Inhärente systemische Risiken im Finanzsystem

Steigende Prozyklizität und sinkende Risikopuffer


Das Finanzsystem ist inhärent prozyklisch, so die Wirtschaftsweisen in ihrem jüngsten Jahresgutachten (Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung: Jahresgutachten 2008/09). In Boomphasen mit niedrigen Zinsen und steigenden Vermögenspreisen werden Risken tendenziell unterschätzt, der Wert von Sicherheiten überschätzt und die Kreditvergabe zu stark ausgeweitet. Auf niedrige Zinsaufschläge reagieren die Finanzakteure mit Produktinnovationen, die es ihnen erlauben, den Verschuldungsgrad weiter zu erhöhen und damit die Eigenkapitalrendite zu steigern. Die Wirtschaftsweisen ergänzen: Als Konsequenz steigt der Leverage im gesamten System und die Institute werden zunehmend anfällig selbst für kleine Preiskorrekturen.

Der notwendige Abbau des exzessiven Leverage in der Rezession verstärkt diese zusätzlich. Diese grundsätzliche Prozyklizität des Finanzsystems wurde in den letzen Jahren durch die Regulierung sogar noch erhöht. So werden im Jahresgutachten die folgenden Punkte aufgeführt:

  • Die mit Basel II eingeführte Risikogewichtung von Aktiva führt dazu, dass in wirtschaftlich guten Phasen eine geringere Eigenkapitalquote benötigt wird. Die Risikogewichte werden über externe oder interne Ratings abgebildet, die typischerweise in Boomphasen längerfristige Risiken unterschätzen, und in Abschwungphasen nach unten korrigiert werden müssen. Da der Eigenkapitalbedarf der Banken im Aufschwung geringer ausfällt als im Abschwung, kommt es zunächst zu einer verstärkten Kreditexpansion, auf die dann jedoch eine entsprechend größere Kontraktion folgt. Die Amplitude des gesamtwirtschaftlichen Zyklus nimmt zu.
  • Die bilanziellen Bewertungsrichtlinien für Finanzaktiva wurden in den letzten Jahren zunehmend auf die Bewertung nach Marktpreisen (Fair Value) umgestellt. Mit der Implementierung der IFRS (International Financial Reporting Standards) im Jahr 2004 wurde für Banken auf diese Weise die Möglichkeit geschaffen, unrealisierte Gewinne in ihren Bilanzen auszuweisen. Das erhöhte in guten Zeiten das Eigenkapital und damit den Kreditschöpfungsspielraum des Finanzsystems. Im Vergleich zu einer Bilanzierung, bei der keine unrealisierten Gewinne ausgewiesen werden dürfen, fällt dann der Einbruch in wirtschaftlich schlechten Zeiten entsprechen stärker aus, was ebenfalls die Prozyklizität des Systems erhöht.
  • Die Securities and Exchange Commission (SEC, für die Kontrolle des Wertpapierhandels in den Vereinigten Staaten zuständig) hat im Jahr 2004 für die großen US-Investmentbanken (mit Aktiva von mehr als 5 Mrd Dollar) die Vorschrift gestrichen, die sie bis dahin verpflichtet hatte, ihre Verbindlichkeiten nicht über das Zwölffache des Eigenkapitals auszuweiten, wobei zur Berechnung der Aktiva Abschläge (Haircuts) gemäß ihres Risikogrades vorgenommen werden mussten.
  • Im Bereich der Eigenkapitalunterlegung von Marktrisiken, das heißt Bilanzrisiken die sich nicht primär aus der mangelnden Bonität eines Kreditnehmers sondern durch Verluste aus den Schwankungen von Vermögenspreisen ergeben, gewannen quantitative Modelle zur  Risikoeinschätzung eine zunehmende Bedeutung. Da diese Modelle notwendigerweise auf Daten der Vergangenheit zurückgreifen müssen, um beispielsweise sogenannte Value-at-Risk-Maße zu bestimmen, besteht die Tendenz, eine temporär geringere Volatilität der Marktpreise, wie sie während Aufschwungphasen typisch ist, als Beleg für eine dauerhafte Reduktion des Risikos anzusehen. Damit sinkt im Aufschwung die für bestimmte Positionen notwendige  Eigenkapitalunterlegung.


