Die Finanzkrise hat vor allem gezeigt, dass viele Marktteilnehmer systematisch die schmerzhaften Folgen von Extremereignissen unterschätzen. Sowohl private und institutionelle Anleger erlebten nicht nur überraschend starke Einbrüche in allen Anlageklassen, sie erfuhren auch, dass selbst breit gestreute Portfolios nicht die Verlustabsicherung erzielten, die man sich versprach. Anlageklassen, die über lange Zeiträume in der Vergangenheit niedrige Korrelationen aufwiesen, bewegten sich fast gleichförmig nach unten – mit der Folge, dass auch gut diversifizierte Portfolios mehr oder weniger ungebremst gegen die Wand fuhren. Die Krise hat vor allem gezeigt, dass viele von Banken eingesetzte Methoden blind sind für die Risiko(-Realität). Die komplexe Realität an den Finanzmärkten wird von vielen Modellen – auch stochastischen Ansätzen – schlichtweg ausgeblendet. Wir sprachen mit Prof. Dr. Peter Milling (Industrieseminar der Universität Mannheim) und Prof. Dr. Jürgen Strohhecker (Frankfurt School of Finance & Management) über Grenzen in der Risikomodellierung und alternative Methoden aus dem Bereich System Dynamics.
> In der Realität der komplexen Finanzmärkte entstehen Risiken häufig durch nicht-lineare und chaotische Effekte. Kurzum: Die Risikoursachen in komplexen Märkten, wie den globalen Finanzmärkten, können in aller Regel nicht monokausal auf einen einzigen Auslöser zurückgeführt werden. Die aktuelle Finanzkrise bietet hier ausreichend Anschauungs- und Beweismaterial. Bietet der klassische Werkzeugkasten des Risikomanagers überhaupt die passenden Instrumente um derartig komplexe Risikolandkarten zu bewerten?
< Jürgen Strohhecker: Obwohl der Werkzeugkasten der Risikomanager gut gefüllt ist und auch in den Jahren vor der aktuellen Krise weiter bestückt wurde, scheint es bei der Ausgewogenheit der Werkzeuge doch einige Schwächen gegeben zu haben. Sie sprechen selbst die nicht-linearen und chaotischen Effekte an. Hinzu kommen die Teufelskreise als mächtige Verstärker. Dass beispielsweise auch vermeintlich gut diversifizierte Immobilienportfolien deutlich und zunehmend an Wert verlieren, wenn mehr und mehr Häuser in der Nachbarschaft zum Verkauf stehen, ist eigentlich einsichtig; dennoch haben die allermeisten Werkzeuge das Ausmaß dieser und ähnlicher sich selbst verstärkenden Entwicklung drastisch unterschätzt.
< Peter Milling: Die klassischen Instrumente des Risikomanagements haben in den komplexen Bereichen, die Sie geschildert haben, ihre Grenzen. Menschen verhalten sich nicht durchgängig rational, sie verfügen nur begrenzt über die kognitiven Fähigkeiten, komplexe Systeme zu verstehen und die Konsequenzen ihrer Handlungen abzuschätzen. Die Finanzkrise hat das sehr vielen nochmals deutlich gemacht. Aber es gibt außerhalb des klassischen Risikomanagements Instrumente, die für solchermaßen komplexe Systeme sehr wohl geeignet sind.
> Ab welchem Stadium spricht man von einem komplexen System? Gibt es besondere Merkmale, die allen komplexen Systemen zu eigen sind?
< Jürgen Strohhecker: In der Systemtheorie wird ein System als komplex bezeichnet, wenn es sich aus einer großen Anzahl an Systemelementen zusammensetzt, die auch noch untereinander in Zusammenhang stehen. In diesem Sinne komplex ist beispielsweise der Fahrplan des Rhein-Main-Verkehrsverbunds. Buslinien, Straßenbahnen, U- und S-Bahn sind über jeden einzelnen Tag eines ganzen Jahres hinweg aufeinander abzustimmen und mit dem Fernverkehr der Deutschen Bahn AG zu vernetzten. Eine klare Grenze, ab welcher Anzahl von Elementen und ab welchem Vernetzungsgrad ein System als komplex bezeichnet wird, gibt es nicht. Auch der Schwierigkeitsgrad gleich komplexer Aufgabenstellungen wird subjektiv unterschiedlich wahrgenommen. Nachgewiesen ist jedoch, dass nicht nur die zuvor beschriebene Art der Komplexität, die auch als Detailkomplexität bezeichnet wird, Entscheidungen subjektiv erschwert. Eine oft noch größere Rolle spielt die dynamische Komplexität.
