Interview mit Michael Hüther, Institut der deutschen Wirtschaft

Systemische Risiken sind nur schwer zu prognostizieren


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In diversen Veröffentlichungen hat das Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) auf die Vorteile der Verbriefung im Hinblick auf die Risikoallokation hingewiesen. Allerdings weist das Institut auch darauf hin, dass der Verbriefungsmarkt neu strukturiert werden muss. Hierzu gehört beispielsweise, dass die Originatoren zukünftig wieder einen Teil des Risikos tragen und die Verbriefungsprodukte wieder transparenter werden. In den letzten Jahren wurde der Verbriefungsmarkt zunehmend komplexer, und die zugrunde liegenden Assets konnten kaum noch hinsichtlich ihres Risikogehalts eingeschätzt werden. Je besser die Emittenten ihre Produkte erklären können, desto eher werden Investoren bereit sein, die Risiken zu übernehmen.

Das IW weist ergänzend darauf hin, dass die eigene Haftung für Risiken noch überzeugender als Informationen ist. Es dürfte zunehmend von den Originatoren erwartet werden, dass sie die First-Loss-Position einnehmen, also die riskanteste Tranche eines ABS teilweise in ihren eigenen Büchern halten. Weiterhin ist davon auszugehen, dass sich zunehmend Standardisierungen durchsetzen werden, beispielsweise im Hinblick auf die Qualität der zugrunde liegenden Assets oder hinsichtlich der Informationsbereitstellung. Auch die Ratingagenturen müssen die Risiken zukünftig sorgsamer und konservativer bestimmen. Mit Prof. Dr. Michael Hüther, Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft, sprachen wir über die Lehren aus der jüngsten Finanzkrise.

>> Sie haben jüngst geschrieben, dass die Rezession ihren Tiefpunkt erreicht hat und die deutsche Volkswirtschaft seit dem zweiten Quartal wieder expandiert. Die extrem pessimistischen Prognosen, die für Deutschland eine Schrumpfung des Bruttoinlandsprodukts um jahresdurchschnittlich gut sechs Prozent in diesem Jahr erwarten, sind nun eher unwahrscheinlich. Sie weisen darauf hin, dass der Weg aus der Krise lang ist, doch er wurde nicht zuletzt mit dem Antrieb konjunktureller Selbstkorrektur begonnen. Welchen Apell richten Sie in dem Kontext an die Politik?

Prof. Dr. Michael Hüther, Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft<< Michael Hüther: Jetzt und spätestens nach der Bundestagswahl muss die Politik sich zu wirtschaftpolitischen Grundsatzentscheidungen Gedanken machen. Durch die Krise wurden die Marktteilnehmer und auch die Politik gezwungen, einige Ad-hoc-Entscheidungen zu treffen. In der Folge hat sich ein höherer Staatsanteil in vielen Bereichen eingeschlichen. Im Lichte wirtschaftshistorischer Erfahrungen und ordnungspolitischer Einsichten wäre es fatal, wenn wir das als Normalzustand betrachten würden.

Die Frage ist nun, ob wie den Mut haben, auf Wachstum und gute Innovationsbedingungen zu setzen. Es erfordert aber genauso ein klares Bekenntnis zu offenen Märkten und dezentraler Steuerung. Dazu scheint vielen Wahlkämpfern die Einsicht oder der Mut zu fehlen. Im Wahlkampf wird uns zu dieser strategischen Positionierung leider viel zu wenig angeboten.

>> Zur Stützung des weltweiten Finanzsystems wurden riesige Summen in die Märkte gepumpt. Wie realistisch ist es, dass diese Liquiditätsspritzen dem Geldkreislauf wieder entzogen werden können? Werden die Notenbanken bald vor der Entscheidung zwischen "Pest und Cholera" stehen, d. h. entweder sie laufen Gefahr, einen eventuell aufkeimenden Aufschwung durch Zinserhöhungen und Liquiditätsverknappung gleich wieder abzuwürgen oder sie gehen das Risiko stark steigender Inflationsraten ein?