Die Probleme beim Marktrisikomanagement wurden in den letzten Jahren zu nehmend dadurch erschwert, dass bei vielen Finanzinnovationen eine Unterscheidung zwischen Marktrisiko und Kreditrisiko schwierig ist.

Prozyklizität von Basel II

Die prozyklische Wirkung der Eigenkapitalregulierungen von Basel II wurde in der Wissenschaft schon seit einigen Jahren erkannt und führte zu intensiven Auseinandersetzungen (Blum und Hellwig, 1995; Borio et al., 2001; Goodhart et al., 2004; Gordy und Howells, 2006; Taylor und Goodhart, 2006). Das zugrunde liegende Problem entsteht, weil die Mindesteigenkapitalanforderungen unter Basel II sehr viel stärker als unter Basel I davon bestimmt werden, wie die Risiken der einzelnen Bilanzpositionen eingeschätzt werden. Diese Eigenschaft von Basel II wird unter Effizienzgesichtspunkten von allen Beteiligten positiv gesehen, denn die sehr groben Raster von Basel I hatten Verzerrungen in der Wahl von Anlagen und Anreize zur Regulierungsarbitrage zur Folge. Dennoch kann eine erhöhte Risikosensitivität auch zu einer höheren Volatilität des Eigenkapitals und zu einer geringeren Stabilität des Systems beitragen. Denn die Mindeststandards greifen in Zeiten steigender Vermögenspreise üblicherweise nicht, wirken jedoch stattdessen umso restriktiver, wenn es tatsächlich zu einem starken Rückgang der Vermögenswerte kommt. Zur Risikobewertung können unter Basel II entweder externe Bewertungen von Rating-Agenturen oder aber interne Risikomodelle von Banken verwendet werden. Grundsätzlich streben die Rating-Agenturen eine Bewertung der langfristigen Bonität der Schuldner und ein stabiles Rating im Zyklus an. Bei kleineren und als temporär eingestuften Veränderungen der Bonität wird die Bewertung nicht sofort angepasst. Vielmehr sollte das Konzept des „Rating through the Cycle“ über die fundamentale Ausfallwahrscheinlichkeit von bewerteten Unternehmen und Wertschriften Auskunft geben und nicht einfach den Marktbewertungen oder dem Konjunkturzyklus folgen (Altmann und Rijken, 2005).

In der Praxis und besonders bei schweren Krisen gelingt dies jedoch typischerweise nicht. In Schwächephasen werden die Ratings zurückgestuft und in Boomphasen steigen sie an. Diese prozyklischen Muster der Bewertungen sind vielfach untersucht und belegt worden (Monfort und Mulder, 2000; Amato und Furfine, 2004) und sie werden sowohl für interne wie für externe Ratings beobachtet, wobei sie bei internen Ratings sogar noch ausgeprägter sein können. Gemäß einigen Studien werden die Bewertungen von internen Risikomodellen schneller angepasst und sind im Endeffekt noch volatiler als die Ratings der Agenturen, so die Wirtschaftsweisen. Der prozyklische Effekt einer Regulierung, die sich auf schwankende Risikomaße stützt, ist damit im System von Basel II angelegt.

Im Jahresgutachten 2008/09 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung sind einige Vorschläge aufgeführt, wie die Prozyklität von Basel II vermieden oder zumindest abgemildert werden kann. Grundsätzlich lassen sich zwei Arten von Gegenmaßnahmen unterscheiden:

Regelbasierte Eingriffe modifizieren die Berechnung der Mindestkapitalstandards, indem sie entweder die Inputs (Risikogewichte) über die Zeit glätten, die Übertragungsfunktion zwischen Input und Output abschwächen oder indem sie das Resultat (die berechnete Eigenkapitalanforderung) selbst an weitere Variablen knüpfen.

