Wider die Spartengewerkschaften

Streik als volkswirtschaftliches Risiko


Streik als volkswirtschaftliches Risiko: Wider die Spartengewerkschaften Kolumne

Für manche Dinge darf man die deutschen Gewerkschaften durchaus loben. Zwar haben sie sich in den 70er und 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts zu Lohnexzessen hinreißen lassen, die zu einer kaum noch beherrschbaren Massenarbeitslosigkeit führten und Deutschland zum kranken Mann Europas machten. Sie haben aber auch die spätere Kehrtwende der Agenda 2010 mitgetragen – und Deutschland durch Lohnmoderation zu neuer Prosperität mit sehr geringer Arbeitslosigkeit verholfen.

Und während zum Beispiel in Frankreich und Italien in den Jahren von 1980 bis 2007 je 1000 Arbeitnehmer durchschnittlich 85 beziehungsweise 306 Arbeitstage jährlich durch Streik oder Aussperrung ausfielen, waren es in Deutschland nur 15. Im Großen und Ganzen hat die Sozialpartnerschaft funktioniert.

Das deutsche Tarifmodell ist freilich in den vergangenen Jahren durch heftige Streiks von Spartengewerkschaften erschüttert worden, die jeweils extrem hohe Lohnforderungen stellten und auch durchsetzen konnten. Die neue Macht der Spartengewerkschaften wurde durch eine Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts aus dem Jahr 2010 möglich, die den Zwang zur sogenannten Tarifeinheit im Betrieb aufhob. Danach kam es ab dem Jahr 2011 zunächst zu ausufernden Lokführerstreiks. Die Deutsche Bahn, die nach ihrer Privatisierung unpünktlich geworden war und ihre Infrastruktur sichtlich vernachlässigte, litt nun auch noch an besonders aggressiven Gewerkschaften, die mit lang andauernden Streiks erhebliche Teile der Wirtschaft lahmlegten. Nur der Umstand, dass vom Staat ausgeliehene (verbeamtete) Lokführer aus alter Zeit den Betrieb aufrechterhielten, verhinderte das Schlimmste.

Dann brachten 2012 die im Vorfeld tätigen Fluglotsen Frankfurts mit einer Reihe von Streiks den Flugverkehr zum Erliegen. Sie konnten nur durch bis zu 70-prozentige Lohnerhöhungen besänftigt werden. Bis zum tragischen Absturz der Germanwings-Maschine in der vergangenen Woche hatte es auch bei der Lufthansa massive Streiks gegeben.

Wenn das so weitergeht, muss man befürchten, dass Deutschland das Schicksal Englands in der Nachkriegszeit erleidet. Dort hatte sich damals ein System der Spartengewerkschaften herausgebildet. Betriebe bekamen es in der Regel mit mehreren Gewerkschaften zu tun, die jeweils nur bestimmte Berufsstände vertraten. Diese Gewerkschaften trieben die englische Wirtschaft mit hohen Lohnforderungen in eine Dauerkrise, bei der sie gegenüber Deutschland immer mehr an Boden verlor.

Mitte der 70er Jahre lag die britische Wirtschaftsleistung pro Kopf nur noch bei der Hälfte des deutschen Wertes. Das änderte sich erst, nachdem 1979 Margret Thatcher ans Ruder kam und die Macht der Gewerkschaften während ihrer Zeit als Premierministerin zerschlug. Das Land erlebte anschließend einen beispiellosen Aufschwung, der ihm inzwischen praktisch das gleiche Bruttoinlandsprodukt pro Kopf wie Deutschland gebracht hat.

Aus ökonomischer Sicht lässt sich die Aggressivität der Spartengewerkschaften aus dem sogenannten Allmende-Problem ableiten. Die Allmende, also die Dorfwiese, die allen gehört, wird überweidet, wenn jeder Bauer selbst darüber entscheiden darf, wie viel Vieh er dort hintreibt.

Im Endeffekt führt die Zerstörung der Grasnarbe dazu, dass die Wiese weniger Gras produziert, als wenn sie nur von einem Bauern bewirtschaftet würde. Auch Gewerkschaften, die nur für bestimmte Berufsstände verhandeln, "überweiden" den Betrieb, um im Bild zu bleiben, und unterminieren seine Wettbewerbsfähigkeit. Zwar sind die Löhne pro Mitarbeiter höher, als wenn eine Einzelgewerkschaft verhandelt hätte, doch ist die Lohnsumme kleiner, weil Arbeitsplätze verlorengehen.

Da die Einzelgewerkschaft definitionsgemäß ein Ergebnis erzielt, das für die Arbeitnehmer in ihrer Gesamtheit optimal ist, kann die aggressivere Lohnpolitik der Spartengewerkschaften nur bedeuten, dass man über das Optimum hinausschießt.

Spartengewerkschaften schädigen nicht nur die Arbeitgeber und die Kunden der Betriebe, sondern letztlich auch die dort beschäftigten Arbeitnehmer. Deshalb haben sie aus ökonomischer Sicht keine Daseinsberechtigung – egal, was das Rechtssystem dazu sagt.

Da sie derzeit rechtens sind, sollte das System von der Politik schleunigst verändert werden. Genau das geschieht, gerade noch rechtzeitig, durch ein neues Gesetz zur Tarifeinheit, das Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) im Dezember durch das Kabinett hat billigen lassen.

Das Gesetz, gegen das Spartengewerkschaften allerdings klagen wollen, wurde am 5. März erstmals im Bundestag beraten und danach an die Ausschüsse verwiesen. Es soll voraussichtlich im Sommer 2015 in Kraft treten. Dann kehrt hoffentlich in den betroffenen Unternehmen wieder mehr Tariffrieden ein.

Hans-Werner Sinn, Professor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft, Präsident des ifo InstitutsAutor:

Hans-Werner Sinn, Professor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft, Präsident des ifo Instituts

 

[Erschienen als “System schleunigst verändern”, Wirtschaftswoche, 30. März 2015, S. 43; sowie als “Germany Has Started Putting Right Costly Labour Law Mistake”, The Times online, 11. Mai 2015]

[ Bildquelle Titelbild: © Firnis - Fotolia.com ]
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