"Der Sturm" ist ein mittlerweile 15 Jahre alter Film mit George Clooney, der in dem Streifen als Schwertfischfangschiffkapitän trotz Unwetterwarnung ausläuft und am Ende dann mit seinem Trawler samt Besatzung in den sturmgepeitschten Fluten versinkt. Zwar erfüllte "Der Sturm" nicht die in ihn gesetzten großen Erwartungen, was auch an der mitunter langatmigen Handlung lag. Der bei den Dreharbeiten aufkommende Hurrikan "Floyd" bot dem Regisseur Wolfgang Petersen jedoch eine ideale Kulisse für realitätsnahe Filmszenen und vermittelte den Kameraleuten einen sehr nachdrücklichen Eindruck von den Gefahren eines Sturms.
An den Börsen fühlten sich die vergangenen Wochen vielleicht nicht nach einem Sturm biblischen Ausmaßes an, ordentlich durchgeschüttelt wurden aber so ziemlich alle Bereiche – von Aktien über Währungen und Rohstoffen bis hin zu Unternehmensanleihen. Dabei war ja schon zu befürchten, dass 2015 ein raues Jahr werden würde. Der bevorstehende geldpolitische Regimewechsel in den USA bot schon zu Jahresbeginn ausreichend Anlass für Unsicherheit an den Finanzmärkten. Dass dieser Zustand sich aber über das ganze Jahr hinziehen würde und die US-Notenbank die Anleger selbst zum Jahresende im Ungewissen über ihre nächsten Schritte lassen könnte, stand dagegen kaum zu erwarten. Dabei bemühte sich die Fed redlich, mithilfe der sogenannten Forward Guidance und Dot Plots Transparenz und Verlässlichkeit zu schaffen. Bei den Dot Plots geben die zwölf Mitglieder des Federal Open Market Committees (FOMC) ihre Erwartung zu den Leitzinsen (Fed Funds Rate) am Ende der nächsten Jahre an.
Leitzinserwartung der FED für die nächsten Jahre [Quelle: Bloomberg]
Angesichts der erfreulichen Wirtschafts- und Arbeitsmarktdaten, die ein recht robustes Bild von der US-Konjunktur zeichnen, sprachen sich noch im vergangenen Juni die meisten Mitglieder für eine Zinsanhebung im laufenden Jahr aus. Daher gibt die jüngste Entscheidung der Fed, die Zinsen unverändert zu belassen, Rätsel auf. Auch wurden die Erwartungen hinsichtlich zukünftig vorherrschender Zinsen erneut nach unten revidiert. Nicht wenige Marktteilnehmer sehen in der Folge die Glaubwürdigkeit der Notenbanker als gefährdet an. Als Erklärung für die zögerliche Haltung der Fed-Chefin Yellen, die wiederholt für 2015 angekündigte Leitzinserhöhung auch umzusetzen, kann daher nur die prekäre Lage in den als Emerging Markets bezeichneten aufstrebenden Ländern dienen. Ein in Folge höherer US-Zinsen erstarkender Dollar würde diesen Ländern, die zudem unter dem Verfall des Ölpreises als einer der wichtigsten Einnahmequellen leiden, den vertragsmäßigen Schuldendienst zusätzlich erschweren.
Wertentwicklung der Währungen ausgewählter aufstrebender Länder seit Jahresbeginn [Quelle: Bloomberg]
Doch das Problem ist hausgemacht. Zu groß war sowohl für Staaten als auch Unternehmen die Versuchung der vergangenen Jahre, die vorherrschenden Niedrigstzinsen zu nutzen und Kredite in US-Dollar in nennenswerten Umfang an den Märkten aufzunehmen. Nun rächt sich diese Sorglosigkeit. Mit ihrer Zinspolitik und mehr noch, der Begründung, schürte die Fed die schwelenden Ängste vor einer drohenden Deflation und trug so zu einer sich weiter zuspitzenden Lage an den Finanzmärkten bei. Besonders hart getroffen hat es dabei die Währungen einiger Entwicklungsländer, darunter den brasilianischen Real, der seit Jahresbeginn annähernd 35 Prozent seines Wertes zum US-Dollar verlor. Aber auch die türkische Lira und andere lateinamerikanische und asiatische Währungen stehen erheblich unter Druck.