<< Michael Hüther: Es ist keine Entscheidung zwischen "Pest und Cholera". In dem Kontext muss man berücksichtigen, dass die Bilanzen der Zentralbanken zwar massiv verlängert wurden, die Geldmengen sich aber nicht im gleichen Maße ausgeweitet haben. Im Wesentlichen bleibt die Liquidität in den Bankbilanzen stecken. Und das ist zurzeit auch der richtige Weg, um die Genesung der Banken voran zu bringen. Das Inflationsrisiko muss trotz alledem ernst genommen werden. Allerdings muss hierbei berücksichtigt werden, dass das Risiko einer Inflation immer einfacher bekämpft werden kann, als das Risiko einer Deflation. In der Phase des Aufschwungs muss eine Absorption von überschüssiger Liquidität organisiert werden. Und es gibt eine wesentliche Lektion nach der letzten Rezession in den USA: Dort war man mit dem der Absorption der Liquidität aus den Märkten zu zögerlich. Ich bin mir sicher, dass die Notenbanken zukünftig diesen notwendigen Schritt gehen werden. In diesem Kontext muss aber auch darüber nachgedacht werden, wie tragfähig der "Jackson-Hole-Konsens" ist. Wichtig ist aus meiner Sicht eine strategische Neuausrichtung der Geld- und Finanzpolitik. Dann lassen sich die Probleme auch lösen.

>> Während die Europäische Zentralbank einseitig auf das Ziel der Geldwertstabilität verpflichtet ist, soll die US-amerikanische Fed mit ihrer Politik auch das Wirtschaftswachstum unterstützen. Halten Sie diesen Ansatz für sinnvoll oder hatte nicht gerade die Strategie des billigen Geldes, die in den Jahren vor der Krise von Seiten der amerikanischen Notenbank verfolgt wurde, maßgeblichen Anteil an der Entstehung der Blase auf den Immobilienmärkten und der exzessiven Verschuldung der Konsumenten?

<< Michael Hüther: Die gute alte Bundesbankpolitik ist der richtige Weg. Im Vordergrund muss die Preisstabilität stehen. Auch das ist eine wesentliche Lehre der jüngsten Finanzkrise. Bei der Geldmengenpolitik muss man sich wieder stärker an der Entwicklung des Wachstumspotenzials orientieren. Bei dieser Fragestellung bin ich sehr konservativ. Für die US-Geldpolitik ist es wichtig, dass die Fed diesen Turnaround schafft. Die Geldpolitik ist nicht dazu berufen, die Konjunktur zu steuern. Der Test steht jetzt noch aus: Ben Bernanke hat in der Krise sicherlich angemessen entschieden und gehandelt. Nach der Krise muss er jedoch so handeln, wie er in der Vergangenheit nur ungern gehandelt hat: Er muss restriktiv sein.

>> In den letzen Wochen gab es einige positive Anzeichen für eine Wende zum Besseren: Der DAX hat seit seinem Tiefpunkt im März deutlich zugelegt, die Banken vermelden wieder Milliarden-Gewinne und auch die Auftragseingänge der deutschen Industrie sind überraschend stark gestiegen. Hat sich das Zeitfenster für tief greifende Reformen des Finanzsystems bereits wieder geschlossen? Kehren wir nach einigen eher kosmetischen Korrekturen wieder zum "business as usual" zurück oder halten Sie grundsätzliche Veränderungen des Finanzsystems noch für realistisch? Oder anders formuliert: Glauben Sie an die "Krise als Chance"?

<< Michael Hüther: In der Tat ist die Erfolgschance unter massivem Handlungsdruck am größten. Gleichwohl gibt es aber internationale Vereinbarungen, beispielsweise vom Londoner Weltfinanzgipfel am 2. April. Es gibt auf dem internationalen Parkett relativ klare Vorstellungen über die zukünftige Regulierung der Finanzmärkte. Der deutsche Gesetzgeber läuft hinter diesen internationalen Entwicklungen allerdings hinterher. Der Entwurf des Bundesfinanzministeriums ist nicht wirklich hilfreich, um die Finanzmärkte zukünftig tragfähig zu regulieren. Unsere Regierung hätte zu dem Thema in den vergangenen Jahren und Monaten sicherlich mehr liefern können. Der US-Regierung um Obama traue ich es da eher zu, dass sie die entsprechenden und angemessenen Gesetzesinitiativen auf den Weg bringen werden. Die britische Finanzaufsicht FSA hatte bereits Februar ein sehr gutes Papier mit den entsprechenden Schritten veröffentlicht. Leider lahmt die konkrete Umsetzung.

Als deutsche Regierung kann man sich auf dem internationalen Parkett nur dann Gehör verschaffen, wenn man auch seine eigenen Hausaufgaben erledigt hat. Ich hoffe sehr, dass diese Verzögerungen ausschließlich dem Wahlkampf geschuldet sind.