< Peter Milling: Neben der Verknüpfung einer größeren Anzahl von Elementen spielt auch die Art dieser Verknüpfung eine entscheidende Rolle. Vorhin sprachen Sie über Nichtlinearitäten, die in diesem Zusammenhang von großer Bedeutung sind. Ebenfalls wichtig sind zeitliche Verzögerungen zwischen Aktion und Reaktion, die es sehr schwer machen, Ursache und Wirkung einzelner Handlungen und Maßnahmen einander eindeutig zuzuordnen. Die Anzahl der Elemente, ihre Verknüpfungsdichte und die Art ihrer funktionalen Beziehungen sind prägende Merkmale der Systemkomplexität.
< Jürgen Strohhecker: Beim Blick in die Finanzindustrie liegt die Vermutung nahe, dass die allermeisten Banken sowohl detailkomplexe Systeme sind als auch eine große dynamische Komplexität aufweisen. Auch eine auf den ersten Blick vergleichsweise einfach erscheinende Direktbank, die ausschließlich klassisches Einlagengeschäft und Brokerage betreibt, ist auf den zweiten Blick doch aus vielen, miteinander vernetzten Bausteinen aufgebaut. Sie ist beispielsweise den verschiedenen Einflüssen ihrer Kunden ausgesetzt; sie existiert nicht isoliert von den internationalen Finanzmärkten und hat häufig eine Muttergesellschaft. Einzig die kleinste Bank Deutschlands, die Ein-Mann-Raiffeisenbank Gammesfeld, lässt sich vermutlich kaum guten Gewissens komplex nennen.
> Inwieweit kann System Dynamics helfen, komplexe Systeme besser zu verstehen und zu analysieren?
< Peter Milling: Ein entscheidender Schritt auf dem Weg zu einem besseren Verständnis komplexer Systeme ist zunächst die trivial erscheinende Forderung, die Systemkomplexität auch zu akzeptieren. Es macht keinen Sinn, komplexe Systeme mit einfachen Methoden verstehen und analysieren zu wollen. Dynamische und nichtlineare Systeme können nicht zutreffend mit statischen und linearen Methoden analysiert werden. Benötigt wird ein Theoriegebäude, das es erlaubt, innerhalb dieser Systemkomplexität die relevanten Probleme zu separieren und so die "Treiber" von Verhaltensformen zu identifizieren.
In der System-Dynamics-Perspektive ist das Konzept der Rückkopplung oder des Feedbacks das zentrale Element sozialer und gar aller lebender Systeme. Es gilt, die Rückkopplungsschleifen zwischen Ursachen und Wirkungen zu identifizieren. Diese Sichtweise der Feedback-Dominanz sozialer Systeme ist das entscheidende Merkmal von System Dynamics. Auf dieser Basis können formale Modelle entwickelt, analysiert und verbesserte Verhaltensformen erarbeitet werden.
< Jürgen Strohhecker: Meines Erachtens ist die Simulation von dynamisch-komplexen Systemen im Computer einer der ganz wichtigen Schlüssel zur Verbesserung des Verständnisses und das wichtigste Element des System-Dynamics-Ansatzes. Wissenschaftliche Experimente zeigen uns, dass es selbst gebildeten Menschen extrem schwer fällt, das Verhalten augenscheinlich simpler Systeme richtig zu prognostizieren. Von hundert Testpersonen sind beispielsweise etwa die Hälfte außerstande, aus schriftlich und grafisch gegebenen Informationen über die Zu- und Abflussmenge den Wasserinhalt einer Badewanne richtig über die Zeit hinweg aufzuzeichnen. Bei nur wenig mehr dynamischer Komplexität sind wir völlig überfordert. Daher ist die Computersimulation eine so wichtige Komponente des System-Dynamics-Ansatzes. Sie erlaubt uns, diese Schwäche auszugleichen und auch komplexe Systeme umfassend zu analysieren und verstehen zu lernen.
> Eine aktuelle vom Center for Quantitative Risk Analysis der Ludwig-Maximilians-Universität München in Zusammenarbeit mit FidesTrust Vermögenstreuhand GmbH (München) und Wegelin & Co. Privatbankiers (St. Gallen/Schweiz) erstellte Studie kommt unter anderem zu dem Ergebnis, dass in der deutschsprachigen Finanzindustrie zwischen der aktuellen akademischen Forschung und den zurzeit in der Praxis verwendeten Verfahren eine große Lücke klafft. Die Portfoliotheorie, die Harry Markowitz vor über einem halben Jahrhundert entwickelte und damit einen fundamentalen Beitrag zur Kapitalmarktanalyse leistete, wurde erst Mitte der 1980er Jahre von der deutschsprachigen Finanzpraxis ernsthaft zur Kenntnis genommen und mit einiger Verzögerung von institutionellen Anlegern eingesetzt. In der Wissenschaft wurde hingegen bereits vor vielen Jahren alternative Methoden (Copulas bzw. Regime-switching-Ansätze) entwickelt, die jedoch in der Praxis noch nicht angekommen sind. Gilt das auch für System Dynamics?