Dass die US-Notenbanker Zweifel an der Nachhaltigkeit der Erholung ihrer eigenen Wirtschaft hegen könnten, wird nicht zuletzt auch den irritierenden Entwicklungen in China zugeschrieben. Die Abwertung des Yuans als Notmaßnahme gegen die dortigen Börsenturbulenzen im August versetzte die Finanzmärkte in helle Aufregung und setzte die chinesische Regierung erst richtig unter Druck. Dabei sind die weltweiten Konjunkturdaten bei Weitem nicht so besorgniserregend, wie dies die aktuelle, sorgenvolle Stimmung an den Finanzmärkten vermuten ließe. Der Chefvolkswirt der Uni-Credit, Erik Nielsen, konstatierte daher eine allgemeine Hypochondrie der Finanzmarktakteure [sh. Nielsen 2015], die es als Folge der langen Krisenjahre nie gelernt hätten, mit auch nur geringfügigen Veränderungen der makroökonomischen Gesamtsituation gelassen umzugehen und daher überängstlich reagieren.
»Die weltweiten Konjunkturdaten sind bei Weitem nicht so besorgniserregend, wie dies die aktuelle, sorgenvolle Stimmung an den Finanzmärkten vermuten ließe.«
Frühindikatoren wie beispielsweise der Markit-Einkaufsmanagerindex (PMI) für die private Wirtschaft im Euroraum mögen ihm Recht geben. Der leichte Rückgang des weithin beachteten Wirtschaftsbarometers um -0,4 auf nun 53,9 Punkte im September fällt moderater als erwartet aus und wird zudem noch von einem steigenden Auftragseingang für das dritte Quartal begleitet. Die chinesische Konjunkturschwäche scheint also bisher keinen großen Einfluss auf die Stimmungslage der Unternehmen der Eurozone gehabt zu haben.
Einen wesentlich düsteren Eindruck vermitteln dagegen die Aktien- und Anleihemärkte. Von seinem Hoch im April des Jahres musste der deutsche Aktienindex zwischenzeitlich mehr als 20 Prozent abgeben, beim EURO STOXX 50 ist es nicht viel weniger. Im laufenden Jahr war bislang mit europäischen Aktienindizes kein Geld zu verdienen. Dabei sind die Aktionäre noch nicht einmal besonders pessimistisch. Gemessen an den Renditeaufschlägen über Staatsanleihen ist beispielsweise das eingepreiste Ausfallrisiko amerikanischer Unternehmen mit solider Bonität (Investment Grade) auf den höchsten Stand seit drei Jahren geklettert.
Renditeaufschläge von Unternehmensanleihen in Euro und US-Dollar mit Investmentgrade-Rating [Quelle: Bank of America/Merrill Lynch, eigene Berechnungen]
Aber auch die Risikoprämien europäischer Anleiheaussteller sind im Jahresverlauf spürbar gestiegen. Das ist erstaunlich, steht doch mit dem als "Quantitative Easing" der europäischen Zentralbank bekannten Anleiheaufkaufprogramm Zentralbankgeld in rauen Mengen zur Verfügung. Der mit dem Anstieg der Risikoprämien einhergehende Kursverlust traf besonders High Yield-Anleihen empfindlich.
Schuldverschreibungen mit besserer Bonität litten zusätzlich im Juni unter dem heftigen und unvermuteten Zinsanstieg, der selbst bei ausfallsicheren 10-jährigen Bundesanleihen einen Kursrückgang von mehr als 8 Prozent auslöste. Auch wenn sich im Zuge der Börsenturbulenzen die Zinsen wieder auf das zum Jahresbeginn zu beobachtende Niveau gesunken sind, bleibt doch die unbehagliche Gewissheit, dass auch in Europa Niedrigstzinsen nicht garantiert und vor allem nicht von Dauer sein werden, sollte die EZB mit ihrer lockeren Geldpolitik erfolgreich sein und die Inflation wieder steigen.
Die bei Unternehmensanleihen so deutlich nach oben geschnellten Risikoprämien bedeuten für Anleger Chancen, aber auch Risiken. Brasiliens Probleme wurden etwa durch die Herabstufung des Ratings auf BB+ mit negativem Aus-blick durch Standard & Poor's erheblich verschärft. Das Vorzeigeunternehmen des lateinamerikanischen Landes, der Ölförderer Petroleo Brasileiro S.A., kurz Petrobras, verfügt im Gefolge der Rating-Verschlechterung seines Heimatlandes nunmehr auch nur noch über ein BB Rating (Standard & Poor's sowie Moody's. Bei der Rating-Agentur Fitch wird das Unternehmen noch mit BBB- bewertet) und wird sich daher nur noch zu deutlich schlechteren Konditionen refinanzieren können. Die immense Schulden-last – es stehen neben Krediten in erheblichem Umfang auch Anleihen mit einem Nennwert von umgerechnet mehr EUR 41 Mrd. aus – macht das Unternehmen ab Oktober zu einem Schwergewicht in den einschlägigen Indizes für hochrentierliche Anleihen.