>> Immerhin hat die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht vor wenigen Woche die novellierte Fassung der Mindestanforderungen an das Risikomanagement in Banken (MaRisk) veröffentlicht, die allerdings keinen Gesetzescharakter haben, sondern nur eine Verwaltungsvorschrift in Form eines Rundschreibens darstellen.

<< Michael Hüther: Auch vom Baseler Komitee für Bankenaufsicht existieren entsprechende Vorschläge. In diesem Zusammenhang muss jedoch berücksichtigt werden, dass die Finanzaufsicht bereits durch ein Defizit bei der Kompetenzausstattung nicht auf Augenhöhe mit den Geschäftsbanken diskutieren kann. Man kann den Banken nicht - wie durch Basel II - die Möglichkeit eröffnen, durch sophistizierte Risikomodelle ihre Kapitalunterlegung von Risiken zu optimieren, ohne gleichzeitig die Aufsicht mit entsprechenden Experten zu verstärken, die dann diese Modelle beurteilen können.

Die Anfang diesen Jahres vom Institut der deutschen Wirtschaft im Auftrag des Bundesfinanzministeriums erstellte Studie ist hier zu klaren Ergebnissen gekommen: Der BaFin fehlt der Blick für das gesamte System, stattdessen orientiert sie sich ausschließlich an einzelnen Banken. Die Finanzmarktkrise lehrt eindeutig, dass die Vernachlässigung der Systemzusammenhänge eine eklatante Schwachstelle der Bankenaufsicht ist; der deutschen wie der internationalen. Wenn die Bankenaufsicht nicht auch die Systemzusammenhänge in den Blick nimmt, ist sie unzureichend aufgestellt, selbst wenn es gelänge, die Probleme der Regulierungsarbitrage und die Entwicklungsdynamik der Risiken für die einzelne Bank in den Griff zu bekommen. Ein wesentliches Ergebnis der Studie ist außerdem, dass das Personalmanagement der bankaufsichtlichen Institutionen gestärkt werden muss: Die Qualität des Personals der Bankenaufsicht muss gesichert und verbessert werden. Neben geldlichen Aspekten kann die Bankenaufsicht als noch attraktiverer Arbeitgeber wahrgenommen werden, wenn die Vernetzung mit der Wissenschaft deutlich ausgebaut wird.

>> Welche der aktuell diskutierten Regulierungsschritte halten Sie für sinnvoll, welche sind Ihrer Einschätzung nach kontraproduktiv und welche weiteren wären erforderlich bzw. sinnvoll?

Prof. Dr. Michael Hüther, Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft<< Michael Hüther: Es ist wichtig, dass wir bei der Eigenkapitalunterlegung eine Zyklenneutralität hinbekommen, um im Konjunkturverlauf verstärkende Effekte zu verhindern. Des Weiteren ist zukünftig die Kapitalunterlegung größenabhängig auszurichten. Aufgrund der Größe einer Bank kann aus einem einzelnen Institut ein massives systemisches Risiko resultieren, das ein Erpressungspotenzial gegenüber dem Staat darstellt. Denn der muss im Krisenfall handeln. Wichtig ist überdies der Blick auf Systemzusammenhänge. Eine zunächst als unproblematisch anzusehende Risikolage eines Einzelinstituts kann hoch problematisch sein, wenn durch Bilanzverkettung oder parallele Risikopositionen in einer angespannten Situation unerwartete Korrelate entstehen. Auch das ist ein Ergebnis der bereits erwähnten Studie.

In den Bilanzierungsregeln muss ebenfalls eine größere Zyklenneutralität berücksichtigt werden. Mark-to-Market hat sich nicht wirklich bewährt. Ein wichtiges weiteres Thema ist die Haftung für übernommene Risiken. Zukünftig muss von den Originatoren erwartet werden, dass sie die First-Loss-Position einnehmen, also die riskanteste Tranche eines ABS in ihren eigenen Büchern halten. Damit wird die Qualität von Verbriefungen gefördert. Dieser Ansatz ist aus der Versicherungswirtschaft bekannt: Zur Herstellung einer Interessenkongruenz wird von den Versicherungsnehmern ein Selbstbehalt gefordert.

Auch die Ratingagenturen müssen ihre Hausaufgaben erledigen. Zunächst geht es um neue Geschäftsmodelle, vor allem eine klare Trennung von Consulting und Rating. Außerdem werden die Agenturen künftig die Risiken sorgsamer und konservativer bestimmen müssen. Allerdings bleibt es bei dem Dilemma, dass sie von den Originatoren bezahlt werden, weshalb eine vollständige Neutralität nicht zu erwarten ist. Hier wäre über andere Finanzierungsmodelle nachzudenken.