Ein theoretisches Beispiel wäre eine Regel, bei der die Eigenkapitalanforderung mit der relativen Output-Lücke variiert: Im Aufschwung würden die Eigenkapitalanforderungen automatisch ansteigen und im Abschwung absinken. Theoretisch könnte damit ein zusätzlicher automatischer Stabilisator ins System eingebaut werden. Die praktische Schwierigkeit dieser Regel besteht darin, dass die Output-Lücke nicht beobachtbar und in Echtzeit schwierig zu bestimmen ist. Ähnliches gilt für alternative Maße, die beispielsweise auf die Abweichung der aktuellen Immobilienpreise von fundamentalen Werten abstellen. Die Bestimmung von fundamentalen Werten für Vermögenspreise ist mit mindestens so vielen Unsicherheiten behaftet wie die der Output-Lücke. Die grundsätzlichen Vorteile jeder regelgebundenen Modifikation der Eigenkapitalregulierung sind durchaus vergleichbar mit jenen einer regelgebundenen Geldpolitik: Eine einmal festgelegte Regel schreibt eine automatische und deshalb glaubwürdige Reaktion der regulierenden Behörde vor. Sie ist gegen Druck der Politik oder Zeitinkonsistenz des Regulators immun und stabilisiert die Erwartungen und letztlich das Verhalten der Banken. Der Nachteil einer Regelbindung ist, dass sie voraussetzt, dass die zugrundeliegenden Prozesse bekannt sind sowie laufend und vollständig abgebildet werden können. Wie die oben genannten Beispiele zeigen, ist dieses Erfordernis in der Praxis schwer zu erfüllen.

Diskretionäre Eingriffe haben den Vorteil, dass sie flexibel eingesetzt werden können, wenn die Aufsicht zur Überzeugung kommt, dass ungleichgewichtige Prozesse im Gang sind. Borio und Shim (2007) zeigen, dass bereits einige Länder von solchen diskretionären Eingriffen Gebrauch machen, wobei die Gründe wie auch die konkreten Maßnahmen von Land zu Land variieren. In einigen Ländern reagierte die Aufsicht auf Sorgen über das schnelle Wachstum von Hypothekarkrediten oder von Konsumkrediten oder Überhitzungen in speziellen Branchen. Die zweite Säule von Basel II sieht vor, dass die Aufsicht die Eigenkapitalanforderungen auch über 8 vH hinaus erhöhen kann, falls sie zum Schluss kommt, dass in einem Institut beispielsweise aufgrund eines wenig diversifizierten Geschäftsmodells größere Puffer erforderlich sind. Der Fokus der Aufseher und der gesamten bankaufsichtsrechtlichen Regulierung ist jedoch das einzelne Institut. Systemische Fragen und Rückwirkungen auf den gesamtwirtschaftlichen Zyklus sind hingegen kaum im Blickfeld.


[Text: Eigener Text basierend auf: Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung Statistisches Bundesamt: Die Finanzkrise meistern - Wachstumskräfte stärken, November 2008]


Kommentare zu diesem Beitrag

Stefan /21.11.2008 17:30
Eine super Analyse, die vor vielen Jahren bereits in der Wissenschaft immer wieder diskutiert wurde. Die Bundesbank hat zur steigenden Prozyklizität immer wieder Analysen veröffentlicht. Leider hat sich niemand dafür interessiert, da das Renditedenken über die Risiken gesiegt hat. Ich bin gespannt, ob man aus der Krise lernt und bei der zukünftigen Modifiaktion, bspw. von Basel II, diese Erkenntnisse berücksichtigt.
KingGeorge /24.11.2008 18:46
Systemische Risiken hin oder her. Ohne den Dilettantismus der staatlichen Landesbanken und ohne das Versagen der staatlichen Bankenaufsicht hätte es dieses Ausmaß der Finanzkrise nicht gegeben.
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