Der bislang größte Emittent in diesem Segment, der amerikanische Telekommunikationsgigant Sprint, bringt es zum Vergleich nur auf EUR 27 Mrd. ausstehender Schuldverschreibungen. Während also an einer entsprechenden Benchmark gemessene High-Yield-Investoren es kaum vermeiden können, in eine Petrobras-Anleihe zu investieren, ziehen sich solche Anleger, die Restriktionen in Form einer Mindestbonität zu beachten haben, zurück. In der Folge weist Petrobras bereits eine inverse Kreditkurve mit höheren Ausfallprämien für kürzere Laufzeiten im Vergleich zu späteren Fälligkeiten auf. Dies deutet auf eine substanzielle Ausfallgefahr in den kommenden Monaten hin, was angesichts der bis Ende 2018 zu refinanzierenden Anleihen mit einem Volumen von EUR 8,6 Mrd. auch nicht verwundert.
Inverse Kreditkurve bei Petrobras [Quelle: Bloomberg, eigene Berechnungen]
Aber auch bei dem deutschen Automobilproduzenten VW, der mit manipulierten Abgastests für Schlagzeilen sorgt, stiegen aufgrund zu befürchtender Schadensersatzansprüche und Strafzahlungen die Refinanzierungskosten erheblich. Mit der zwischenzeitlich von 50 auf mehr als 300 Basispunkte angestiegenen Kreditrisikoprämie für 5-jährige Kreditderivate entspricht dies einer eingepreisten Ausfallwahrscheinlichkeit von 0,23 Prozent – ein Wert, der eine Verschlechterung des aktuellen A2-Ratings um etwa vier Stufen signalisiert. Selbst bei einer Normalisierung der Sätze bedeutet diese Entwicklung eine substanzielle Verteuerung der Kredite für das fremdkapitalintensive Geschäftsmodell. Auch hier sind in den kommenden Jahren Schulden in einem erheblichen Umfang zu refinanzieren. Die direkten und indirekten Kosten des Skandals sind beträchtlich und werden Volkswagen auf Jahre hin belasten.
Anstehende Schuldenfälligkeiten bei VW [Quelle: Bloomberg, eigene Berechnungen]
Trotz – und gerade aufgrund – dieser schwierigen Rahmenbedingungen finden Investoren, die unabhängig von Benchmark-Vorgaben ihre Anlageentscheidung treffen können, seltene Opportunitäten. Denn auch die Credit Spreads der Anleihen stabiler und wirtschaftlich erfolgreicher Unternehmen weiteten sich im Sog der Kapitalmarktturbulenzen aus. Wie immer, wenn die Finanzmärkte unter Druck sind, wird weniger nach Qualität unterschieden – die Korrelation von Asset-Preisen steigt. Im Vergleich liegen die gegenwärtigen Risikoprämien bereits über dem langfristigen Durchschnitt.
Häufigkeitsverteilung der Kreditrisikoprämien von US-High-Yield-Anleihen im langfristigen Vergleich [Quelle: Bank of America/Merrill Lynch, eigene Berechnungen. Wöchentliche Werte seit 1998.
Die Ausfallraten, für die die Anleger diese Renditeaufschläge erhalten, verharren dagegen mit etwa zwei Prozent weiter auf niedrigem Niveau. Nach der Berechnung eines Analysten der Deutschen Bank reflektieren die aktuellen Risikoprämien eine zu erwartende Ausfallrate von 5,2 Prozent bei einer unterstellten Verwertungserlösquote von 50 Prozent [vgl. Melentyev 2015]. Allerdings sind in der Kalkulation auch Unternehmen aus dem Rohstoffsektor, der aufgrund des Verfalls der Preise für Öl, Kohle und Metalle als besonders gefährdet gilt, berücksichtigt. Ohne diese bleibt immerhin noch eine eingepreiste Ausfallrate von 3,7 Prozent – was nahezu einer Verdoppelung des aktuellen Wertes entspricht. So viel Pessimismus ist trotz aller Wachstumssorgen und Zinsunsicherheit dann am Ende doch nicht gerechtfertigt. Sicher ist die jetzige Situation an den Kapitalmärkten mehr als nur ein Sturm im Wasserglas. Ein Untergang, wie er dem Schwertfischkapitän Clooney am Ende beschieden war, ist jedoch nicht zu befürchten.
Autor:
Michael Hünseler, Head of Credit Portfolio Management, Assenagon Asset Management S.A.
Quellenverzeichnis:
Oleg Melentyev: What is the Market Pricing in Here? US Credit Strategy, Deutsche Bank Markets Research, 18. September 2015.
Erik Nielsen: Hypochondriac markets!. UniCredit Global Chief Economist's Comment, 24. August 2015.