehen. Angesichts der Gefahr für ihr Geld verlangen die Gläubiger frühzeitig hohe Zinsen oder geben keine weiteren Kredite, was eine Disziplinierung der Schuldner impliziert.
Europa hat die Sozialisierung probiert. Einerseits wurde den Krisenländern großzügiger Beistand in Form des Rettungsschirms ESM, der Target-Kredite (1.000 Mrd. Euro aus den lokalen Druckerpressen) und eines kostenlosen Schutzversprechens der EZB (OMT) gewährt. Andererseits wurde 2012 der Fiskalpakt geschaffen, der verlangt, die Schuldenquote jährlich um ein Zwanzigstel des Abstandes zu 60 Prozent des BIP zu kürzen.
Die USA verfolgen demgegenüber das Haftungsmodell. Wenn ein Teilstaat wie derzeit Kalifornien, Illinois oder Minnesota am Rande der Pleite steht, kommt niemand zur Hilfe, auch nicht die Zentralbank. Anders als die EZB kauft die Fed keine Papiere der Teilstaaten des US-Systems. Im Konkursfall müssen die Investoren Verzicht leisten. New York hat 1975 seine zukünftigen Steuereinnahmen verpfändet, um zahlungsfähig zu bleiben.
Die USA waren nicht immer so strikt. Nach ihrer Gründung hatte der erste Finanzminister Alexander Hamilton 1791 die Schulden der Einzelstaaten zu Bundesschulden gemacht, und 1813, beim zweiten Krieg gegen Britannien, wurden die Schulden abermals sozialisiert. Hamilton bezeichnete die Schuldensozialisierung als "Zement" für den neuen amerikanischen Staat. Doch war das Resultat eine Kreditblase, die 1837 platzte und neun von 29 amerikanischen Staaten und Territorien in den Konkurs trieb. Die ungelöste Schuldenproblematik verschärfte die Spannungen wegen der Sklavenfrage, die 1861 den Sezessionskrieg auslösten. Insofern war die Vergemeinschaftung eher Sprengstoff als Zement für den neuen amerikanischen Staat, wie der amerikanische Historiker Harold James vermerkt.
Erst nach dem Sezessionskrieg verabredeten die US-Staaten, ihre Föderation fortan nach dem Haftungsmodell zu betreiben. Dieses Modell hat ihnen bis heute Stabilität gebracht und die Verschuldung der Einzelstaaten wirksam begrenzt.
Das Verhalten Frankreichs und Italiens zeigt in aller Deutlichkeit, dass das Sozialisierungsmodell auch in Europa nicht funktioniert. Statt zu fallen, wie vertraglich vereinbart, wird die französische Schuldenquote von 2012 bis zum Ende dieses Jahres von 91 Prozent auf 96 Prozent gestiegen sein und jene Italiens gar von 127 Prozent auf 135 Prozent. Weitere Zuwächse werden für die Folgejahre erwartet.
Deshalb sollte die EZB der Fed folgen und auf das OMT-Programm verzichten, zumal dieses Programm nach Meinung des deutschen Verfassungsgerichtes ohnehin nicht im Einklang mit den EU-Verträgen steht. Ferner sollte eine Goldtilgung der Target-Schulden eingeführt werden, wie sie in den USA bis 1975 für die Tilgung der Salden zwischen den Distrikten des Federal-Reserve-Systems üblich war. Vielleicht sollte man auch den Fiskalpakt zur Disposition stellen. Diese Maßnahmen werden den Investoren glaubhaft klarmachen, dass sie bei einem drohenden Konkurs nicht auf eine Rettung mit der Druckerpresse hoffen können, und sie veranlassen, höhere Zinsen zu verlangen oder Kredite gar nicht erst zu vergeben. Das wird die Disziplin der Schuldenländer stärken und Europa vielleicht gerade noch rechtzeitig vor einer Schuldenlawine bewahren, die das europäische Integrationsprojekt zerstören würde.
Autor:
Hans-Werner Sinn, Professor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft, Präsident des ifo Instituts
[Quelle: ifo Standpunkt 160, 29. Oktober 2014, erschienen unter dem Titel "Zwei Modelle für Europa", Handelsblatt, Nr. 208, 29. Oktober 2014, S. 48, und unter dem Titel "Europe’s Brush with Debt" bei Project Syndicate]
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Die Europäische Zentralbank (EZB) sollte ihren geldpolitischen Stimulus nach Aussage der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) verstärken. In ihrem aktuellen Weltwirtschaftsausblick rät die OECD der EZB zu einer Politik der "Quantitativen Lockerung", was sie mit der "überaus schwachen Konjunktur" und dem "Deflationsrisiko" begründet. Ihre Wachstums- und Inflationsprognosen sind weitaus pessimistischer als jene, die die EZB im September abgegeben hat und in der kommenden Woche revidieren wird.
Ein direkter Vergleich der Prognosen zeigt, welche "Fallhöhe" die EZB-Stabsprojektionen haben, die am 4. Dezember anstehen und den Hintergrund der dann zu treffenden geldpolitischen Entscheidungen bilden werden. So erwartet die OECD für die Jahre 2014 bis 2016 Inflationsraten von 0,5, 0,6 und 1,0 Prozent. Die EZB-Stabsprojektionen sehen dagegen noch Teuerungsraten von 0,6, 1,1 und 1,4 Prozent vor.
EZB-Präsident Mario Draghi hat die Bereitschaft des EZB-Rats zu zusätzlichen geldpolitischen Maßnahmen betont und als einen möglichen Auslöser solcher Maßnahmen eine weitere Eintrübung des Inflationsausblicks genannt. Offiziell strebt die EZB mittelfristig knapp 2 Prozent Inflation an.
Auch die Konjunkturerholung, die eine wichtige Voraussetzung höherer Inflationsraten, wird nach Einschätzung der OECD schwächer als bisher von der EZB erwartet ausfallen. Sie prognostiziert für 2014, 2015 und 2016 einen Anstieg des Bruttoinlandsprodukts (BIP) um 0,8, 1,1 und 1,7 Prozent. Die EZB-Stabsprojektionen sehen 0,9, 1,6 und 1,9 Prozent Wachstum vor.