Neben diesen zentralen Themen geht es aber vor allem darum – wie bereits ausgeführt – die Finanzaufsicht mit dem entsprechend qualifizierten Personal auszustatten.

>> Durch die Wirtschaftskrise verschlechtert sich die Bonität vieler Schuldner, wodurch die Banken ihre Eigenkapitalunterlegung erhöhen müssen, was wiederum den Spielraum für ihre Kreditvergabe einschränkt. Vor diesem Hintergrund werden Stimmen laut, die Vorgaben von Basel II auszusetzen, um eine prozyklische Verstärkung des Abschwungs zu vermeiden. Trägt Basel II Ihrer Meinung nach zur Verschärfung der Krise bei und halten Sie eine Aussetzung und/oder Anpassung der Regularien daher für sinnvoll?

<< Michael Hüther: In einer "normalen" Rezession verschwimmen derartige prozyklische Effekte. In der augenblicklichen Situation werden diese Effekte schnell deutlich. Und dies gilt gleichermaßen für Basel II und das für die Versicherungswirtschaft geplante Pendant, Solvency II. Aus meiner Sicht sollte bei der Überarbeitung der Kapitelregeln darauf geachtet werden, dass die Kapitalunterlegung zyklenneutral erfolgt. Zukünftig muss verhindert werden, dass sich die Situation für die Banken durch prozyklische Effekte noch verschärft.

>> Als eine der Hauptschuldigen an der aktuellen Misere gelten bekanntlich die Ratingagenturen. Von mehreren Seiten wurde immer wieder die Gründung einer staatlichen Ratingagentur gefordert. Würde die Gründung einer solchen staatlichen Ratingagentur nicht am Kern des Problems vorbei gehen? Mit anderen Worten: Bestand das eigentliche Problem nicht darin, dass die Banken blind auf die Bonitätsurteile der Ratingagenturen vertraut haben, anstatt eigene Risikoanalysen vorzunehmen?

<< Michael Hüther: Ja, der These kann man nicht viel hinzufügen. Umfang und Qualität des eigenen Nichtverstehens wird nicht durch das Urteil einer Ratingagentur kompensiert. Investoren sind immer gefordert, die Risiken selbst möglichst umfassend zu prüfen und zu bewerten.

Das Verlassen auf externe Bewertungen ist ein falsch verstandenes Outsourcing. Im Grunde ist ein Rating ja nur eine Aussage über die Ausfallwahrscheinlichkeit und keine umfassende Risikoanalyse. Aus meiner Sicht muss die Bedeutung des Ratings redimensioniert werden. Die Existenz einer bestimmten Ratingnote beantwortet nicht alle Fragen. Das individuelle Risiko-Rendite-Profil kann nur nach einer eigenen Risikoanalyse erstellt werden und sollte immer auf der unternehmensindividuellen Geschäfts- und Risikostrategie basieren.

Bei Gründung einer staatlichen Ratingagentur muss berücksichtig werden, dass der Staat für deren Beurteilung in die Haftung gebracht würde. Das wäre sicherlich nicht funktionsfähig. Vielleicht sollte man eher darüber nachdenken, dass Ratings zukünftig über eine Umlage finanziert werden. In diesem Zusammenhang ist auch die Frage zu klären, ob wir in Europa nicht – vor dem Hintergrund der doch sehr unterschiedlichen kulturellen Herangehensweise in der Finanzierung – eine europäische Ratingagentur brauchen.

>> Obwohl es mit Fitch Ratings ja eine europäische Ratingagentur gibt. Fitch gehört zum französischen Fimalac-Konzern.

<< Michael Hüther: Aus kultureller Sicht ergibt das keinen großen Unterschied. Der primäre Markt für Ratingagenturen liegt nun mal in den USA.

>> Mit dem so genannten "Systemic Risk Council" (SRC) soll ein neues Gremium geschaffen werden, dass die systemischen Risiken des Finanzsystems beobachten und gegebenenfalls frühzeitige Gegenmaßnahmen ergreifen soll. Allerdings haben sich die bestehenden Regulatoren und Aufsichtsorgane vor und während der Krise nach Einschätzung vieler Beobachter nicht unbedingt mit Ruhm bekleckert. Kann der SRC wirklich dazu beitragen, künftige Krisen zu vermeiden oder handelt es sich nur um ein weiteres Gremium, dessen Warnungen (sofern sie denn überhaupt erfolgen), ungehört verhallen werden? Schließlich hat beispielsweise die Bundesbank viele Jahre vor dem Beginn der Finanzkrise immer wieder auf die systemischen Risiken hingewiesen.