< Jürgen Strohhecker: Der Verbreitung einer jeden neuen Methodik stehen vergleichbare Hürden im Weg, die auch jedem neuen Produkt zu schaffen machen. Potenzielle Kunden müssen erst von der Neuerung erfahren, müssen diese verstehen, ihren Nutzen begreifen und eine Bereitschaft entwickeln, diese zu übernehmen. Erst wenn alle diese Hürden genommen sind, wird die Innovation "adoptiert" – wie man in der Innovationsforschung sagt. Wie schnell dieser Prozess abläuft, hängt in erster Linie davon ab, wie leicht die Übernahme fällt, wie groß der Nutzen ist und wie intensiv das "Marketing" ausfällt. Außerdem können konkurrierende Methoden den Prozess weiter verlangsamen oder ganz zum Erliegen bringen.
< Peter Milling: Wir haben bereits darüber gesprochen, dass System Dynamics die Komplexität realer Systeme akzeptiert und nicht nach vermeintlich einfachen Lösungen für komplexe Fragestellungen sucht. Dafür bedarf es einer soliden Ausbildung in dem Verständnis von Feedback-Systemen, der Modellierung und der Simulation, die das zentrale methodische Instrumentarium von System Dynamics darstellen. Es gibt nicht die schnelle und einfache Lösung, und das sind keine leicht überzeugende "Verkaufsargumente", wenn es darum geht, System Dynamics in der Unternehmenspraxis anzuwenden. Aber andererseits, seit seinen Anfängen in den 1950er Jahren am MIT, hat sich System Dynamics sowohl in der Wissenschaft als auch in der Unternehmenspraxis kräftig entwickelt, und wir haben etwa in Deutschland eine Deutsche Gesellschaft für System Dynamics, die, obwohl noch relativ jung, bereits eine weite Verbreitung in der Wissenschaft und der Praxis gefunden hat.
< Jürgen Strohhecker: System Dynamics ist mit Sicherheit in der Praxis angekommen; hiervon zeugen zahlreiche Einsatzbeispiele in einer Vielzahl von unterschiedlichen Organisationen. Gleichzeitig ist System Dynamics aber auch weit davon entfernt, allgegenwärtig zu sein; das Potenzial für die weitere Verbreitung ist noch sehr groß.
Das komplette Interview finden Sie in der Fachzeitschrift RISIKO MANAGER, Ausgabe 22/2009. In der gleichen Ausgabe finden Sie auch den Fachartikel "System Dynamics als Werkzeug für das Risikomanagement" von Jürgen Strohhecker. Bestellmöglichkeit unter www.risiko-manager.com
Professor Dr. Jürgen Strohhecker, Jahrgang 1968, ist Professor für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, Produktionswirtschaft und Controlling. Themenbereiche in Lehre und Forschung sind System Dynamics, Produktionsmanagement, Controlling sowie Kosten- und Erlösrechnung.
Er hat in den Jahren 1987 bis 1992 an der Universität Mannheim Betriebswirtschaftslehre studiert. Im Anschluss – in den Jahren 1992 bis 1996 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Industrieseminar der Universität Mannheim. Die Promotion zum Dr. rer. pol. folgte im Jahr 1997.
Seit dem Jahr 2005 ist er Sprecher des Management Research Centre und seit 2006 Vorstand für System Dynamics in Forschung und Lehre der Deutschen Gesellschaft für System Dynamics e. V.
Prof. Dr. Peter Milling, Jahrgang 1944, ist Inhaber des Lehrstuhls für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre und Industrie sowie Direktor des Instituts für Physikalische und Chemische Technologie der Universität Mannheim.
Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen von Systemtheorie und -simulation, Produktionsmanagement sowie Technologie- und Innovationsmanagement. Für seine Arbeiten über die Diffusion von Innovationen erhielt er im Jahr 2001 den Jay W. Forrester-Preis der System Dynamics Society.
Von der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus wurde ihm die Ehrendoktorwürde (Dr. rer. oec. h. c.) verliehen.
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Kommentare zu diesem Beitrag
> Strohhecker, Jürgen; Sehnert, Jürgen (Hrsg.): System Dynamics für die Finanzindustrie. Simulieren und Analysieren dynamisch-komplexer Probleme, Frankfurt am Main 2008.
> Sterman, J.D., Business dynamics: systems thinking and modeling for a complex world, Boston 2000.
> Das Standardwerk (!!): Forrester, J.W., Industrial dynamics, 9. Auflage, Cambridge 1977.