<< Michael Hüther: Es kann helfen, wenn die nationalen Aufsichtsbehörden zukünftig stärker zusammenarbeiten, um systemische Risiken zu erkennen. Allerdings muss in dem Zusammenhang vorausgesetzt werden können, dass die nationale Aufsichtsbehörde die richtige Perspektive hat. Wenn dies nicht gegeben ist, dann wird ein "Systemic Risk Council" keinen großen Effekt haben. Die systemischen Risiken müssen – auf nationaler und internationaler Ebene – besser erfasst werden. Hier haben die Bankaufseher bisher deutliche Defizite. Die Finanzaufsicht hat in der Vergangenheit vor allem eine kritische risikoorientiertere Würdigung der Geschäftsstrategie unterlassen. Die mit einem Geschäftsmodell einhergehenden Risiken und die dazu passende Risikostrategie sollten aufsichtlich adressiert werden. Insbesondere, wenn eine Bank sich zu einem Wechsel der Geschäftsstrategie oder der Organisation entscheidet, sollte die Bankenaufsicht dies als eigene Risikoart auffassen.

Die potenziellen Dominoeffekte müssen ganz am Anfang in der Wertschöpfungskette von der Finanzaufsicht analysiert werden. Diese Perspektive fehlt heute bei der deutschen Finanzaufsicht. Erst in einem zweiten Schritt kann man dann in einer internationalen Perspektive – beispielsweise über ein "Systemic Risk Council" – systemische Risiken eher erkennen.

Trotz alledem stellen systemische Risiken die Marktteilnehmer und Bankenaufsicht vor besondere Herausforderungen. Es ist prinzipiell schwierig, die relevanten Korrelationen und Ansteckungswege zu antizipieren. Systemische Risiken sind nun mal schwer zu prognostizieren. Bereits die Definition von systemischen Risiken ist sehr abstrakt und schwer zu fassen. Zum einen können systemische Risiken aus Domino-Effekten entstehen, wenn die Schwierigkeiten einer Bank unmittelbar Probleme für eine andere Bank nach sich ziehen. Zum anderen kann durch eine Informationsasymmetrie ein systemisches Risiko entstehen, weil einige Marktteilnehmer misstrauisch werden, ob nicht bei einer weiteren Bank oder einem weiteren Wertpapier ähnliche Probleme zu erwarten sind.

>> Im Zuge der massiven Probleme der Hypo Real Estate und anderer Banken wurden erstmals in Deutschland die Voraussetzungen für eine Verstaatlichung privater Banken geschaffen. Den unbestrittenen Vorteilen einer derartigen Lösung (insbesondere im Hinblick auf eine gesicherte Refinanzierung) standen schwerwiegende ordnungs- und wettbewerbspolitische Einwände gegenüber. Wie können derartige Konflikte zukünftig gelöst werden?

<< Michael Hüther: Man hätte diese Verstaatlichung umgehen können, in dem die Finanzaufsicht den Vorstand gemäß §§ 36, 45 und 46 Kreditwesengesetz die Verantwortung entzieht und durch einen Sonderbeauftragten ersetzt. Ich habe also nicht den Eindruck, dass alle Möglichkeiten sorgfältig ausgeschöpft wurden.

Eines hat aus meiner Sicht die Krise verdeutlicht: In derartigen Krisensituation sollten vorab die Notfallregeln definiert werden. Auch bei der Planung eines Hauses werden Notfallszenarien – etwa durch Fluchtwege und Brandmeldeanlagen – berücksichtigt. So wäre man weggekommen von einem "Sonder-Lex HRE". Dazu liegen jetzt ja verschiedene Gesetzentwürfe aus der Bundesregierung vor.

>> Im Zuge der diversen Rettungs- und Konjunkturpakete hat die Staatsverschuldung weltweit nie da gewesene Höhen erreicht. Stellt sich nicht langsam die Frage, wie viele Schulden eine Volkswirtschaft überhaupt vertragen kann? Glauben Sie, dass die Schulden der öffentlichen Hand jemals wieder auf ein erträgliches Maß zurückgefahren werden können oder steuert das System unweigerlich auf den Kollaps zu?

<< Michael Hüther: Ich bin hier nicht panisch. Im Kern geht es um eine Zeitperspektive, in der man zwei Dinge erreicht haben muss. Erstens muss der der Haushalt ausgeglichen sein und zweitens muss die Schuldenquote in die Richtung von 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts bewegt werden. Beides ist in einer Dekade realisierbar. Die Erfahrungen aus der Vergangenheit zeigen, dass dieses Ziel realistisch ist: Die Bundesrepublik in den 80er Jahren, Kanada in den 90er Jahren. Um dies Ziel zu erreichen, muss man jedoch einen langen Atem haben und vor allem eine Ausgabendisziplin vorleben. Drittens muss man auf eine Wachstumsstrategie setzen. Auf der Einnahmenseite bekomme ich den Staatshaushalt nicht durch Steuererhöhungen saniert und konsolidiert, sondern nur durch Steuermehreinnahmen basierend auf Wachstum. Und das ist definitiv ein langer Weg. Das Ziel wird nicht 2010 erreicht werden, sondern realistisch im Jahr 2020. Dies bedeutet, dass die Defizitquote jedes Jahr um 0,6 Prozentpunkte reduziert werden muss. In der 80er Jahren haben wir in einem etwa gleichen Zeitraum die Defizitquote jährlich um 0,5 Prozentpunkte reduziert. Man sieht, dass das Ziel nicht aus der Welt ist.

>> Lassen Sie uns zum Abschluss noch einen Blick in die Kristallkugel werfen: Wie wird sich Ihrer Einschätzung nach die Wirtschaft in Deutschland und weltweit in den nächsten Jahren entwickeln und wie sieht die Welt in 15 Jahren aus?

<< Michael Hüther: Wir werden überrascht sein, wie sich die Strukturen, die wir vor der Krise hatten, in den nächsten Jahren in der Realwirtschaft wieder zeigen werden. Es ist nichts an den langfristigen Trends falsch. Hier seien beispielhaft die Entwicklungen in den Schwellenmärkten genannt oder die Fortsetzung der globalen Arbeitsteilung. Vor dem Hintergrund der Chancen im Bereich der Arbeitsteilung – man denke hier nur an Afrika – sehe ich weitere Potenziale. Somit wird die Globalisierung in die nächste Phase kommen.

>> Herr Prof. Hüther, vielen Dank für das Gespräch.

 

Prof. Dr. Michael Hüther, Direktor des Instituts der deutschen WirtschaftMichael Hüther studierte Wirtschaftswissenschaften sowie Mittlere und Neuere Geschichte an der Universität Gießen und der University of East Anglia (Norwich/UK). Im Jahr 1990 folgte die Promotion im Fach Volkswirtschaftslehre mit dem Thema "Integrierte Steuer-Transfer-Systeme für die Bundesrepublik Deutschland. Normative Konzeption und empirische Analyse." Von 1990 bis 1995 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter im Stab und 1995 bis 1999 Generalsekretär sowie Leiter des wissenschaftlichen Stabes des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung.

Von 1999 bis 2004 war Hüther Chefvolkswirt und von 2001 bis 2004 Bereichsleiter Volkswirtschaft und Kommunikation der DekaBank Deutsche Girozentrale in Frankfurt. Seit dem Jahr 1995 ist er Dozent und seit 2001 Honorarprofessor an der European Business School in Oestrich-Winkel. Seite Juli 2004 ist er Direktor und Mitglied des Präsidiums des Instituts der deutschen Wirtschaft in Köln.


[Das Interview führte Frank Romeike, verantwortlicher Chefredakteur der Zeitschrift RISIKO MANAGER und geschäftsführender Gesellschafter RiskNET GmbH]


[Bildquelle oben: iStockPhoto, alle anderen Fotos: Institut der deutschen Wirtschaft]

 

Kommentare zu diesem Beitrag

Helmut /22.09.2009 15:12
Klasse Interview mit Tiefgang. Leider hat Michael Hüther in allen Punkten Recht. Insbesondere fehlt allen Politikern die Einsicht oder der Mut, klare Positionen für die Zeit nach der Krise zu kommunizieren. Ausser Worthülsen passiert da leider zur Zeit nicht viel. Und wieder einmal hat die Politik es perfekt geschafft, vom eigenen Versagen (sh. Finanzmarktaufsicht etc.) abzulenken. Die Politik taucht in der Liste der "Verursacher" überhaupt nicht mehr auf ... das ist erstaunlich, da sie schliesslich erst die Rahmenbedingungen geschaffen haben ;-(
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